Bibelarbeit beim "Greifswalder Kirchentag 2000" (Hebr.13, 1- 21)
Robert Leicht
Der Text, der unserer Bibelarbeit zugrunde liegt, steht im letzten Kapitel des Briefes an die Hebräer, und zwar im Kapitel 13, die Verse 1 - 21. Wir hören den Text nun im Zusammenhang:
LUT Hebrews 13:1 Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.
2 Gastfrei zu sein, vergeßt nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Mißhandelten, weil ihr auch noch im Leibe lebt.
4 Die Ehe soll in Ehren gehalten werden bei allen und das Ehebett unbefleckt; denn die Unzüchtigen und die Ehebrecher wird Gott richten. 5 Seid nicht geldgierig, und laßt euch genügen an dem, was da ist.
Denn der Herr hat gesagt: "Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen." 6 So können auch wir getrost sagen: "Der Herr ist mein Helfer, ich will mich nicht fürchten; was kann mir ein Mensch tun?"
7 Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. 8 Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
9 Laßt euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die damit umgehen. 10 Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen. 11 Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. 12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
13 So laßt uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
15 So laßt uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. 16 Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergeßt nicht; denn solche Opfer gefallen Gott. 17 Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen - und dafür müssen sie Rechenschaft geben -, damit sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das wäre nicht gut für euch. 18 Betet für uns. Unser Trost ist, daß wir ein gutes Gewissen haben, und wir wollen in allen Dingen ein ordentliches Leben führen. 19 Um so mehr aber ermahne ich euch, dies zu tun, damit ich euch möglichst bald wiedergegeben werde.
20 Der Gott des Friedens aber, der den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus, von den Toten heraufgeführt hat durch das Blut des ewigen Bundes, 21 der mache euch tüchtig in allem Guten, zu tun seinen Willen, und schaffe in uns, was ihm gefällt, durch Jesus Christus, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
*
Dieser Satz aus unserem Text wird die Auswahl für diesen Kirchentag beeinflusst haben:
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Es hat nun seine geschichtliche Ironie, diesen Satz ausgerechnet in Greifswald zu zitieren und zu einem Motto eines Kirchentages zu machen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges haben wenige Männer hier in Greifswald dafür gesorgt, dass die Stadt kampflos den heranrückenden sowjetischen Truppen übergeben wurde - ohne das von den Nazis an allen Orten geforderte "letzte Gefecht", das doch nur weiteres Leid, eine weitere Verlängerung des Krieges (und eine letzte Verlängerung der nationalsozialistischen Mordherrschaft) mit sich hätte bringen können. Also damals riskierte man damals Kopf und Kragen, auf dass die Greifswalder gerade eine bleibende Stadt hatten (und behielten) - in all den Wirren, in denen sonst kein Stein auf dem anderen blieb - materiell, menschlich und moralisch.
Keine bleibende Stadt...
...sondern die zukünftige suchen wir.
Das spricht doch ganz gegen unsere Erfahrungen und Einstellungen. Wer sucht denn schon die zukünftige Stadt, von der keiner so recht weiß, wie sie aussieht? Da hat man doch lieber, was man hat - und kennt. Lieber den Spatzen in der Hand, als die Taube auf dem Dach...
Also sehen wir: Die Gegenwart ganz abstreifen - und sich vollends auf die unbekannt Zukunft werfen, das ist wahrlich nicht jedermanns Sache.
Aber auch unter Menschen, die mit beiden Füssen auf dem Boden der Gegenwart stehen, ist die Sache mit Bleiben und Gehen, Haben und Wünschen, zwischen Angst und Hoffnung - ja: zwischen Nesthockerei und Nestflüchterei so einfach dann doch nicht.
Denken wir nur etwas über zehn Jahre zurück: "Wir wollen raus", sagten sich die einen (und handelten danach) - "Wir bleiben hier!" riefen die anderen. Das Merkwürdige an diesem Gegensatz: Die einen wie die anderen wollten, dass sich ihr Leben gründlich ändert. Und von denen, die ihnen die gegenwärtigen Bedürfnisse mit staatlicher Macht verweigerten, wollten sie sich die Vertröstungen auf die "zukünftige Stadt" des vollendeten Sozialismus nicht mehr bieten lassen. Übrigens gehört auch dies zu den menschlichen und politischen Erfahrungen: Dass nämlich die versprochene zukünftige Stadt regelmäßig nicht besser aussieht, als die Leute, die sie versprechen - sondern eher wie das bisherige politische Werk dieser Leute: Der vollendete Sozialismus ist eben in Wahrheit nicht besser als der real existierende. Und zusammengebrochen ist der "real existierende Sozialismus", weil er real nicht mehr zu existieren vermochte.
Aber nun hörte das "Wir wollen raus!" merkwürdigerweise gar nicht auf, als die Mauer gefallen war. Sie alle wissen sich besser, wie viele Greifswalder sich immer noch, immer wieder auf den Weg in den Westen machen, bis heute - und wie viele es insgesamt seit 1989 waren.
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir -
vielleicht gehörte es heute zu unserer christlichen Verantwortung, an Ort und Stelle gerade umgekehrt zu reden?
"Ihr habt hier eine Stadt, die nur bleiben kann, wenn auch ihr bleibt!" - Weil nämlich sonst alles zusammenbricht, und gar keine rechte Zukunft mehr zu denken bleibt…
(In anderen Bibelarbeiten wird heute der Prophet Jeremia - im 29.Kapitel, Vers 7 - zitiert, der den ins babylonische Exil verschleppten Juden zuruft: "Suchet der Stadt Bestes". Der Prophet sagt also nicht: "In dieser verdammten Stadt habt Ihr nichts zu suchen und zu finden. Bevor Ihr nicht die zukünftige Stadt gefunden habt, werdet Ihr nichts finden." Sondern er schreibt ihnen in einem Brief nach Babylon, was er Ihnen vielleicht vor 1989 hier in Greifswald gesagt haben würde: "Der Sozialismus - das ist wahrlich nicht die Kirche; und die Kirche nicht der Sozialismus, auch nicht der wahre. Aber als Kirche im Sozialismus sollt Ihr sehr wohl der "Stadt Bestes", das Beste auch für diesen Staat suchen. Es gibt zwar Gottlose in der Welt - aber es gibt keine gottlose Welt." Vielleicht hätte er also gesagt: Bleibt hier, mit beiden Füssen in der Wirklichkeit, anstatt von einer zukünftigen Stadt zu träumen - und vor lauter Träumen nicht zum Leben zu kommen...)
Und wie ist es mit denen, die geblieben sind? Wie viele suchen heute der Stadt Bestes - und wie viele träumen von der "vergangenen Stadt", die angeblich das Beste war, oder doch wenigstens viel besser? Ostalgie, West-Illusionen, enttäuschte Hoffnungen auf die Zukunft und verklärte Enttäuschungen der Vergangenheit - was mag Ihnen, was mag uns allen durch den Kopf, durch Herz und Sinnen taumeln, wenn wir diesen großen Satz hören? :
14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
*
Wir müssen nun etwas näher anschauen, welche Stellung Bedeutung dieser Satz in dem Schlusskapitel des Hebräerbriefes hat.
Der Satz fängt an mit dem Worte "denn". Er will also etwas zuvor Gesagtes näher begründen: Die Sache verhält sich so und so, denn...
Was also wurde zuvor gesagt?
Vers 13 und 14 lauten im Zusammenhang wie folgt:
13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Die Rede ist von Jesus von Nazareth. Der nämlich ist nicht mitten in der Stadt gestorben, sondern draußen, vor ihren Toren - verächtlich gemacht und geschändet. Die "bleibende Stadt", die wir nicht haben, ist dabei nicht als ein rein geographischer Ort gemeint, als eine städtebauliche Größenordnung. Und die Alternative ist nicht: diese Stadt oder jene, ganz andere Stadt. Sondern mit der "bleibenden Stadt" (die wir , wie gesagt, weder haben noch suchen sollen) sind, viel weiter gefasst, gemeint: Die herrschenden Verhältnisse - die politischen, die sozialen, die religiösen.
Um es ganz schlicht zu sagen: Wer bei Christus sein will, der muss bei dem am Kreuz erniedrigten, am Kreuz erhöhten Jesus von Nazareth sein. Und wer mit diesem gekreuzigten Jesus von Nazareth auferstehen will, muss aus den "herrschenden Verhältnisse" heraustreten, muss sich aus ihnen herausrufen lassen:
13 So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. 14 Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Der Hebräerbrief wählt für diese Schlussfolgerung eine für uns vielleicht nicht einfach verständliche Ableitung:
10 Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen. 11 Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. 12 Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
Die Schreiber und die Leser des Hebräerbriefes finden sich also in einer Auseinandersetzung zwischen der griechisch-jüdischen Synagoge einerseits und der judenchristlichen Gemeinde andererseits. Die Spannungen sind offenbar so deutlich geworden, dass man sich nun entscheiden muss, wo man hingehören will:
10 Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen.
Also: Entweder Altar oder Stiftshütte - aber nicht beides zugleich.
Das ist nun eine zunächst inner-religiöse und mit einem Mal zwischen-religiöse Kontroverse zwischen Juden und Judenchristen. Wir können hier nun nicht weiterverfolgen, wie es dazu gekommen war, ob diese Zuspitzung hätte vermieden werden können. Für den Hebräerbrief ist jedenfalls eine Vermischung der Positionen inzwischen ausgeschlossen. Ja, er wählt einen theologischen Vergleich, der den jungen Christen so einleuchtet soll, wie er die traditionellen Juden geradezu provozieren muss:
Im jüdischen Kultus tragen die Hohenpriester das Blut der Opfertiere zum Sühneopfer in das Allerheiligste - das Fleisch dieser Tiere wird aber nicht verzehrt, sondern verbrannt - und zwar vor der Stadt. So wie Jesus vor der Stadt hingerichtet wurde, auf dass er durch sein Blut ein letztes Sühneopfer für die Sünden der Menschen bringe, ein für alle Mal. Ein für alle Mal - das heißt zugleich: So, dass weitere Tier-Opfer durch die Hohenpriester nicht nur entbehrlich sind, sondern geradezu eine sakrilegische Missachtung des Opfertodes Jesu Christi. Da gibt es also nur eine klare Unterscheidung und Entscheidung: Altar oder Stiftshütte, Kirche oder Sozialismus (oder Kapitalismus), Konfirmation oder Jugendweihe...
Und diese Entscheidung fällt, indem man bereit ist, sich aus der Stadt herauszubegeben, aus den "herrschenden Verhältnissen" herauszutreten. Ekklesia, das griechische Wort für Kirche bedeutet übrigens auf Deutsch: die Herausgerufenen.
Religiöse Kontroversen, die uns einen solchen scharfen Schnitt abnötigen würden, können wir uns heute kaum noch vorstellen - schon gar nicht zwischen Juden und Christen, nach all den grauenhaften Verbrechen zwischen 1933 und 1945. Heute sprechen wir von der Ökumene der verschiedenen christlichen Gemeinschaften und vom interreligiösen Dialog. Das oberste Prinzip ist: Toleranz! Das ist auch gut so. Wir sind ja schon froh, wenn einer an überhaupt etwas glaubt, wenn einer überhaupt von Gott redet. Ich bin freilich überhaupt nicht sicher, dass man auf so simple Weise Übereinstimmungen herstellen kann, dass man religiöse Toleranz auf so billige Weise erreichen kann. Nur in der Nacht sind alle Katzen grau - und dafür sind sie dann auch alle grau, und sonst gar nichts. Aber stellen wir dieses interreligiöse Thema einmal beiseite, weil anders für unser praktischer ist; und gefährlicher.
(Obschon: Die Klarheit der Entscheidung, die im Hebräer-Brief gefordert wird, spricht gegen eine "Ökumene" des Verwischens der theologischen Grundsatzfragen. Zum Beispiel: Ich kann mir im Grunde nicht vorstellen, dass man die katholische und die reformatorisch Herrenmahlstheologie auf einen theologischen, auf einen theo-logischen Nenner bringen könnte. Dabei müsste uns gerade das ökumenische Gewissen darauf verpflichten, die unterschiedlichen Lehren in ihrer eigenen Würde ernst zu nehmen; wer die Theologie des Partners so wenig ernst nimmt, dass er sagt: "Ach, was sollen die törichten Unterschiede!", der handelt eben gerade nicht ökumenisch. Deshalb kann ich mir für die nähere Zukunft sehr wohl eine gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft und Einladung zum Abendmahl (hier und dort!) vorstellen; sie ist sogar ernstlich - und also dringend - geboten. Indessen: Ein gemeinsam zelebriertes, also "einheitliches" Abendmahl kann derzeit, ohne gemeinsam buchstabierte Theologie, nur ins Auge fassen, wer die Theologie des anderen (oder - und das ist im Protestantismus wohl häufiger der Fall - die eigene) nicht (mehr) ernst nimmt.)
(Übrigens, wenn wir schon dabei sind, theologisch "unkorrekt" beiseite zu sprechen: Altar oder Stiftshütte - diese Alternative sollte uns endlich auch klarmachen, dass mit dem Opfertod Christi das Opfern ein für alle Mal ein Ende hat und wirklich jede Opferpraxis "aufgehoben" ist, schon gar das Opfern von Menschen für irgendein Ziel, und sei es für das angeblich heilige Land, im Kosovo oder sonst wo. Deshalb richte ich an jene VertreterInnen der feministischen Theologie, die den Opfertod Christi für ein maskulin inspiriertes Skandalon halten, ob sie recht im Auge behalten haben, dass es dabei darum geht, das Skandalon des Opferns überhaupt zu einem definitiven Ende zu bringen.)
Jedenfalls - und zurück an Ort und Stelle: Es ist in der Tat immer wieder notwendig, falscher Vermischung von menschlicher Ideologie und christlichem Glauben, also von Götzendienst und Gottesdienst rechtzeitig zu entdecken und ihr Widerstand zu leisten. Einige Beispiele:
Man konnte nicht Christus dienen - und gleichzeitig dem Führer Adolf Hitler. Es bleibt erschütternd zu sehen, wie viele Christen auch höherer Ränge das Gegenteil glaubten, jedenfalls im Anfang. Damals ging es nicht um die religiöse Scheidung zwischen Juden und Christen (obwohl der Antijudaismus und der Antisemitismus auch bei Kirchenmännern den Widerstand gegen Hitler gelähmt hatte) - sondern um die Absage an jeglichen Rassismus. Und die Christen hätten damals nicht in die angeblich bleibenden, 1000 Jahre bleibenden Städte gehört, sondern dorthin, wo man die Juden hin vertrieben hatte: vor die Stadtmauern der herrschenden Mächte und Verhältnisse. Und zwar um Gottes und um Christi willen, der - frommer Jude, der er war - von den Mächtigen ebenso ausgegrenzt worden war.
Kirche im Sozialismus - diese Formel hatte ihre Berechtigung, wenn sie - dem Propheten Jeremia (wir hörten davon!) folgend - bedeuten sollte: "Kirche in der DDR", also dort, wo es gelten sollte: Suchet der Stadt Bestes... Aber davon war doch wohl strikt zu unterscheiden, die Vermischung von christlichem Evangelium und von sozialistischer Staatsideologie, und ganz gewiss (und erst recht) ein doppeltes Dienstverhältnis bei Kirche und Stasi, was ja da und dort vorgekommen sein soll - wenn auch gottseidank seltener, als es mancher so darstellt.
Bei uns im Westen gab es, um einmal ein Beispiel aus meiner Hälfte Deutschlands zu wählen, in den siebziger Jahren eine Debatte unter dem Titel: "Müssen Christen Sozialisten sein?" Die Frage hatte mich immer etwas verwundert; ich hatte sie für mich umgedreht: "Müssen Sozialisten nicht eigentlich Christen sein?" Aber so wollte diese Frage niemand gestellt haben (Wozu muss man denn auch Christ sein, wenn man schon den Sozialismus hat?), und schon an dieser Abwehr sieht man: Das Gefälle war eindeutig - und eindeutig falsch.
Nun mag man sagen: Auch dieses Problem hat sich 1989/1990 erledigt. Aber dadurch, dass sich keine zwei Welt-Herrschaftssysteme mehr gegenüberstehen, hat sich ja das Problem der herrschenden Verhältnisse noch lange nicht erledigt. Auch als nüchtern-leidenschaftlicher Anhänger der freiheitlichen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft wird man ja noch einen Unterschied zwischen den herrschenden Verhältnissen und dem Platz vor den Mauern erkennen können, zwischen der angeblich bleibenden und der zukünftigen Stadt. Geld regiert die Welt, sagt man. Aber die Herrschaft des Geldes ist auch nur eine Ideologie, das Geld, wenn man es anbetet, auch nur Götze.
Die Mahnung des Hebräerbriefes gilt also auch uns heute:
Seht zu, wo ihr hingehört - und entscheidet Euch klar und eindeutig.
Übrigens gilt es nun an dieser Stelle, einem Missverständnis zu wehren: Die Unterscheidung zwischen drinnen und draußen ist nicht nur eine lokale Unterscheidung. Es reicht nicht aus, sich mit Zelt und Schlafsack vor die Stadtmauern zu legen und ein angeblich alternatives Leben zu führen. Es reicht auch nicht aus zu sagen: Mit Staat und Politik will ich nichts zu tun haben, am besten stecke ich meinen Kopf in den Sand und murmle: Ohne mich... Die Unterscheidung zwischen drinnen und draußen ist eine geistige (oder besser: geistliche) Unterscheidung: Will ich den herrschenden Verhältnissen Macht geben - und zwar nicht nur über mich, sondern auch über die andern? Und wenn die Antwort zu recht lautet: "Nein!" - wie könnte ich dann die herrschenden Verhältnisse ungestört weiterherrschen lassen - über die anderen, wo es doch darum geht, die Verhältnisse zu ändern? Wer sich nur heraushält, der betreibt allenfalls religiöse Selbstbefriedigung. Aber wer sich engagiert, der (oder die) muss eben sehr präzise und sehr intelligent aufpassen, ob man die herrschenden Verhältnisse an der Stadt Bestes anpasst - oder sich selber den herrschenden Verhältnissen.
*
Aber wie soll man sich für diesen Jesus von Nazareth entscheiden, wenn nur allzu wenige wissen, wer das ist?
Auch der Hebräerbrief ist an eine Gemeinde gerichtet, die das nicht mehr so recht weiß. Es braucht also gar nicht - wie im Osten Deutschlands - 57 Jahre der christenfeindlichen Diktatur, erst der einen, dann der anderen Spielart; es braucht als gar nicht erst der scheinbar harmlosen Säkularisierung in den westlichen Industriegesellschaften, damit die einstmaligen Christenmenschen (oder doch wenigstens: ungefähr christlich erzogenen Menschen) nicht mehr so recht wissen, woran sie sich orientieren sollen - und wo der wahre Ort des Christen ist, draußen - vor den herrschenden Verhältnissen. Das passiert schon der frühen Christenheit...
Der Hebräerbrief hat am Ende einen Rat:
7 Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. 8 Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
9 Laßt euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die damit umgehen.
Lehrer, die uns das Wort Gottes gesagt haben - an denen fehlt es ja nicht. Ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach: Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Janus Korzac - um nur an einige wenige Blutzeugen des 20. Jahrhunderts zu erinnern, die auch draußen vor der Stadt der Herrschenden umgebracht wurden. Von den anerkannten und anerkennenswerten Lehrern des Glaubens brauchen wir nicht zu schweigen - es gibt sie, trotz der Dünnbrettbohrer und Falschmünzer, auch der Unbeholfenen. Der Vers 8 nennt auch das einzige Kriterium, an dem jeder, auch der einfachste Christ, genau erkennen kann, mit wessen Geistes Kind er es zu tun hat:
8 Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
Wer zweifelt, ob es etwas geht - oder nicht geht; wer schwankt, wie er sich entscheiden soll zwischen diesem und jenem, zwischen Widerstehen, Helfen, Mitwirken, Abraten: Da ist nun ein klarer Maßstab zur Hand! Das sollte mir jedenfalls einmal jemand vormachen - Unrecht tun und behaupten, das lasse sich mit den Gleichnissen und Taten des Jesu von Nazareth vereinbaren.
Wir brauchen keine religiösen Wundermänner, wir müssen auch selber keine großen Künstler der religiösen Erfindungskraft werden, schon gar keine religiösen Leistungs- und Verdienst-Eliten. Wir brauchen uns nur zu erinnern - sagt der Hebräerbrief:
7 Gedenkt an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schaut an und folgt ihrem Glauben nach. 8 Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
In der theologischen Literatur wird dieser Hebräerbrief gerne als Mahnschreiben eingeordnet. Ich möchte ihn lieber als einen Erinnerungsbrief bezeichnen. Ich denke, es stünde besser um den Zustand unserer Kirche (und um unsere Seelen), wenn wir nicht immer so originell und erfinderisch zu sein versuchten - sondern uns stattdessen einfach präziser und bescheidener erinnerten und erinnern ließen. Erinnerung schützt vor originellen, verführerischen und verfluchten Gedanken.
Erinnert Euch doch ein wenig, denkt nach, denkt nach, was vor Euch und für Euch gedacht wurde:
2 Gastfrei zu sein, vergeßt nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt. 3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Mißhandelten, weil ihr auch noch im Leibe lebt.
16 Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergeßt nicht; denn solche Opfer gefallen Gott. 17 Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen..
2 Gastfrei zu sein, vergeßt nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt: Wie gastfrei sind wir denn, im Westen wie im Osten Deutschlands? Sehen wir in anderen, fremden Menschen die Boten Gottes, auch dort, wo wir es zunächst nicht sehen können? Oder wollen wir zusehen, wie andere Deutsche in Ausländern nur Teufel sehen - und darüber in Wahrheit selber zu Teufeln werden?
3 Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene, und an die Mißhandelten, weil ihr auch noch im Leibe lebt: Es mag ja sein, trifft sogar gewiss zu, dass wir nicht alle Asylsuchenden der Welt bei uns aufnehmen können. Aber deshalb müssen wir doch der Verfolgten gedenken, als seien wir selber verfolgt. Und wenn wir ihnen nicht allen Zuflucht gewähren können ( und wollen) - was tun wir stattdessen und im übrigen, auf dass wir nicht mit ihrem Schicksal nicht gleich auch noch unsere Unfähigkeit und Hilflosigkeit verdrängen, ihnen beizustehen?
16 Gutes zu tun und mit andern zu teilen, vergeßt nicht; denn solche Opfer gefallen Gott: Gott will nicht, dass wir ihm ein kleines rituelles Opfer bringen, ihm etwas zu gute tun - damit er möglichst uns etwas zugute hält. Wirklicher Gottesdienst findet statt, wo wir sein Geschenk an andere weitergeben und mit ihnen teilen. Was an unserem Tun nicht anderen Menschen dient, gefällt auch Gott nicht; es ist dann wirklich für die Katz.
Das alles müssen wir nicht erst erfinden. Dazu braucht es keines übermenschlichen, heiligen Verstandes. Dazu bedarf es nur der schlichtesten, einfachen Erinnerung: Vergesst nicht, vergesst nicht, denkt an, gedenkt an: Erinnert Euch...
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Ist also wirklich alles so einfach? Ja - und Nein. Der Hebräerbrief wäre ja nicht entstanden, wenn alles so einfach wäre. Deshalb hören wir jetzt, als Einschub, einen anderen Abschnitt, aus dem Kapitel 5 die Verse 11 bis 14, aus dem Kapitel 6 die Verse 1 bis 3:
LUT Hebrews 5:11 Darüber hätten wir noch viel zu sagen; aber es ist schwer, weil ihr so harthörig geworden seid. 12 Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, daß man euch die Anfangsgründe der göttlichen Worte lehre, und daß man euch Milch gebe und nicht feste Speise. 13 Denn wem man noch Milch geben muß, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein kleines Kind. 14 Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können.
LUT Hebrews 6:1 Darum wollen wir jetzt lassen, was am Anfang über Christus zu lehren ist, und uns zum Vollkommenen wenden; wir wollen nicht abermals den Grund legen mit der Umkehr von den toten Werken, mit dem Glauben an Gott, 2 mit der Lehre vom Taufen, vom Händeauflegen, von der Auferstehung der Toten und vom ewigen Gericht. 3 Das wollen wir tun, wenn Gott es zuläßt.
Die Gemeinde, an die sich dieser Brief richtet, muss sich also in einem beklagenswerten Zustand befinden - fast wie bei uns, im Osten so, im Westen des Landes so:
13 Denn wem man noch Milch geben muß, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein kleines Kind. 14 Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können.
Es ist ja wohl an dem, dass wir an feste, theologische Vollwertkost weder gewöhnt sind, noch sie recht zu verdauen vermögen. Aber ich finde es eher tröstlich, dass es nicht nur uns so geht, sondern auch den ersten Empfängern dieses Briefes:
...es ist schwer, weil ihr so harthörig geworden seid. 12 Und ihr, die ihr längst Lehrer sein solltet, habt es wieder nötig, daß man euch die Anfangsgründe der göttlichen Worte lehre...
Das klingt doch alles sehr aktuell, gewissermaßen vertraut - vertraut eben zugleich als Erinnerung:
14 Feste Speise aber ist für die Vollkommenen, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können.
Da haben wir sie wieder: Die Notwendigkeit, kritisch und geübt zu unterscheiden zwischen Gut und Böse, drinnen und draußen, Herrschern und Beherrschten, Tätern und Opfern...
Die Gemeinde, an die der Hebräerbrief gerichtet wurde, wir kennen sie nicht genau. Aber es ist offenbar eine Gemeinde, die um ihres Glaubens willen ein Stück Verfolgung erlitten hat. An solche Situationen erinnert man sich im Osten des deutschen Landes näher und besser als im Westen. Und im Westen aufgewachsenen Menschen wie ich und meine Altersgenossen haben derlei überhaupt noch nicht erfahren. Aber die Erfahrung der Verfolgung, die ja doch auch mit der Erfahrung einer gewissen Glaubensfestigkeit zu tun hat, vergisst sich offenbar recht schnell - wie der Schreiber dieses Briefes weiß. Der ruft - wieder einmal - zu Erinnerung:
LUT Hebrews 12:3 Gedenkt an den, - also an Jesus von Nazareth - der soviel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken laßt. 4 Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden im Kampf gegen die Sünde 5 und habt bereits den Trost vergessen, der zu euch redet wie zu seinen Kindern...
Ihr seid, sagt der Hebräerbrief, geprüft worden, habt widerstehen müssen - nicht so hart wie Jesus von Nazareth, auch nicht so hart, wie die Menschen unter der ersten deutschen Diktatur von 1933 bis 1945. Und schon habt ihr vergessen - den Trost und den Glauben. Und die Erinnerung...
Aber das ist nicht das Ende der ganzen Geschichte. Bevor der Hebräerbrief zu seinem Ende und Ziel findet (und also zu dem Schluss, mit dem unsere Bibelarbeit begonnen hat), reißt er den Horizont der Hoffnung auf:
LUT Hebrews 12:25 Seht zu, daß ihr den nicht abweist, der da redet. Denn wenn jene nicht entronnen sind, die den abwiesen, der auf Erden redete, wieviel weniger werden wir entrinnen, wenn wir den abweisen, der vom Himmel redet. 26 Seine Stimme hat zu jener Zeit die Erde erschüttert, jetzt aber verheißt er und spricht: "Noch einmal will ich erschüttern nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel." 27 Dieses "Noch einmal" aber zeigt an, daß das, was erschüttert werden kann, weil es geschaffen ist, verwandelt werden soll, damit allein das bleibe, was nicht erschüttert werden kann. 28 Darum, weil wir ein unerschütterliches Reich empfangen, laßt uns dankbar sein und so Gott dienen mit Scheu und Furcht, wie es ihm gefällt; 29 denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.
Reiche haben wir kommen und gehen gesehen, auch das Dritte Reich und das Reich, das ihm folgte. Dagegen setzt unser Text das "unerschütterliche Reich".
Die vermeintlich "bleibende Stadt" - das eben sind die Reiche, die kommen und gehen. An die sollen wir uns nicht halten. Die zukünftige Stadt aber, die ist das unerschütterliche Reich.
Die zukünftige, die suchen wir - nicht irgendwo, in der gewagtesten, in der phantastischen (und gewalttätigen) Spekulation, sondern in der einfachsten, bescheidenen Erinnerung.
Und wessen bedarf es dazu: Dass wir herausgehen - aus der bleibenden Stadt, vor die Mauern der herrschenden Verhältnisse. Und also: aus uns selbst heraus.
Amen