Predigt im Gedenkgottesdienst im Berliner Dom zum Mord an den Sinti und Roma am Tag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Kirsten Fehrs

Die amtierende Ratsavorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs predigt im Berliner Dom im Gedenkgottesdienst zum Mord an den Sinti und Roma am Tag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Lukas 22,54-62

„Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“ Dreimal hat er seinen Jesus verraten, den er so von Herzen liebt. Am Abend zuvor noch, beim letzten Abendmahl, hat er den Mund ziemlich voll genommen. „Herr, ich werde mit dir ins Gefängnis gehen und in den Tod!“

Und dann, ja dann hat Petrus von Ferne – im Schutz der Dunkelheit – gesehen, wie sie ihn verhöhnten, bespuckten und schlugen. Der Schweiß ist Petrus den Rücken heruntergeronnen vor Todesangst. Und die ganze Zeit hat er verzweifelt gehofft, dass Jesus sich endlich wehrt, dass er nicht nur sagt, er sei der Messiasretter, sondern es endlich tut: dass er die Kollaborateure und Leisetreter hinwegfegt, die Römer vertreibt, dem Land Freiheit und Gerechtigkeit schenkt, die Völker erlöst und …

„Gehörst du nicht zu ihm?“ Erschrocken fährt Petrus zusammen. „Nein, ich kenne ihn nicht.“ Und er merkt in diesem Moment verzweifelt: Er kann sein Versprechen, seine große Liebe nicht halten. Er knickt ein, wird haltlos. Was für eine Szene dort am Feuer, wo er Wärme gesucht hat und nun im Licht erkannt wird. Nein, ich kenne den nicht. Dreimal verleugnet Petrus diesen seinen Jesus, für den er einst alles verlassen hat, um dem Friedensreich Gottes, endlich, auf die Welt zu helfen. Nein, ich kenne ihn nicht.

Und der Hahn krähte. Am Ende ihres gemeinsamen Weges ist kein Friede. Sondern ein gefolterter, an Leib und Seele leidender Jesus, seinen Schächern restlos ausgeliefert. Ihn erwartet unendlicher Schmerz, Qual, Tod. Und da ist so viel Scham in diesem Petrus, der an sich selbst scheitert. Da ist so viel Schuld. Und er weinte bitterlich.

Niemand wird heute Abend in dieser Kirche sein, der das nicht mitfühlen könnte. Allemal einen Tag nach dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. So unendlich viel Leid und Tod und Schmerz ist damals geschehen, dass es mir den Atem noch heute raubt. Wir teilen hier in diesem Gedenken das Entsetzen, was Menschen in aller Abgründigkeit und Menschenverachtung anderen angetan haben. Millionen Frauen, Alte, Männer, Kinder. Im Nationalsozialismus barbarisch ermordet, gefoltert und verfolgt.

Weil sie jüdisch waren. Oder weil sie homosexuell, pazifistisch, „behindert“, weil sie widerständig, slawisch, kommunistisch, Sozialdemokratin und Gewerkschaftler waren. Oder – und da stehen wir heute in Trauer an Ihrer Seite, lieber Herr Rose und liebe Frau Reinhardt, weil sie zu den Sinti und Roma gehörten. Lange wurde ihr Leid nicht gesehen. Lange wurde das an ihnen begangene Unrecht, wurde der Völkermord, der unzählige Opfer kostete, nicht wahrgenommen. Zu lange wurde nicht erkannt, wie demütigend die Rechtlosigkeit war und wie zutiefst entwürdigend die Diskriminierungen, die bis heute andauern. Auch von uns als Kirche wurde es nicht erkannt.

Wir wissen, wie sehr auch die Kirchen damals schuldig geworden sind. Dass auch wir Protestanten hätten mutiger widerstehen, hingebungsvoller lieben und inständiger hätten beten müssen. Dass wir der Gleichschaltung in den Kirchen Hausverbot hätten erteilen müssen und Verfolgte schützen. Doch da ist so viel Versagen gewesen. Scheitern. Die Scham des Petrus steht auch für unsere Kirche, gerade in diesen Tagen und damals. Weil diese unsere Kirche nicht Einhalt geboten, sich nicht gerade gemacht hat. Um ihres Jesus Willen, den sie so sehr liebt. Sondern im Gegenteil, die ihre Verantwortung leugnete und den Verbrechern in die Hände gespielt hat. Und sie weint bitterlich.

Der Hahnenschrei des Verrates – er muss in unserem Ohr wohnen. Uns mahnen. Aufrütteln. Erinnern, um nicht zu vergessen. Das meint eine Haltung der Geradlinigkeit, nicht nur an Gedenktagen wie heute. Eine Haltung, die es gerade nicht macht wie die Hähne auf den Kirchtürmen, nämlich ihre Richtung zu ändern, je nachdem, woher der Wind weht. Sondern eine Haltung, die uns zur Courage provoziert, weil das Scheitern schon eklatant genug war.

Deshalb war es dem Rat der EKD so von Herzen wichtig, seine Solidarität mit den Sinti und Roma und dem Zentralrat sowie seine Unterstützung des Netzwerkes Sinti, Roma, Kirchen nicht nur zu erklären, sondern zu bekennen. „Gemeinsam Antiziganismus bekämpfen“ – das ist das Bekenntnis unserer Scham und unserer Schuldgeschichte. Und es ist zugleich ein Zeichen, den entwürdigenden Vorurteilen und der strukturellen Diskriminierung, die die Sinti und Roma bis heute erleiden, mit Entschlossenheit entgegenzutreten.

Mit allen Kräften möchten wir es unterstützen, dass sie auch institutionell, in Politik, Bildung, Kultur als gleichberechtigte Partner partizipieren. Hier haben wir, liebe Geschwister, eine gemeinsame gesellschaftliche und europäisch-internationale Aufgabe, nichts weniger. Nämlich die Aufgabe, Anwältinnen der Mitmenschlichkeit zu sein. Und diese Aufgabe weist in die Zukunft. Um ihretwillen sind Tage wie der 27. Januar, sind Gedenken wie dieses heute so wichtig. Sie verhindern, dass wir vergessen. Sie zeigen unsere Untaten. Sie rütteln uns wach. Sie wecken das Ohr für die Mitmenschlichkeit.

Direkt neben meiner Bischofskanzlei in der HafenCity in Hamburg liegt der Lohsepark mit einem besonderen Gedenkort, dem Hannoverschen Bahnhof. Zwischen 1940 und 1945 wurden von diesem kleinen Bahnhof mehr als 8.000 Sinti und Roma sowie Jüdinnen und Juden in die Ghettos und die Vernichtungslager Ost- und Mitteleuropas deportiert. Jeden Tag gehe ich daran vorbei – ein tägliches Geh-Denken. Jedes Mal bin ich berührt. Allein, die Namenstafeln zu sehen, die an dem – nachgestellten – Gleis stehen; sie lassen ahnen, wieviel Leben, Hoffnung, Träume zerstört wurden.

Sie haben, lieber Herr Rose, für den Zentralrat bei der Einweihung dieses Gedenkortes 2017 eine uns alle beeindruckende Rede gehalten. Innerlich vor Augen, wie in den Menschen, ihre Koffer in der Hand, die Todesangst hochgekrochen ist, brachten Sie uns nahe, was es heißt, als schutzlose Minderheit Rassismus und Völkermord ausgeliefert zu sein. Existentiell betroffen war jede Familie. Und sie sagten damals: „Diese Erfahrung absoluter Rechtlosigkeit hat sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt und die Identität unserer Minderheit auch auf zukünftige Generationen geprägt.“ Und sie schlossen mit Blick auf den wieder erstarkten Nationalismus in Europa: „Rassismus und Populismus bedrohen nicht nur die Rechte von Minderheiten, sondern sie zielen auf das Herz unserer Demokratie. Sie spalten die Gesellschaft und zerstören das Fundament des Zusammenlebens. Historische Erinnerung bedeutet immer auch gelebte Verantwortung für die Gegenwart. [...] Gemeinsam müssen wir dafür einstehen, dass wir eine Gesellschaft mit einem menschlichen Antlitz bleiben.“

Mich hat Ihre Rede nachhaltig aufgerüttelt. Nicht allein bittere Tränen sollen wir weinen. Sondern aufstehen. Wie es im Moment Hundertausende in unseren Städten und Dörfern tun. Für mich sind sie ein Zeichen der Hoffnung. Sie zeigen: Wir können etwas verändern, jetzt, wenn Rechtsextremisten an Boden gewinnen. Wenn Vertreibungsfantasien die Runde machen. Wir können etwas ändern, wenn wir uns erkennbar machen. Und wir als Kirchen werden und dürfen ebenfalls nicht schweigen wie damals, heute nicht und morgen auch nicht. Nie wieder. Auch angesichts des unsäglichen Antisemitismus braucht es hier das klare Wort: Nie wieder ist jetzt. Nie wieder ist tägliches Gedenken.

Wir werden die Taten und die Verwundungen nicht los, liebe Geschwister. Die ganze Bibel erzählt von diesen Wunden und von denen, die sie zufügen. Aber sie erzählt auch, dass Menschen neu anfangen können. So wie Petrus. Und zwar nicht trotz seines verzweifelten Scheiterns, sondern mit dieser Schuld. Menschen können neu anfangen, wenn sie hinsehen. Den Sichtschutz lösen und sich stellen. Wenn sie trauern und bittere Tränen weinen. Und wenn sie einander ansehen und Ansehen geben, mit tiefem Respekt.

Der jüdische Theologe und Philosoph Martin Buber hat dies Erlösung genannt und diese Erlösung hin zur Mitmenschlichkeit, hin zu einem neuen Anfang für mich in wunderbare Worte gefasst: „Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Erlösung kann zu einem Volke nicht kommen, ehe es die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Wer, Mensch oder Volk, der Erkenntnis seiner Mängel keinen Zutritt gewährt, zu dem hat die Erlösung keinen Zutritt. Wir werden in dem Maße erlösbar, in dem wir uns selber sichtbar werden.“

So mit dem ganzen Selbst einander sichtbar werden, liebe Geschwister, so werden wir erkennen, dass wir nicht allein sind. Epiphanias – Gott erscheint uns im anderen. Epiphanias – und ein Schein fällt auf Jesus, den Menschenfreund, der uns vorangeht. Unsere Geschichte, die des Petrus, die unserer Kirche bedenken – und leidenschaftlich mitmenschlich sein, das ist der Weg des Gedenkens. Der nach vorn, aus dem Weinen zur Umkehr führt, immer wieder neu. An diesem Tag, und jeden Tag. Damit wir eine Gesellschaft mit einem menschlichen Antlitz bleiben. Dazu helfe uns der Gott Israels, der sich uns in Jesus Christus offenbart hat und der Heilige Geist.

Amen.

Predigttext zum Download