Gemeinsame Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts (Chancen-Aufenthaltsrechtsgesetz – ChAR-Gesetz)
Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union und des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin –
Allgemeine Anmerkungen
Die beiden großen Kirchen in Deutschland danken dem Bundesministerium des Innern und für Heimat für die Übersendung des Referentenentwurfs und für die Möglichkeit, zu den Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und anderer Gesetze Stellung zu nehmen. Die Kirchen begrüßen die Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechtes, denn dies schafft eine aufenthaltsrechtliche Perspektive für Menschen, die schon lange mit Duldung in Deutschland leben und bisher kaum eine Möglichkeit hatten, dies zu ändern. Für diese Personen wird durch die Neuregelung eine echte Chance geschaffen, der Kettenduldung zu entgehen.
Den Kirchen ist bewusst, dass es sich bei dem Entwurf um den ersten Teil verschiedener gesetzgeberischer Vorhaben im Ausländerrecht handelt und deswegen noch weitere Änderungen zu erwarten sind.
Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, dass zwei weitere grundlegende Vorhaben nicht bereits jetzt angegangen werden: Das betrifft zum einen die „Abschaffung der Duldung Light“ nach § 60b AufenthG und zum anderen die „Möglichkeit, die Klärung der Identität eines Ausländers oder einer Ausländerin mittels Versicherung an Eides statt“[1] einzurichten. Beide Änderungen sind eng mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG-E verbunden. Darüber hinaus könnte die alternative Klärung der Identität durch eidesstattliche Versicherung ein entscheidender Baustein sein, um den vielfältigen praktischen Problemen bei der Identitätsklärung angemessen zu begegnen.
Die Kirchen bedauern, dass der Gesetzentwurf in Art. 4 Abs. 2 das automatische Außerkrafttreten des § 104c AufenthG-E zwei Jahre nach Inkrafttreten festlegt und keine Evaluierung mit der Möglichkeit der Verlängerung der Neuregelung vorsieht. Dies würde die Chance eröffnen, positive Effekte der Regelung weiterhin zu nutzen.
Zu den Regelungen im Einzelnen:
Aufenthaltsgesetz:
- § 25 Abs. 1 S. 2 AufenthG-E – Aufenthalt aus humanitären Gründen:
§ 25 Abs. 1 AufenthG regelt den aufenthaltsrechtlichen Status von Personen mit Asylanerkennung nach Art. 16a GG. In Satz 2 wird klargestellt, unter welchen Voraussetzungen die Erteilung des Aufenthaltstitels zu versagen ist; hier wird der bisherige Verweis auf eine Ausweisung nach § 54 Abs. 1 AufenthG durch einen Verweis auf § 53 Abs. 3a AufenthG ersetzt. Aufgrund des Verweises in § 25 Abs. 2 S. 2 AufenthG gilt diese Änderung auch für anerkannte Flüchtlinge nach § 3 AsylG und subsidiär Geschützte nach § 4 AsylG. Ausweisich der Gesetzesbegründung handelt es sich um ein Folgeänderung zur Absenkung des Ausweisungsschutzes in § 53 Abs. 3a AufenthG-E.[2] Die beiden Kirchen geben zu bedenken, dass die angesprochene Absenkung des Ausweisungsschutzes[3] in Verbindung mit der Entziehung des Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 2 AufenthG gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen könnte, da sich an der bestehenden Verfolgungsgefahr bzw. Schutzbedürftigkeit der Personen nichts geändert hat. Die Gesetzesbegründung räumt dies auch ein und verweist darauf, dass „in Fällen, in denen ein Ausländer ausgewiesen ist, aber sein Schutzstatus aufgrund der höheren Anforderungen an die Entziehung des Schutzstatus nicht entzogen werden kann, […] ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (Asylberechtigte und Flüchtlinge) oder § 60 Abs. 2 AufenthG (subsidiär Schutzberechtigte] [vorliegt]. Eine Abschiebung ist demnach aus rechtlichen Gründen unmöglich, dem Ausländer ist in der Folge grundsätzlich eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen.“[4] Die Gesetzesbegründung geht hierbei nicht auf die Feststellung des EuGH ein, wonach ein anerkannter Flüchtling auch nach dem Verlust seines Aufenthaltstitels weiterhin Flüchtling ist und in dieser Eigenschaft weiterhin Anspruch auf die Vergünstigungen hat, die das Kapitel VII der Qualifikationsrichtlinie jedem Flüchtling gewährt.[5] Die Kirchen bezweifeln, dass eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG diese Rechte anerkannter Flüchtlinge gewährleistet.
- § 25a Abs. 1 AufenthG-E – Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden
Die vorgeschlagenen Änderungen von § 25a Abs. 1 AufenthG-E sind aus kirchlicher Perspektive sehr positiv zu bewerten. Die Umgestaltung sieht eine Verkürzung der Voraufenthaltszeiten von vier auf drei Jahren vor und darüber hinaus eine Ausweitung des potenziellen Begünstigtenkreises auf bis zu 27-jährige junge Erwachsene. Dies ist ein entscheidender Schritt, der dazu führen wird, dass gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende schneller aufenthaltsrechtliche Sicherheit erlangen können und ihre Integrationsbemühungen Anerkennung und Beachtung finden. Damit wird nachhaltige Integration gestärkt und das Signal gegeben, dass Integrationsbestrebungen sich lohnen.
Unsere Beratungsstellen haben darauf hingewiesen, dass § 25a AufenthG ein recht enges Verständnis von Integrationsleistungen zugrunde liegt; es wäre wünschenswert, wenn neben schulischen Leistungen auch vielfältigere Formen von Integration Berücksichtigung finden könnten, wie zum Beispiel ehrenamtliches Engagement. In der neuen Ausgestaltung des § 25a Abs. 1 Nr. 3 AufenthG-E wäre in jedem Falle für die älteren Antragstellenden zu beachten, dass sie sich in der Regel nicht mehr im Bereich der Schulbildung bewegen, sondern im Bereich der Berufsausbildung befinden. Dies könnte bei der Änderung des § 25a AufenthG bedacht werden, indem man in § 25a Abs. 1 Nr. 2 AufenthG beispielsweise „oder sich gegenwärtig in einer anerkannten Berufsausbildung befindet“ ergänzt. Damit würde man den Lebensumständen dieser Altersgruppe gerecht werden.
- § 25b Abs. 1, 6, 7 und 8 AufenthG-E – Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration
§ 25b AufenthG-E sieht vor, dass die Voraufenthaltszeiten von nachhaltig integrierten Antragstellenden von acht auf sechs Jahre verkürzt werden, bzw. bei Menschen, die mit einem Kind in häuslicher Gemeinschaft leben, von sechs auf vier Jahre. Zudem wird klargestellt, dass bei Antragstellenden, die im Besitz einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis i.S.d. § 104c AufenthG-E sind, die Voraufenthaltszeiten der Duldung nach § 60b Abs. 1 AufenthG mitgezählt werden. Damit soll ein Anreiz für die Antragstellenden geschaffen werden, während des Zeitraums des Chancen-Aufenthaltsrechts die notwendigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht nach § 25b AufenthG wie etwa die Identitätsklärung voranzutreiben.[6]
Die Kirchen befürworten die Herabsetzung der Voraufenthaltszeit sehr, da die bisher geltenden Voraufenthaltszeiten lange Duldungs- bzw. Gestattungszeiträume voraussetzen. Diese Zeiten sind für die Betroffenen oftmals sehr belastend, da sie aufgrund ihres ungesicherten Aufenthaltsstatus erhebliche Schwierigkeiten bei Arbeit, Lebensplanung und Integration haben.
Schließlich sieht § 25b Abs. 8 AufenthG-E vor, dass eine Aufenthaltsgewährung bei nachhaltiger Integration an Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG haben, nur erteilt werden soll, wenn die Identität i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG geklärt ist. Auch wenn dies der Gesetzesbegründung zufolge eine Regelerteilungsvoraussetzung für den Übergang von § 104c AufenthG-E in ein Bleiberecht[7] sein soll, erschließt sich den Kirchen nicht, wieso diese Schlechterstellung gegenüber anderen Antragstellenden, die nicht aus dem Chancen-Aufenthalt kommen, vorgesehen ist. So „soll“ an Antragstellende mit Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG-E grundsätzlich kein Bleiberecht nach § 25b AufenthG erteilt werden, wenn deren Identität ungeklärt ist (§ 25b Abs. 8 S. 1 AufenthG-E). In Fällen in denen der Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG-E die erforderlichen und ihm zumutbaren Maßnahmen zur Identitätsklärung ergriffen hat, kann gemäß § 25b Abs. 8 S. 2 AufenthG-E ein Aufenthaltstitel nach § 25b Abs. 1 AufenthG erteilt werden. Demgegenüber kann bei Inhabern von Aufenthaltstiteln aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen nach § 22 ff. AufenthG bei einem Antrag auf § 25b AufenthG gemäß § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG ohne weitere Voraussetzungen von der Identitätsklärung abgesehen werden. Die Kirchen möchten darauf hinweisen, dass der eingeschränkte Ermessenspielraum in § 25b Abs. 8 S. 2 AufenthG-E nicht notwendig ist, da die Regelung des § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG geeignet ist, auch im Rahmen der Erteilung des § 25b AufenthG adäquat mit Fällen einer ungeklärten Identität umzugehen. Eine Sonderregelung für Inhaber des Chancen-Aufenthaltsrechtes nach § 104c AufenthG-E sollte nicht etabliert werden. § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG erfasst gerade solche Fälle, in denen eine Person alle erforderlichen und zumutbaren Schritte zur Identitätsklärung unternommen hat und ihr deswegen die nach wie vor ungeklärte Identität nicht angelastet werden sollte. Häufig betrifft dies Konstellationen, in denen die Identitätsklärung an den Behörden oder Botschaften des Herkunftslands scheitert. Es widerspräche dem Ziel der Regelung, Kettenduldungen zu beenden, diese Personengruppe von der Möglichkeit einer Aufenthaltsverfestigung über § 25b AufenthG auszuschließen.
An dieser Stelle möchten die Kirchen die Einführung der alternativen eidesstattlichen Versicherung anregen. Diese erscheint hier sinnvoll, wenn die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen für eine Identitätsklärung geleistet wurden.
- § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 und § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG-E – Ehegatten- und Kindernachzug
In den Regelungen zum Ehegatten- und Kindernachzug werden mit § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 5 AufenthG-E und § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG-E Erleichterungen für den Familiennachzug zu Ausländern vorgesehen, die eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 18a, 18b Abs. 1, 18d, 18f, oder 19c Abs. 2 i.V.m. § 6 BeschV innehaben. Die Erleichterung gilt damit lediglich für Fachkräfte und ermöglicht den Nachzug von Familienangehörigen ohne einfache Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Kirchen fordern seit langem, die Sprachanforderungen im Rahmen der Familienzusammenführung aufzugeben[8] und begrüßen die nun vorgesehene Regelung daher grundsätzlich. Allerdings ist nicht nachvollziehbar, wieso lediglich eine begrenzte Personengruppe davon erfasst sein soll.
Diese Bestimmung lässt die humanitäre Dimension der Familienzusammenführung außer Betracht und vernachlässigt die Situation der betroffenen Familienangehörigen, die häufig aufgrund der Situation im Herkunfts- oder Aufnahmeland die deutsche Sprache kaum oder gar nicht vor ihrer Einreise nach Deutschland erlernen können. So ist es in vielen Ländern nur sehr schwer möglich, eine im Visaverfahren anerkannte Deutschprüfung abzulegen oder die dafür notwendigen Kurse werden lediglich in der Hauptstadt angeboten, so dass neben der Reise und den Kosten für den Spracherwerb auch eine Unterkunft für längere Zeit finanziert werden muss, während der der eigentlichen Erwerbstätigkeit nicht nachgegangen werden kann.
Schließlich geben die Kirchen zu bedenken, dass die nun vorgesehene Regelung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen könnte, da eine vergleichbare Erleichterung in § 28 Abs. 1 S. 5 AufenthG nicht vorgesehen ist.
- § 44 Abs. 4 Nr. 1b) und Nr. 3 AufenthG-E – Berechtigung zur Teilnahme an einem Integrationskurs und § 45a Abs. 2 S. 3 Nr. 2 AufenthG-E – Berufsbezogene Deutschsprachförderung
Mit den Änderungen von § 44 Abs. 4 Nr. 1b) AufenthG-E und § 45a Abs. 2 S. 3 Nr. 2 AufenthG-E wird der potenzielle Teilnehmerkreis an Integrationskursen bzw. berufsbezogener Deutschsprachförderung erweitert, da zunächst auch die Inhaber einer Aufenthaltsgestattung, die ab dem 1. August 2019 eingereist sind, davon profitieren können.
Besonders hervorzuheben ist außerdem, dass nun Asylbewerbern aus sicheren Herkunftsländern der Zugang zu Integrationskursen und zu berufsbezogener Deutschsprachförderung eröffnet wird, wenn auch für die Integrationskurse nicht als Anspruchsregelung. Die Kirchen haben schon in der Vergangenheit die Schlechterstellung von Antragstellenden aus sicheren Herkunftsländern kritisiert, da jeder Asylantrag unvoreingenommen geprüft werden muss, die statistische Häufigkeit der Zuerkennung eines Schutzstatus über das Verfahren eines jeden Einzelnen wenig aussagt und die Betroffenen von den Fähigkeiten, die sie hier erwerben, auch dann profitieren können, wenn sie keinen Schutzstatus erhalten und wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen.[9] Die Regelung, dass Asylantragstellende aus sicheren Herkunftsländern nicht an Integrationskursen oder berufsbezogener Deutschsprachförderung teilnehmen dürfen, ist aus Sicht der Kirchen vor dem Hintergrund einer wünschenswerten Gleichbehandlung von Schutzsuchenden problematisch. Die Kirchen begrüßen daher die nun getroffene grundsätzliche Entscheidung, dass auch Personen aus sicheren Herkunftsstaaten grundlegende Integrationsmöglichkeiten haben sollen. Es bleibt abzuwarten, ob die Gesetzesänderungen den gewünschten Erfolg erzielen, da in § 44 Abs. 4 S. 3 AufenthG bzw. im § 45a Abs. 2 S. 3 AufenthG weiterhin zu lesen ist: „Bei einem Asylbewerber, der aus einem sicheren Herkunftsstaat nach § 29a des Asylgesetzes stammt, wird vermutet, dass ein rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt nicht zu erwarten ist.“ Dies konterkariert nach kirchlicher Auffassung, die geplante Änderung zugunsten von Asylantragstellenden aus sicheren Herkunftsstaaten.
- § 53 Abs. 3a AufenthG-E – Ausweisung
Mit der Neufassung des § 53 Abs. 3a AufenthG-E sollen die Möglichkeiten der Ausweisung von Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Geschützen angeglichen werden. Nunmehr darf eine Ausweisung nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung erfolgen. Durch die Änderung sollen die in Art. 24 Abs. 1 und 2 QLR aufgeführten Gründe, die der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegenstehen als einheitliche Ausweisungsgründe für Asylberechtigte, Flüchtlinge und subsidiär Geschützte geregelt werden.[10]
Die beiden Kirchen geben zu bedenken, dass die vorgesehene Rechtsänderung zu Rechtsunsicherheit führen könnte, da nicht deutlich wird, welche Sachverhalte der Gesetzgeber als zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung verstanden wissen möchte. Die Gesetzesbegründung verweist für die Definition des Begriffs der öffentlichen Ordnung auf das Urteil des EuGH vom 24. Juni 2015, C-373/13, wonach „[…] außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, darüber hinaus eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“[11] Die Gesetzesbegründung stellt fest, dass Voraussetzung hierfür sei, dass die drohende Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung Rechtsgüter von hohem Gewicht berühre.[12] Rechtsgüter von hohem Gewicht könnten bei Fällen von mittlerer und schwerer Kriminalität betroffen sein. Es bleibt damit unklar, welche Straftaten der Gesetzgeber im Blick hat und die Norm ist zu unbestimmt.
Schließlich soll durch den Wegfall der Verknüpfung der Gefahr mit der konkreten Person in § 53 Abs. 3a AufenthG-E künftig auch die generalpräventive Ausweisung von Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ermöglicht werden. Die Gesetzesbegründung verweist hier auf ein Urteil des BVerwG[13], in dem das Gericht feststellt, dass generalpräventive Gründe ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG darstellen können. Der Referentenentwurf führt dazu lediglich aus, dass diese Vorgabe im Sinn der Konsistenz der Rechtsordnung auch in § 53 Abs. 3a AufenthG zu gelten habe.[14] Die besondere Situation, in der sich Asylberechtigte, anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte befinden, wird allerdings nicht erwähnt und war nicht Bestandteil des dem zitierten Urteil zugrunde liegenden Sachverhalts. Vor dem Hintergrund des auch weiterhin bestehenden Schutzbedarfs dieser Personengruppe erscheint eine generalpräventive Ausweisung insbesondere mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht angemessen. Es entsteht vielmehr der Eindruck, die Ausweisung werde in diesen Fällen als weitere Strafe ausgesprochen, da von vornherein klar ist, dass eine Abschiebung nicht stattfinden kann.
- § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG-E – Abschiebungshaft:
Mit § 62 Abs. 3 S. 4 AufenthG-E soll die in Art. 15 Abs. 5 Rückführungsrichtlinie mögliche Höchstfrist der Abschiebungshaft auf Personen ausgedehnt werden, bei denen ein Fall des § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1a, 1b oder Abs. 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG vorliegt. Ein Fall des § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG ist gegeben, wenn eine Person wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist, wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist oder als Täter oder Teilnehmer den Tatbestand des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG verwirklicht oder dies versucht. Die Gesetzesbegründung führt hierzu aus, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dieser maßvollen Ausweitung der Abschiebungshaft weiterhin gewahrt sei.[15] Die Kirchen weisen allerdings erneut darauf hin,[16] dass die Abschiebungshaft lediglich der Sicherstellung der Abschiebung dient, keine Strafe für zuvor begangenes Unrecht beinhalten darf und Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nur aus „besonders wichtigen Gründen“ eingeschränkt werden darf.[17]
Aufgrund der Bandbreite der von § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG erfassten Delikte, erscheint die in der Gesetzesbegründung behauptete Verhältnismäßigkeit fragwürdig. § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG sieht beispielsweise keine Mindeststrafe für einen sehr weiten Straftatbestand (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG) vor, der neben dem Handel mit Betäubungsmitteln auch den Erwerb zum Eigenbedarf und die Beihilfe dazu unter Strafe stellt.
- § 104c AufenthG-E – Chancen-Aufenthaltsrecht
In der Vergangenheit haben die Kirchen bereits mehrfach auf die schwierige Situation von Personen hingewiesen, die sich seit Jahren mit einer Duldung in Deutschland aufhalten. Die bereits existierenden Regelungen zur Aufenthaltsverfestigung nach § 25b AufenthG scheitern häufig daran, dass Arbeitgeber davor zurückschrecken, Personen mit einem ungeklärten Aufenthalt einzustellen und so der nach § 25b Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG erforderliche Nachweis des überwiegend durch Erwerbstätigkeit gesicherten Lebensunterhalts nicht möglich ist. Die nun mit § 104c AufenthG-E angestrebte Möglichkeit eines befristeten Aufenthaltsrechts für ein Jahr, in dem die Voraussetzungen für eine Aufenthaltsverfestigung erbracht werden können, begrüßen die Kirchen daher ausdrücklich.
Die Ausgestaltung des sog. Chancen-Aufenthaltsrechts wirft aus Sicht der Kirchen allerdings einige Fragen auf. So greift der Ausschlussgrund des § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG-E, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels bereits ausscheidet, wenn der Betroffene wegen einer vorsätzlich begangen Straftat zu einer Geldstrafe von mehr als 50 Tagessätzen verurteilt wurde. Dies scheint mit Blick auf die bisherige Lebenssituation der von der Regelung potenziell Begünstigten ein Ausschlussgrund zu sein, der recht schnell erfüllt sein kann. Denn gerade bei Personen, die sich seit Jahren geduldet in Deutschland aufhalten und in Gemeinschaftsunterkünften leben, ist die Gefahr groß, dass sie aufgrund ihrer prekären Lebenssituation wegen Schwarzfahrens oder ähnlicher Bagatelldelikte verurteilt wurden.
Auch die in § 104c Abs. 1 S. 2 und S. 3 AufenthG-E vorgesehene Regelung, wonach eine Verlängerung des Aufenthaltstitels nur nach § 25b AufenthG möglich ist und der Antrag auf Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG entfaltet, scheint den Kirchen zu eng gefasst und den vielen denkbaren Einzelfällen nicht gerecht zu werden. So ist nicht ersichtlich, wieso Betroffenen, die während der Zeit des Chancen-Aufenthalts erfolgreich eine Ausbildung abgeschlossen haben, nicht eine Aufenthaltserlaubnis nach § 18a AufenthG für Fachkräfte mit Berufsausbildung erteilt werden kann. Wenigstens sollte ein Übergang zu § 25a AufenthG vorgesehen werden. Auch das Entfallen der Fiktionswirkung kann in Fällen, in denen Betroffene während ihres Chancen-Aufenthaltsrechts einen Deutschen oder einen Ausländer mit gesichertem Aufenthalt heiraten oder Vater bzw. Mutter eines deutschen Kindes werden, zu erheblichen Schwierigkeiten führen.
Schließlich erscheint der Ausschluss von der Erteilung eines Chancen-Aufenthaltsrechts nach § 104 Abs. 3 AufenthG-E für die Mitglieder der Kernfamilie eines Ausländers, der eine Straftat im Sinn des § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG-E begangen hat, nicht verhältnismäßig zu sein. In der Gesetzesbegründung wird dabei auf den Grundsatz hingewiesen, „dass das minderjährige Kind das aufenthaltsrechtliche Schicksal der Eltern teilt.“[18] Damit werden jedoch alle anderen möglichen Konstellationen von betroffenen Kernfamilien außer Acht gelassen. Es ist nicht angemessen, erwachsene Kinder, die aufgrund der finanziellen und aufenthaltsrechtlichen Situation gezwungen sind, mit ihren straffällig gewordenen Eltern zusammenzuleben, die Möglichkeit eines eigenständigen Aufenthaltsrechts zu verwehren. Gleiches gilt für die Eltern von erwachsenen, straffällig gewordenen Kindern. Die Kirchen weisen darauf hin, dass eine solche Regelung, die alle Mitglieder einer Familie für das Fehlverhalten eines Einzelnen haftbar macht, den Grundsatz des Schuldstrafrechts aushebelt. § 104 Abs. 3 AufenthG-E sollte deshalb gestrichen werden. Wenigstens sollten Ausnahmen für erwachsene Mitglieder einer Kernfamilie vorgesehen werden.
Schließlich weisen die Kirchen darauf hin, dass nach § 104c Abs. 1 AufenthG-E von der Identitätsklärung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) abgesehen wird, ebenso wie von der Lebensunterhaltssicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Es fehlt jedoch die Ausnahme von der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG; ein entsprechender Verweis muss in § 104c Abs. 1 AufenthG‑E ergänzt werden. Anderenfalls würde das Chancen-Aufenthaltsrecht leerlaufen, da sich Schwierigkeiten bei der Identitätsklärung und Probleme bei der Passbeschaffung in der Praxis oftmals bedingen und ein Passerfordernis viele potenziell Berechtigte vom Chancen-Aufenthalt ausschließen würde.
Änderungen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes
Die Kirchen begrüßen die Entfristung der §§ 16d Abs. 4 Nr. 2, 17 Abs. 1 und 20 Abs. 1 AufenthG. Die entfristeten Normen stehen für einen flexiblen Zugang für Ausländerinnen und Ausländer zum Arbeitsmarkt, indem sie Aufenthaltstitel für Übergangszeiten wie die Arbeitsplatzsuche oder die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse schaffen und so sicherstellen, dass für die Betroffenen der Einstieg in den Arbeitsmarkt und die Integration in Deutschland erleichtert wird.
Berlin, den 17. Juni 2022
Fußnoten
[1] Vgl. Koalitionsvertrag, S. 110.
[2] Referentenentwurf, S. 13.
[3] Siehe dazu unten unter § 53 Abs. 3a AufenthG-E.
[4] Referentenentwurf, S. 13 f.
[5] EuGH, Urteil v. 24.6.2015, C-373/13, Rn 95 ff. (abrufbar bei juris).
[6] Referentenentwurf, S. 14.
[7] Referentenentwurf, S. 15.
[9] Vgl. Gemeinsame Stellungnahme zum Gesetz zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreich Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten vom 23. Mai 2016, https://www.ekd.de/26121.htm; Gemeinsame Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes vom 4. April 2014, https://www.kath-buero.de/files/Kath_theme/Stellungnahmen/2014/Stellungnahme%20der%20Kirchen-AsylVfG%20zweite%20Fassung-2014-04-04.pdf.
[10] Referentenentwurf, S. 17.
[11] EuGH, Urteil v. 24.6.2015, C 373/13, Rn. 79 (abrufbar bei juris).
[12] Referentenentwurf, S. 17.
[13] BVerwG, Urteil v. 12.7.2018, 1 C 16.17.
[14] Referentenentwurf, S. 17.
[15] Referentenentwurf, S. 18.
[16] Vgl. Gemeinsame Stellungnahme zur Einführung § 62c zum Aufenthaltsgesetz vom 16. Juli 2020, https://www.ekd.de/gemeinsame-stellungnahme-des-bevollmaechtigten-aufenthaltsgesetz-59064.htm.
[17] BVerfGE 22, 180 (219).
[18] Referentenentwurf, S. 19.
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