Predigt zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Bischöfin Petra Bosse-Huber, Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)

Gehalten im Gedenkgottesdienst zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am Sonntag, 26. Januar 2020, im Berliner Dom

Friede sei mit Euch!
Liebe Gemeinde, 

hören wir auf den Predigttext für diesen Sonntag: 

Johannes 2, 1 – 7: „Meine Lieben, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot, sondern das alte Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Und doch schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahr ist in ihm und in euch; denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint schon. Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall. Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet.“

Zukunft braucht Erinnerung – das könnte die programmatische Überschrift für die Aufarbeitung der dunkelsten Kapitel unserer deutschen Geschichte sein, wie sie durch Forschung und Bildungsarbeit an vielen Orten in Deutschland und überall auf der Welt stattfindet. Zukunft braucht Erinnerung, diese Lektion hat uns die Zeit des Nationalsozialismus auf das Schmerzlichste gelehrt. Auch wenn diese Lektion heute mit bestürzender Geschwindigkeit in Vergessenheit zu geraten droht.

Zukunft braucht Erinnerung – das könnte aber auch über den biblischen Sätzen aus dem Johannesbrief stehen. Heute, am Vortag des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, stellen wir uns diesen Erinnerungen. Wir fragen nicht nur danach, was es braucht, um heute friedlich miteinander leben zu können, sondern auch danach, was nötig ist, um eine gute, gemeinsame Zukunft zu gestalten. 

Dem Verfasser des Johannesbriefes, der wohl aus dem Umkreis des Evangelisten Johannes stammt und sich immer wieder auf diesen Evangelisten bezieht, ist es wichtig, an das zu erinnern, was „ihr von Anfang an gehabt habt“ (V7). Er nennt es das „alte Gebot“: Gottes Wort, mit dem das Licht in die Welt gekommen ist. Dieses Licht, das den Namen Jesus Christus trägt. Der Johannesbrief erinnert mit seinem starken Gegensatz von Licht und Finsternis an die Gefährdungen und Bedrohungen, denen Menschen durch Menschen ausgesetzt sind. Er erinnert an diejenigen, die ins Dunkel gestoßen werden, die Gewalt und Tod ausgesetzt sind, weil andere mit Blindheit geschlagen und völlig frei von Mitleid sind. Ebenso erinnert er daran – und macht damit das alte Gebot noch einmal neu und aktuell! – dass die Finsternis ja bereits weicht. Das Licht der Welt ist ja schon längst mitten unter uns! Das Licht der Welt scheint bereits hinein in unsere Dunkelheiten.

Wenn wir heute, am 3. Sonntag nach Epiphanias, Gottesdienst feiern, dann ist auch das schon ein Stück Erinnerungsarbeit im Sinne der biblischen Botschaft: Mit dem Fest der Erscheinung Christi, nichts anderes heißt das Wort „Epiphanias“ ja, wird uns kundgetan, dass Jesu Ankommen in dieser Welt Erkenntnis und Wahrheit, Licht und Helligkeit, Menschenfreundlichkeit und damit ganz neue Möglichkeiten zum Leben und Miteinanderleben eröffnet. Das zu wissen ist das Eine. 

Etwas viel Wichtigeres ist es aber, diese Botschaft, diese Gottesgabe in Christus, für mein eigenes Leben anzunehmen und diese Einladung zum Leben auch anderen weiterzureichen. Mehr als 2000 Jahre nach Jesu Geburt bedarf es wieder und wieder der Wiederholung dieser guten Nachricht, und vor allem der Erinnerung daran, sie wirklich in unser persönliches Leben aufzunehmen und in unser alltägliches Miteinanderleben zu integrieren.

Deshalb ist es gut, dass wir hier zusammen sind: indem wir Gottesdienst feiern, wiederholen wir nicht nur in gewohnter Tradition das bewährte Alte, sondern wir holen es uns gleichsam zurück, lassen es neu bedeutsam werden für unseren Alltag am Anfang der neuen 20er Jahre des 21. Jahrhunderts. Wir versuchen, neu zu verstehen, was uns heute und jetzt als neues Gebot, als Gebot der Stunde gegeben, aber auch aufgegeben ist. Was das Gebot der Stunde ist angesichts einer Vergangenheit, deren dunkle Spuren und schmerzende Narben bis weit in unsere heutigen Tage spürbar sind und angesichts einer Gegenwart, in der so viel Dunkelheit um sich greift und manchmal auch nach uns selbst greift.

Wir tun das mit Mut und Überzeugung, weil Jesus Christus, Gottes Licht, sich diese Welt zu eigen gemacht hat - und sich damit auch uns als seine Gemeinde angeeignet hat. Die christliche Gemeinde ist frei, sie gehört nur einem: Jesus Christus. Weil sein Gebot der Liebe wahr ist, deshalb vertrauen wir darauf. „In ihm und in uns“ (V8), können wir erinnern, genau hinsehen, aufdecken, auch die eigenen Dunkelheiten erkennen, Buße tun, eine andere Perspektive einnehmen, umdenken und umkehren. 

Zukunft braucht Erinnerung – so kann und muss die Geschichte der Verleugnung und des Verrats an unseren Geschwistern zur Sprache kommen. Damit Vergebung und Versöhnung eine Chance bekommen, selbst dann, wenn keine Heilung mehr möglich ist. Zukunft braucht Erinnerung, damit unser gemeinsames Leben miteinander gelingen kann.

Wir erinnern in diesem Gottesdienst hier im Dom, mit dem Konzert heute Abend und mit dem morgigen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Wir erinnern heute insbesondere an das, was den Angehörigen der Sinti und Roma angetan worden ist. Für sie war unter nationalsozialistischer Herrschaft dasselbe Schicksal vorgesehen wie für die jüdische Bevölkerung. Porajmos (poraimos), mit diesem Romani-Wort für „Verschlingen“ bezeichnen sie selbst den Völkermord an den europäischen Roma und Sinti. Eine Vokabel, die wir genauso kennen sollten wie das hebräische Wort Shoah für „die Katastrophe“ des Holocaust.

Wir holen in unser Gedächtnis die Leidens- und Todeserfahrungen unzähliger junger und alter Menschen zurück, Kinder, Frauen und Männer. Wir erinnern uns an die Überantwortung von Menschen in die Vernichtungslager, für die der Name Auschwitz weltweit als unvorstellbar grausames Synonym steht. Ein Sinnbild für das Leid, das Menschen anderen Menschen zufügen können. Auch unsere Kirchen waren daran beteiligt, Menschen, die zu ihnen gehörten, zu verraten und sie preiszugeben: durch jahrhundertelang überlieferte Vorurteile, durch Ausgrenzung und Verachtung, durch Diskriminierung in Theologie und im Gemeindealltag bis dahin, die Schwestern und Brüder auszuliefern, indem zur Erfassung und Verfolgung von Minderheiten Kirchenbücher geöffnet wurden, um Namen und Daten weiterzugeben.

Wir erinnern heute an diese besondere Opfergruppe der Sinti und Roma. An unzählige Menschen, die im Namen der nationalsozialistischen Ideologie ermordet wurden – aber auch an das anschließende Vergessen und Vergessenmachen dieser Opfer. Erst in den 80er Jahren wurden die NS-Verbrechen an Sinti und Roma als Völkermord aus „rassischen“ Gründen offiziell anerkannt. Das war der erste, wenn auch sehr späte Schritt der deutschen Politik, um sich für die Rechte der Sinti und Roma in Deutschland zu öffnen. Erst dann bekamen sie auch die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Bis dahin galten sie als staatenlos. 

Erinnerung bedeutet für die Mehrheitsgesellschaft, Wahrheiten auszuhalten und anzuerkennen. Sich einen brutal ehrlichen Spiegel vorhalten zu lassen, wie ihn uns heute Morgen vom Johannesbrief vorgehalten wird: „Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder (oder seine Schwester), der ist noch in der Finsternis.“ (V9)

Es braucht dazu nicht die ganze Härte und Massivität von Gefühlen, wie wir sie meistens im Deutschen unter „Hass“ verstehen: Von Frauenhass, Judenhass oder Fremdenhass würden sich vermutlich die meisten von uns, liebe Domgemeinde, sehr schnell, klar und deutlich distanzieren. Die Bibel lässt uns hier jedoch nicht so schnell vom Haken. In biblischer Sprache kann schon die Gleichgültigkeit oder Überheblichkeit gegenüber einem anderen Menschen, aber auch der Widerwillen gegen ihn, gleichbedeutend mit „Hass“ sein. Schon die Geringschätzung eines anderen oder die völlige Unfähigkeit, in ihm einen liebenden oder leidenden Menschen zu sehen, ist eine Form von Hass. Elie Wiesel, Autor und Friedensnobelpreisträger, der als Kind Ausschwitz und Buchenwald überlebt hat, sagte das so: „Ich habe immer daran geglaubt, daß das Gegenteil von Liebe nicht Haß ist, sondern Gleichgültigkeit.“ (Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum, Mai 1986. Loccumer Protokolle 25/[19]86, S. 157)

Umso notwendiger ist die Erinnerung daran, was uns durch das Kommen Christi in diese Welt geschenkt wird: Es ist ein Leben im Licht, ein Miteinanderleben in Liebe, eine lebensfreundliche und menschenfreundliche Kultur der Achtung und des Respekts. Ich begegne einem anderen Menschen im Licht, auch dann, wenn er selbst, seine Kultur oder Sprache mir völlig fremd sein mögen. In den Briefen des Johannes an seine Gemeinde ist Liebe das zentrale Thema, der rote Faden aller drei Schreiben. Liebe ist das eine, das wichtigste Gebot für Menschen. Deshalb, so macht der Verfasser aber auch unmissverständlich und mit großem Nachdruck deutlich, ist Christsein ohne Geschwisterliebe, eine christliche Existenz ohne Nächstenliebe schlicht nicht möglich. Wer das Licht Gottes in Jesus Christus gesehen und empfangen hat, der und die sind aufgefordert, in diesem Licht ihren Weg zu gehen. „Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und durch ihn kommt niemand zu Fall.“ (V10)

Und so schließt Gottes Gebot, Gottes Liebesgebot, von Anfang an ein, dass wir Hüterinnen und Hüter unserer Geschwister sind. Dass wir Acht geben auf den jungen oder alten Menschen neben uns und, unser Augenmerk auf die richten, die uns und unsere Stimme brauchen. Weil diese Menschen keine Lobby haben und weil ihre Geschichte eine unendliche Geschichte der Ausgrenzung, der Verachtung und der Entrechtung ist – bis heute.

Liebe Gemeinde, was wäre dann das „neue Gebot“ für unser Handeln jetzt und hier in Deutschland angesichts des morgigen Gedenktages an die Opfer des Holocaust, 75 Jahre nach der Befreiung des größten deutschen Konzentrationslagers in Auschwitz? 

Vielleicht zuallererst, diese Geschwister und ihre Geschichte überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Aufmerksam den Zeugnissen der Überlebenden zu lauschen. Auf die wenigen zu hören, die noch in der Lage waren, ihre entsetzlichen Erlebnisse zu schildern. So, wie in den Aufzeichnungen mit dem Titel „Weggekommen“ – ein Wort, das in vielen Berichten von Überlebenden vorkommt. „Weggekommen“, das heißt nichts anderes als weggekommen von dort zu sein, wo viele schon seit Generationen zuhause waren, und dann deportiert worden zu sein. Einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, gegen die man sich nicht wehren konnte. 

Lore Georg erinnert sich:
„Wir wohnten damals in Ludwigshafen, bis wir 1940 weggekommen sind… in einer Gartenkolonie. Das Haus hatten meine Eltern schön hergerichtet…(hier) wohnten auch viele andere Sintifamilien. Meine Mutter kannte sie alle. Mein Vater arbeitete in der BASF. Er hat nicht viel verdient damals, nur ein paar Mark. Unsere Familie durfte ihr Gewerbe nicht mehr ausüben, meine Eltern hatten früher beide ihren Gewerbeschein, sie waren da selbständig. Später haben sie den… nicht mehr bekommen, sie durften nicht mehr Handel treiben. Meine Mutter ging trotzdem noch hausieren, weil sie Geld verdienen musste… (Sie) zog ein elegantes Kleid an und einen Hut, so dass sie nicht wie eine Sinteza aussah…

1940 war es, als unsere Familie auf den Transport nach Polen kam… Unser Vater musste in einer Munitionsfabrik arbeiten, meine Mutter und meine Schwester Renate mussten Schützengräben ausheben für die Soldaten. Meine Schwester war damals… sechs Jahre alt… Meine Mutter wollte erreichen, dass meine Schwester nicht mit zur Arbeit muss, aber es hieß, wer nicht zur Arbeit geht, wird standrechtlich erschossen. So wurde das gesagt. Sinti und Juden mussten dort Zwangsarbeit leisten…

Einmal… kam mitten in der Nacht die SS… und sie holten die Menschen aus den Häusern heraus, wir wohnten dort in solchen Steinbaracken… Die Menschen schrien durcheinander, viele wussten, dass die SS immer wieder Erschießungen vorgenommen hat… Einer von den Deutschen kam… und meine Mutter bat und bettelte, er möge die Großmutter und mich verschonen. Der Mann beugte sich über mein Bett und hat mich angesehen, dann sah er meine Mutter und sagte: Ich habe auch Kinder. Er ließ uns bleiben und sagte noch, wir sollten nichts davon sagen, sonst wäre er dran…

Von den fünfhundert Sinti wurden neunzig oder hundert wieder zurückgeschickt, darunter meine Eltern und meine Geschwister. Die anderen wurden alle ermordet.“ 

(Aus: …weggekommen. Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, hrsg. von Daniel Strauß, zusammengestellt von Ilona und Reinhold Lagrene, Berlin/Wien, 2002, zitiert aus: Mare Manuscha, hg. von Romeo Franz und Cornelia Wilß, Frankfurt, 2019)

Soweit die Erinnerungen von Lore Georg.

Einander zuzuhören kann auch heißen, nicht zuzulassen, dass Menschen sich nach wie vor verstecken müssen und ihre Identität verleugnen müssen. Wer seine traumatischen Erfahrungen mitteilen will, aber kein Echo findet, weil niemand mehr die sogenannten „alten Geschichten“ hören will, weil sie schlicht niemanden interessieren oder wer gar erleben muss, wie die Wahrheit solcher Berichte öffentlich bezweifelt oder in den Dreck gezogen wird, der und die wird erneut erniedrigt und zum Opfer gemacht. Dass dies noch immer vorkommt, dass Sinti und Roma aufgrund einschlägiger Erfahrungen besser nicht sagen, wer sie sind, um nicht wieder und wieder dieser uralten Diskriminierung ausgesetzt zu sein, ist schlicht unerträglich. 

Als Kirchen, auch als Evangelische Kirche in Deutschland, haben wir inzwischen verstanden, was unsere Aufgabe ist. Sie beginnt damit, zuzuhören und unsere Geschichte gemeinsam aufzudecken. Die Geschichten von Betroffenen und die Geschichten der Täter und Täterinnen und die Geschichten der vielen, die weggeschaut haben, als andere „weggekommen“ sind. Als Nachkommen, als Heutige lassen wir uns unsere Augen nicht mehr „von der Finsternis verblenden“ (V11). Auch wenn wir wissen, dass wir damit noch ganz am Anfang eines langen Weges stehen. Wir haben der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma und der sorgfältigen Dokumentations- und Aufklärungsarbeit des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma vieles zu danken – nicht zuletzt auch ihre Unermüdlichkeit und Beharrlichkeit. 

Anfang der 20er Jahre unseres 21. Jahrhunderts haben wir aber nicht nur genau hinzusehen, wo durch Gleichgültigkeit oder Hass Menschen heute ihre Würde abgesprochen werden soll und ihnen öffentlich oder im Verborgenen Gewalt angetan wird. Wir können - mit den ermutigenden Worten des Johannesbriefes im Herzen noch viel mehr tun. Wir können lernen, Respekt und Achtung, Mitmenschlichkeit und Liebe zu verteidigen – und zwar gemeinsam. 

Die Botschaft dieser Zeit, die Botschaft der Erscheinung Jesu Christi, gibt uns dazu das nötige Vertrauen und eine tiefe lebensbejahende Kraft: „…denn die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint schon.“ (V8).

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen