Die Rolle der Kirchen als intermediärer Institutionen in der Gesellschaft

Wolfang Huber

Humboldt-Universität Berlin, Symposion "Die Zukunft des Sozialen"

1.


Mit der Frage nach der Zukunft des Sozialen ist mehr gemeint als nur die Frage nach der Zukunft des Sozialstaats und der sozialen Sicherungssysteme. Nach der Zukunft des Sozialen fragt man nur zureichend, wenn man auch nach der Zukunft der Sozialgesellschaft fragt und die Frage einbezieht, ob der Marktwirtschaft selbst noch ein sozialer Charakter zukommt und nicht nur den Sicherungssystemen, die sie flankieren. Alle Bemühungen um die Zukunft der sozialen Sicherhungssysteme und der sozialstaatlichen Gewährleistungen müssen eingebettet sein in das Bemühen um eine nachhaltige soziale Kultur in der Gesellschaft selbst. Auch wenn die Rede vom "minimal invasiven Sozialstaat" (K.D.Hildemann) der Wirklichkeit noch etwas vorauseilt, kann man kaum bezweifeln, dass der Staat das Ausmaß seiner sozialen Interventionen reduzieren wird; damit wird nicht nur die individuelle Vorsorgebereitschaft herausgefordert; es wird auch neu gefragt, was die Institutionen des gemeinsamen Lebens zu leisten imstande sind.

Dabei wird deren erste und dringlichste Leistung nicht darin bestehen können, zusätzliche materielle Sicherungen bereitzustellen. Verstärkt aber werden sie nach ihrem Beitrag zur Bewahrung und Erneuerung des "Sozialkapitals" gefragt werden, nach ihrem Beitrag dazu, dass die einzelnen bereit sind, individuelle Selbstbestimmung und Solidarität, Freiheit und Verantwortung zueinander in ein neues und ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Der Übergang vom Sozialstaat zur Sozialgesellschaft kann nur gelingen, wenn der Prozess der Individualisierung nicht ungehemmt weiter fortschreitet, sondern ausbalanciert wird durch neue Strukturen wechselseitiger Verantwortung und praktizierter Solidarität.

Die Frage nach der Zukunft des Sozialen hat es nicht nur mit Problemen der Finanzierbarkeit, sondern auch mit Fragen der geistigen Orientierung zu tun. Das ist der Zusammenhang, in dem ich auch die Frage nach der Rolle der Kirchen sehe. Ihr Beitrag beschränkt sich nicht auf die wichtigen Aufgaben, die sie im Zusammenhang der freien Wohlfahrtspflege übernommen haben. Er hat auch dort seinen Ort, wo die Kirchen einen Beitrag dazu leisten, dass die Bereitschaft zur Solidarität nicht weiter erodiert und eine gottoffene Humanität in der Gesellschaft ihren Ort behält.

2.


Es wäre verkehrt, in nostalgischem und kulturpessimistischem Weltschmerz zu beklagen, wie weit der Verfall der Orientierung am Gemeinwohl schon vorangeschritten sei, und sich nach der guten alten Zeit zu sehnen, in welcher der Gemeinsinn noch ungebrochen galt und den Eigennutz in seine Schranken wies. Die Orientierung an verpflichtenden ethischen Grundsätzen war zu keiner Zeit selbstverständlich. Dass das Eigeninteresse dem Respekt vor der Würde des andern vorgeordnet wurde, war zu allen Zeiten eine Verführung der Menschen. Die Goldene Regel musste ja gerade deshalb aufgestellt werden, weil sie nicht selbstverständlich war: "Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch". Dass ein Leben in Freiheit nur gelingt, wenn mir die Freiheit des andern genauso wichtig ist wie die eigene Freiheit, ist eine anspruchsvolle Einsicht, die immer wieder neu gewonnen werden muss.

Es kommt hinzu, dass auch ethische Einsichten gegen Missbrauch nicht gefeit sind. "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" hieß ein altdeutscher Rechtssatz, der von den Nationalsozialisten höchst wirkungsvoll instrumentalisiert wurde. Das Schlagwort wurde bereits in das erste Parteiprogramm der NSDAP von 1920 aufgenommen und war bereits im ersten Flugblatt der Partei enthalten, das Adolf Drexler im Januar 1920 verfasste. Im Rückblick auf den Missbrauch des Gemeinschaftsgedankens, der sich dann in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in einer linken Variante wiederholte, gibt es ein begründetes Misstrauen gegen alles wolkige Reden von Gemeinschaft, Gemeinsinn und Gemeinnutz. Dieses Reden steht in dem begründeten Verdacht, dass Freiheit und Selbstbestimmung der Person, dass die Anerkennung individueller Leistungen und das Verfolgen eigener Interessen gering geschätzt, ja missachtet werden sollen zugunsten eines ideologisch definierten Gemeinsinns oder gar Volkswohls.

Demgegenüber bildet das nüchterne Achten auf die jeweils eigenen Interessen ein Gegengewicht. Diese Nüchternheit bestimmt insbesondere unsere Wirtschaftsordnung. Deren Wettbewerbsordnung kommt den Interessen derer entgegen, die Eigeninitiative beweisen und Risiken eingehen. Aber die soziale Marktwirtschaft hat ihren Sinn gerade darin, dass sie den legitimen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf nicht zu einem sozialdarwinistischen Dschungel verkommen lässt, in dem sich der Brutalste durchsetzt, sondern als ein System von "checks and balances" versteht, in dem Konflikt und Kooperation, Eigennutz und Gemeinsinn, Selbsterhaltungsstreben und Rücksichtnahme auf andere miteinander vereinbar sind.

Der ethische Sinn dieser Ordnung besteht gerade darin, Eigennutz und den Nutzen der Allgemeinheit, Selbstverwirklichung und das Achten auf den Mitmenschen, individuelle Freiheit und soziale Verantwortung nicht zu unvereinbaren Gegensätzen werden zu lassen. Der Leitgedanke, dass beides zusammengehört, ist tief in unseren kulturellen und religiösen Traditionen verankert. Das Gebot der Nächstenliebe, das im Christentum mit der Gottesliebe zum Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist, heißt bekanntlich: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Die Selbstachtung ist hier mit der Achtung des andern unmittelbar verbunden; die solidarische Zuwendung zum Mitmenschen, so kann man auch sagen, setzt durchaus Ich-Stärke voraus und leugnet sie nicht etwa.

Aber die Vereinbarkeit beider Richtungen unseres Handelns ist daran gebunden, dass wir auch die Selbstverwirklichung als Verwirklichung allgemeingültiger Maßstäbe begreifen. Die Verwirklichung der eigenen Ziele, des eigenen Lebensplans, der eigenen Interessen soll - und kann - so erfolgen, dass darin die Verantwortung nicht nur für das eigene Leben, sondern für das gemeinsame Leben zur Geltung kommt. Gerade heute ist eine Lebensform vonnöten, in der Freiheit und Verantwortung nicht als Alternativen begriffen, sondern zusammengesehen werden.

Wenn Freiheit und Verantwortung auf solche Weise miteinander verbunden werden, dann bleibt uns ein kritischer Blick auf die Gegenwart freilich nicht erspart. Zwar scheint die gegenwärtige Entwicklung von der denkbar größten Allgemeinheit bestimmt zu sein. "Globalisierung" heißt dafür das Zauberwort. Alle Entwicklungen auf dem Globus sind unlöslich miteinander vernetzt. Die Entscheidungen an einem Ort müssen auf die Entscheidungen an ungezählten anderen Orten bezogen werden. Aber unter dem Titel der Globalisierung werden nicht etwa allgemeine Interessen, Menschheitsinteressen, gleiche Menschenrechte gefördert. Gefördert werden vielmehr partikulare Interessen. Globalisierung ist der Titel, unter dem im Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft der Wirtschaft eindeutig der Vorrang in der Gestaltung der Lebenswirklichkeit zuerkannt wird. Und dies geschieht nicht unter der Perspektive derer, die in ihrem Lebensalltag - vor allem in ihrem Arbeitsalltag - von der Gestaltung der Wirtschaft betroffen sind. Es ist vielmehr das Interesse der Anteilseigner, das unter dem Titel der Globalisierung zum Bewegungsgesetz wird.

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass soziale Verantwortung unter solchen Voraussetzungen mit zusätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. "Globalisierung" und die mit ihr verbundene "Flexibilisierung" werden nämlich auch zur Begründung dafür herangezogen, dass wichtige Elemente unserer Sozialkultur aufgelöst werden sollen. Natürlich denke ich in diesem Zusammenhang an die Ausweitung der Sonntagsarbeit und die immer weitergehende Durchlöcherung des Arbeitsverbots am Sonntag. Natürlich denke ich auch an die Börsenöffnung an Feiertagen, die ausdrücklich mit Notwendigkeiten der Globalisierung begründet wird. Ohne einen gemeinsamen Rhythmus von Werktag und Feiertag, ohne einen gemeinsamen Rhythmus von Erwerbsarbeit und gemeinsamer freier Zeit ist jedoch die soziale Verantwortung genauso gefährdet wie der gemeinsame Sinn für das, was über alle Nützlichkeitserwägungen hinausgeht, den gemeinsamen Sinn für Religion und Glauben eingeschlossen. An dieser Stelle ist die Gefahr mit Händen zu greifen, dass wir Institutionen der Sozialkultur, die sich über lange Zeiträume hin gebildet und entfaltet haben, in kürzester Frist verspielen oder jedenfalls aufs Spiel setzen.

3.


Im Zusammenhang der Umweltdebatte ist seit einem knappen Jahrzehnt, nämlich seit der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992, der Begriff der Nachhaltigkeit im Gespräch. Worin eine ökologisch - und auch ökonomisch - nachhaltige Entwicklung besteht, wird immer wieder gefragt. Mich interessiert mit vergleichbarer Dringlichkeit die Frage nach der sozialen Nachhaltigkeit der gegenwärtigen Entwicklung. Zu ihr gehört, dass wir für eine nächste Generation Strukturen des gemeinsamen Lebens bewahren und weiterentwickeln, wie sie auch für unser eigenes Leben wichtig geworden sind. Zur sozialen Nachhaltigkeit gehört die Möglichkeit, religiöse und moralische Überzeugungen zu bilden, und der behutsame Umgang mit den Institutionen des gemeinsamen Lebens, insbesondere mit der Familie, ebenso hinzu wie die Frage nach einer Gestalt der Rentenversicherung, die auch für die nächste Generation finanzierbar bleibt. Im Blick auf die soziale Nachhaltigkeit sind die Diskussionen, die wir gegenwärtig erleben, bei weitem zu kurzatmig und zu eng dimensioniert. Wir lassen uns auf Veränderungen ein, deren Folgen wir nicht übersehen - aber sicherheitshalber auch gar nicht erst zu übersehen versuchen. Verantwortungsethik aber hat es nach Max Weber damit zu tun, dass wir für die voraussehbaren Folgen unseres Handelns geradezustehen bereit sind. Wer das will, muss allerdings auch die andere Beschreibung verantwortlichen Handelns ernst nehmen, die Max Weber gegeben hat. Es ist das geduldige Bohren harter Bretter, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.

4.


Worin besteht die Rolle der Kirchen für die Bewahrung und Erneuerung der Sozialkultur? In Westeuropa haben die Großkirchen auf den Säkularisierungsprozeß weithin mit einer Ethisierung der Religion geantwortet. Sie haben den Säkularisierungsprozeß in einem Prozeß der Selbstsäkularisierung aufgenommen. Die moralischen Forderungen der Religion wurden zum dominierenden Thema; die transmoralischen Gehalte der Religion, die Begegnung mit dem Heiligen, die Erfahrung von Transzendenz traten in den Hintergrund.

In ganz besonderem Maß gilt das für den Bereich der evangelischen Kirchen in Deutschland. In vielen Gottesdiensten und Predigten bildete beispielsweise nicht so sehr die Menschwerdung Gottes in dem Menschen Jesus von Nazareth, sondern der ständig überfordernde Appell an die Nachfolgebereitschaft der Menschen das Schlüsselthema. Die selbstkritische Einsicht, zu der wir uns durchringen müssen, besteht darin, daß diese Konzentration auf moralische Forderungen zu einer Verengung derjenigen Wahrheit geführt hat, die nur die Religion in die Suche nach Sinn einbringen kann: die Wahrheit nämlich, daß menschliches Leben sich einem größeren Zusammenhang verdankt, den der Mensch durch eigene Leistung gerade nicht hervorbringen kann.

So notwendig dieser Beitrag der Kirchen auch heute ist, so deutlich ist zugleich, dass er jedenfalls in der Mitte Europas in eine Krise geraten ist. Die Kirchen als Institutionen des christlichen Lebens durchlaufen eine Krise ihrer traditionellen Strukturen. Auch das Bündnis der Kirchen mit überlieferten kulturellen Gestaltungsformen löst sich auf. Für die deutsche Entwicklung im 20. Jahrhundert ist insbesondere die Auflösung der Verbindung mit dem Staat charakteristisch. Die Kirche ist aus ihrer staatsanalogen Stellung herausgetreten und hat sich - neben dem Staat - zu einem eigenständigen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt. In dieser Veränderung liegt auch eine Chance. Die Kirche kann sich neu als intermediäre Institution verstehen. Damit ist folgendes gemeint: Für die einzelnen leistet sie einen Dienst der Vermittlung zwischen der geglaubten und der erfahrenen Wirklichkeit. Sie bietet einen Deutungshorizont an, der die verschiedenen Felder persönlichen und gesellschaftlichen Lebens in einem inneren Zusammenhang erkennen läßt. Als Interpretationsgemeinschaft ermöglicht sie es den einzelnen, selbst die Deutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mitzuprägen und an der Weiterentwicklung gesellschaftlicher Sinnmuster mitzuarbeiten. So schafft sie Verbindungen zwischen den einzelnen und vermittelt zwischen ihnen und dem Leben in der Gesellschaft, ja im Kosmos. In diesem - durchaus anspruchsvollen - Sinn kann man die Kirche als 'intermediäre Institution' bezeichnen.

Peter Berger und Thomas Luckmann waren es, die auf die Bedeutung intermediärer Institutionen für die Zukunft der Gesellschaft und damit auch für die Zukunft des Sozialen hingewiesen haben. Nach ihrer Auffassung wird die Vermittlungsleistung intermediärer Institutionen "darüber entscheiden, ob moderne Gesellschaften die ständig latente Sinnkrise in der Regel ... im Zaume halten können. Nur wenn intermediäre Institutionen dazu beitragen, dass die subjektiven Erfahrungs- und Handlungsmuster der Individuen in die gesellschaftliche Aushandlung und Etablierung von Sinn mit einfließen, wird verhindert werden, dass die einzelnen sich in der modernen Welt als gänzlich Fremde wiederfinden" (Berger/Luckmann).

Was das für die Kirchen bedeutet, will ich in aller Kürze nur am Beispiel der evangelischen Kirchen verdeutlichen. Für sie ist charakteristisch, daß sie in besonderer Weise in den neuzeitlichen Modernisierungsprozeß verflochten sind. Die Neuentdeckung der 'Freiheit eines Christenmenschen' hat maßgeblich dazu beigetragen, daß die Gechichte der Neuzeit durch das Bewußtsein der Freiheit geprägt ist. Die Mitwirkung und Mitverantwortung der Laien in der Kirche hat die Entstehung demokratischer Verfassungsformen gefördert. Das neue Bewußtsein für die Weltlichkeit der Welt hat die Bereitschaft dazu bestärkt, diese Welt wissenschaftlich zu begreifen und technisch zu gestalten. Die Überzeugung, daß der Christ seinen Glauben im Alltag seines Lebens zu bewähren habe, hat zu 'innerweltlicher Askese' angespornt und so der neuzeitlichen kapitalistischen Wirtschaftsweise kräftigen Auftrieb gegeben. Auch in die Ambivalenzen und Abgründe der neuzeitlichen Entwicklung ist der Protestantismus verflochten: Er hat die Idee der Menschenrechte nicht nur befördert, sondern ihr auch Widerstand entgegengesetzt. Er hat die gleiche Freiheit aller Menschen nicht nur propagiert, sondern zugleich geleugnet - in der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder des Geschlechts und vor allem in der Form, in der antijüdisches Denken dem Rassenantisemitismus Vorschub geleistet hat. Er kann sich nicht nur der Errungenschaften der Neuzeit rühmen; er muss zugleich bekennen, in ihre Schuldgeschichte verflochten zu sein.

Weil der Protestantismus so eng mit der Epoche der Neuzeit verbunden ist, hat er es schwer, sich an die 'Post-Moderne' zu gewöhnen; noch ungewohnter ist im protestantischen Milieu die Frage nach den Konturen einer geistigen Orientierung, die auf die Übergangszeit der 'Post-Moderne' folgt. Zwar breitet sich der evangelikale Protestantismus in den verschiedenen Erdteilen zum Teil rasant aus. Doch die auf das Bündnis von Glaube und Vernunft verpflichtete Gestalt des Protestantismus geht durch eine kritische Phase. Seine Lebensfähigkeit und Lebensdienlichkeit wird dieser Protestantismus dann erweisen, wenn er aufs neue zur 'Religion der Freiheit' wird. Dazu muss er dem transmoralischen Gehalt des christlichen Glaubens neuen Ausdruck geben und zugleich zur Verantwortung der Freiheit in der Gestalt des je eigenen Lebens ermutigen. Die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung bildet die besondere Perspektive des Protestantismus. Diese Balance ist für die Kultur des Sozialen gerade heute von unverkennbarer Bedeutung.

Nun wird - trotz der römischen Einspruchs aus der vergangenen Woche - der Beitrag der Kirchen als intermediärer Institutionen in Zukunft verstärkt einen ökumenischen Charakter tragen. Nur miteinander können die Kirchen ihren Ort in der Zivilgesellschaft wahrnehmen und gestalten. Das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage aus dem Jahr 1997 oder die vor wenigen Wochen unter dem Titel "Verantwortung und Weitsicht" veröffentlichte Stellungnahme der Kirchen zur Zukunft der Alterssicherung haben das auf eine Weise deutlich gemacht, hinter die wir jedenfalls in Deutschland nicht einfach zurückgehen können. Ökumene bedeutet jedoch nicht eine Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner; und sie bedeutet auch nicht die Rückkehr der getrennten Halbgeschwister in den Schoß einer alleinseligmachenden Kirche. In dieser Hinsicht hat die Erklärung "Dominus Iesus" vom 5. September 2000 für Klarheit gesorgt. Sie hat am römisch-katholischen Kirchenverständnis genau diejenigen Züge scharf hervortreten lassen, die es für evangelische Christen dauerhaft unannehmbar machen. Damit ist zugleich klargestellt, dass Ökumene auf Dauer das gemeinsame Zeugnis der Verschiedenen, nicht etwa die Herstellung einer organisatorischen Einheit bedeutet. Die ökumenische Zukunft der Kirchen hat damit zu tun, dass die verschiedenen christlichen Kirchen die Vielfalt ihrer Profile und Traditionen in das gemeinsame Zeugnis und den gemeinsamen Dienst an der Gesellschaft einbringen. Doch diese Vielfalt kann ökumenisch nur fruchtbar werden, wenn die Kirchen ihren Beitrag in der Gesellschaft auf der Grundlage der Gleichachtung und Gleichberechtigung erbringen. Und diese Vielfalt darf nicht verdunkeln, dass das, was die Kirchen verbindet, bedeutsamer ist als das, was sie trennt: das Bekenntnis zur Annahme jeder menschlichen Person in Jesus Christus und deshalb das Eintreten für die gleiche Würde jeder menschlichen Person.

5.


Auf welche Weise und an welchen Orten kann die Kirche ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Orientierung zur Geltung bringen? Grundlegend ist hierbei die Einsicht, daß sie diesen Beitrag nicht außerhalb, sondern innerhalb der zivilgesellschaftlichen Zusammenhänge erbringt, in denen Menschen ihr Leben führen und gestalten. Zwar verbindet sich mit ihrer spezifischen Kompetenz - der Vergegenwärtigung der Wirklichkeit Gottes in der Wirklichkeit der Welt - auch ein spezifischer Ort. Es ist deshalb kein Zufall, daß die besondere Aura von Kirchengebäuden und Kirchenräumen in jüngster Zeit - auch im evangelischen Bereich - verstärkte Aufmerksamkeit findet. Doch zugleich gehört es zu ihrem Signum als intermediäre Institution, daß sie in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft präsent ist und ihren Beitrag einbringt. Dieser Beitrag ist jeweils durch die Offenheit für die Wirklichkeit Gottes und die Zuwendung zur Lebenssituation des Menschen gekennzeichnet. Gottesdienst und Dienst am Nächsten, Liturgie und Diakonie prägen miteinander den Beitrag, den die Kirche zur gesellschaftlichen Orientierung leistet. Aber diese Grundvollzüge kirchlichen Handelns haben zugleich eine Außenseite, die von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz ist. Diese Außenseite zeigt sich vor allem in drei Kennzeichen kirchlichen Handelns, deren Aktualität nach meinem Verständnis gerade gegenwärtig mit Händen zu greifen ist: der Bildungsverantwortung der Kirche, ihrem Eintreten für Gerechtigkeit und ihrer Verpflichtung auf Barmherzigkeit.

Die Bildungsverantwortung der Kirche richtet sich auf ihren Beitrag zur religiösen Bildung ebenso wie zur Wertevermittlung; sie hat den christlichen Glauben und sein Verhältnis zu anderen Religionen und Weltanschauungen ebenso im Blick wie die Ethik als Folge des Glaubens in ihrem Verhältnis zu anderen ethischen Orientierungen. Kohäsion und Kritik sind in diesem Bildungsauftrag in gleicher Weise enthalten; die Stärkung der Kohäsionskräfte der Gesellschaft ist ebenso sein Ziel wie die Befähigung zur Kritik an Zuständen und Entwicklungen, in denen die Würde der menschlichen Person und die Grundlagen eines gerechten gesellschaftlichen Zusammenlebens gefährdet oder aufgehoben werden.

Die politische Verantwortung der Kirche wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein in aller Regel nur im Gegenüber zum Staat wahrgenommen. Sie war zunächst im "Gehorsam gegenüber der Obrigkeit" verankert und entwickelte sich erst spät - in Deutschland im Grunde erst mit der Erfahrung der Nazizeit - zu einem kritischen Wächteramt. Heute ist deutlich, dass die politische Verantwortung der Kirche nicht allein auf den Staat, sondern auch auf die Zivilgesellschaft zu beziehen ist. Denn in ihr formt sich das politische Wollen einer Gesellschaft. In ihr bilden sich Bündnisse zur Förderung von Gerechtigkeit und Frieden; in ihr artikuliert sich die Bereitschaft zur Bewahrung der Natur ebenso wie zur Verteidigung der Menschenrechte und zum Widerstand gegen menschenverachtende Gewalt.

Die Zukunft des Sozialen ist in den letzten Jahren zu einem vorrangigen Thema für politische Initiativen der Kirchen geworden. Dabei handelt es sich um ein Feld, in dem staatliche Vorsorge, gesellschaftliche Solidarität und persönliche Eigeninitiative unauflösbar zusammengehören. Das macht die Stellungnahme der Kirchen zur Zukunft der Alterssicherung von diesem Sommer auf exemplarische Weise deutlich. Sie beharrt darauf, dass eine zukunftsfähige Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme nur möglich ist, wenn Wahrheit und Klarheit in der Beschreibung absehbarer Entwicklungstendenzen herrschen. Sie anerkennt die verstärkte Bedeutung von Eigenvorsorge, weist aber zugleich darauf hin, dass Generationensolidarität nach wie vor unverzichtbar ist. Sie macht vor allem darauf aufmerksam, dass dieser Generationensolidarität auch eine Gerechtigkeit im Generationenverhältnis entsprechen muss. Diese gerät umso mehr in Gefahr, je stärker die Generationenpyramide auf dem Kopf steht. Die Stellungnahme der Kirchen tritt für ein Bündel von Maßnahmen ein, das sich an den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität orientiert.

Schließlich aber ist auf die Verantwortung der Kirche für eine Kultur des Helfens hinzuweisen. Kein noch so ausgeklügeltes System von sozialstaatlicher Vorsorge, praktizierter Generationensolidarität und individueller Eigenverantwortung kann diejenigen Lebenssituationen ausschließen, in denen Menschen darauf angewiesen sind, dass andere sich ihnen helfend und pflegend zuwenden. Die Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit des Menschen steht freilich in unserer Gesellschaft nicht hoch im Kurs. Zum christlichen Bild vom Menschen dagegen gehört, dass nicht nur der leistungsstarke, sondern auch der hilfsbedürftige, nicht nur der unangefochtene, sondern auch der verletzliche Mensch wahrgenommen wird. An einen verspotteten und gedemütigten Menschen richtet sich er Ruf: "Seht, welch ein Mensch." Dass Hilfsbedürftigkeit wahrgenommen und Hilfe geleistet wird, ist tief im christlichen Glauben verwurzelt. Dass es eine "Kultur des Helfens" begründet und gefördert hat, gehört zu den bleibenden Beiträgen des Christentums zur Geschichte und zur Zukunft unserer Kultur. Diese Kultur des Helfens bleibt ein Lebenselement für jede Kultur des Sozialen.