Predigt im Ordinationsgottesdienst in Lehnin (Hebräer 10, 23-25)

Wolfgang Huber

„Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander acht haben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“

(Hebräer 10, 23-25)


Liebe Ordinandinnen und Ordinanden, liebe Gemeinde!

I.

Der 2. Dezember 1928 war ein Sonntag wie heute. Wie heute wurde auch damals am 2. Dezember der Erste Advent gefeiert. In Barcelona bestieg der gerade 22jährige Dietrich Bonhoeffer die Kanzel der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde. Sein Vikariatsmentor war verhindert; denn er hätte sich sonst die Predigt sicher nicht nehmen lassen. Aber er war nicht zur Stelle; und darüber freute sich Bonhoeffer sehr. So konnte er predigen.

Er folgte einem eigenwilligen Brauch, den er sich in der Zeit seines Vikariats zurechtgelegt hatte. Er pflegte sich seine Predigttexte selber zu wählen, Kurz und einprägsam mussten sie sein. Von langen und unübersichtlichen Predigttexten hielt der junge Dietrich Bonhoeffer nicht viel. Als er später Leiter des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Finkenwalde geworden war, dachte er durchaus anders darüber und suchte, den Sinn seiner Kandidaten für die kirchlich vorgeschriebene Ordnung der Predigttexte zu wecken und zu gewinnen. Aber als Vikar schöpfte er die Freiheit aus, die er zu haben glaube. So konzentrierte er sich in seiner Predigt zum 1. Advent ganz und gar auf einen einzigen Satz aus der Offenbarung des Johannes (3,20): „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“

Wie stellt man sich auf den ein, der vor der Tür steht? Von ihm allein hängt es ab, wann er eintritt. Man spürt nur: Er ist nahe. Angespannte Erwartung ist die allein angemessene Reaktion.

Der junge – ja, man möchte sagen: blutjunge – Dietrich Bonhoeffer hat das auf seine Weise zur Sprache gebracht. Unverblümt und ohne einschränkende Bedingungen erklärt er: „Advent feiern heißt warten können.“ Und mit Sätzen, die auch heute, mehr als siebzig Jahre später, formuliert sein könnten, fügt er hinzu: „“Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprössling setzte, Aber die gierigen Augen werden nur allzu oft betrogen, indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün ist. Und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was ihnen so Enttäuschung brachte. Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.“

Ihr seht, dass sich der Tag naht. So sagt es der Hebräerbrief. Die Wiederkunft Christi, auf die er verweist, deutet die christliche Tradition in eigenwilliger Weise um auf das Kommen des Kindes in der Krippe, auf die wir uns jedes Jahr in der Adventszeit einzustellen versuchen. Advent feiern heißt warten können.

Heute freilich ist noch ein anderes Warten im Spiel. Auch der Weg in das Pfarramt unserer Kirche hat es in diesen Zeiten mit dem Warten zu tun. Der Weg in den Entsendungsdienst, der mit dieser Ordination an ein feierliches Ziel kommt, hat oft an Haltestellen des Wartens geführt. Schon die Ausbildungsstrecken waren oft lang genug; aber das Umsteigen vom Studium ins Vikariat und vom Vikariat in den Pfarrdienst war noch einmal mit besonderen Aufenthalten und Ungewissheiten verbunden.

Umso wichtiger ist es, dass wir an diesem Tag deutlich sagen – und dass es auch von der nachwachsenden Generation der Theologinnen und Theologen deutlich gehört wird: Unsere Kirche braucht den Dienst derer, die heute zur öffentlichen Verkündigung des Evangeliums und zur Verwaltung der Sakramente ordiniert werden. Das Zeugnis unserer Kirche ist angewiesen auf die hinzukommenden Generationen von Pfarrerinnen und Pfarrern, die in diesen Dienst eintreten. Dunkle Einschätzungen über die abnehmende Zahl von Pfarrstellen in einer Kirche, die von ihrer Altersstruktur her noch immer mit einem Rückgang der Zahl der Gemeindeglieder rechnen muss, ändern nichts daran: Der Dienst von Pfarrerinnen und Pfarrern wird gebraucht; und wir hören nicht auf, um den Dienst junger Theologinnen und Theologen zu werben und sie in diesen Dienst zu berufen.

II.

Aber dass dieser Weg auch von Zweifel gesäumt ist, wer wollte das denen verdenken, die auch so manchen Aufenthalt und manches Warten auf sich genommen haben? Wie wollen wir dann antworten auf die machtvolle Aufforderung: „Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat“? Wie soll uns der Übergang gelingen aus den Mühen der Ebene, durch die uns unser Weg geführt hat, auf den Berg der Hoffnung? Der Anstieg erscheint zu steil.

Auf den Berg der Hoffnung gelangen wir nicht, weil wir uns den Anstieg zutrauen. Wir gelangen nur dorthin, wenn Gott den Weg ebnet. Der Schlüssel zu der Tür, durch die wir zur Hoffnung Zugang finden, liegt nicht in unserer Hand. Auch wir können nicht anders, als darum zu bitten – so wie schon die alttestamentliche Gemeinde darum bat, ja danach schrie: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht!“ Dass wir in unserem Dienst als Pfarrerinnen und Pfarrer dem persönlichen Gebet Raum geben und uns selbst das Wort der Heiligen Schrift zusprechen lassen – das ist das Allerwichtigsten, was ich Euch, den Ordinandinnen und Ordinanden, an diesem Tag zurufe und einschärfe. Euch, den Botinnen und Boten, gilt selbst die Botschaft von Gottes Gnade. Gebt ihr Raum in eurem persönlichen Leben.

Denn wir haben die Kraft nicht in den Beinen, um den Aufstieg zum Berg der Hoffnung zu schaffen. Wir haben nicht den Schlüssel für die Tür in Händen, die uns den Zugang zur Hoffnung versperrt. Die Tür öffnet sich nur, wenn sie auf der anderen Seite aufgeschlossen wird. Der Weg wird nur begehbar, wenn uns einer von der anderen Seite her entgegenkommt. Ändern kann sich nur etwas, weil der Bürge der Hoffnung sich zu uns auf den Weg macht. Gott selber öffnet die Tür. Er selber ebnet den Weg zum Berg der Hoffnung. Das Licht der Hoffnung kommt uns entgegen. Deshalb feiern wir Advent. Wir wissen, dass sich die Zeit naht.

Diese Bewegung ist das Thema des Briefs, den ein unbekannter Autor in der Zeit der frühen Christenheit an die „Hebräer“ schrieb. Hoffnung ist sein großes Thema. Alle Erinnerung, aller Rückgriff in die Vergangenheit tritt in den Dienst dieses Themas. Von einer „Wolke von Zeugen“ spricht er. Gemeint sind damit Zeugen der Hoffnung. Bewusst werden in diese Wolke der Zeugen die Glieder des Volkes Israel, des von Gott auserwählten Volkes einbezogen. Daran hält der Hebräerbrief fest, schärft aber zugleich ein, dass der alte Bund Gottes mit seinem Volk Israel durch Christus und seinen Tod am Kreuz geöffnet, erneuert und für uns alle in Kraft gesetzt ist. Zwei Merkmale dieses erneuerten Hoffnungsweges werden durch den Brief an die Hebräer besonders hervorgehoben. Ich will sie so beschreiben: Haltet ohne Wanken am Bekenntnis der Hoffnung fest. Und: Achtet aufeinander; bewahrt die Gemeinschaft, die euch miteinander verbindet.

III.

Haltet ohne Wanken am Bekenntnis der Hoffnung fest. Das könnte konservativ, ja reaktionär klingen. Doch hier ist nicht irgendein Bekenntnis gemeint, an dem ohne Rücksicht auf seinen Inhalt festgehalten werden soll. Sondern das Bekenntnis der Hoffnung ist gemeint. An ihm muss sich ausrichten, wer auf seinem Weg klare Orientierung haben will. Wer auf hoher See segelt, beweist nicht dadurch besonderen Mut, dass er ohne Orientierung segelt. Sondern je stärker er am Wind segeln will, desto klarer muss sein Kurs sein. Auch wir Christen brauchen klaren Kurs, wenn wir unterwegs bleiben wollen.

Aufs neue fragen wir heute nach dem Respekt vor Gottes Schöpfung. Wir streiten darüber, ob wir die anfänglichen Stufen menschlichen Lebens unter die Verfügungsgewalt menschlichen Forschungsstrebens bringen wollen und bringen dürfen. Der Streit um die Forschung mit embryonalen Stammzellen hat das gerade in diesen Tagen wieder gezeigt. Da ist es gut, wenn wir mitten in den Fortschritten menschlichen Forschens das Bekenntnis erneuern: „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.“

Wir sind ratlos über die Bosheit des menschlichen Herzens. Noch immer sind wir erschüttert über die zerstörerischen Antriebe, die in den Ereignissen des 11. September ans Licht gekommen sind. Aber ratlos macht es uns auch, wenn auf diese Untaten nicht anders geantwortet wird als mit den Mitteln der Gewalt. Ein Teufelskreis entsteht, der kaum einen Ausweg lässt. Das Bekenntnis des Glaubens sagt: Am Menschen braucht nicht irre zu werden, der sein Urbild kennt. Auch angesichts von Bosheit und Schuld wissen wir noch, wie der Mensch gemeint ist. Das Urbild ist Jesus Christus, der als Kind in die Welt kam, der leiden musste, am Kreuz starb und von den Toten auferweckt wurde. Von ihm geht eine Liebe aus, die die Welt verwandelt. Auch in der Ratlosigkeit über Gewalt und Gegengewalt bekennen wir deshalb. „Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unseren Herrn.“

Religion wird in dieser Auseinandersetzung in Anspruch genommen – auf der einen wie auf der anderen Seite. Das Stimmengewirr um uns her macht uns ratlos. Das Bekenntnis des Glaubens sagt: Vergesst den heiligen Geist nicht. Er hilft, die Geister zu unterscheiden. Er wehrt dem Missbrauch des Gottesnamens. Aber er zeigt auch, wo Gott auf euch wartet; er stiftet Gemeinschaft. „Ich glaube an den heiligen Geist, die heilige christliche Kirche.“

IV.

Pfarrerinnen und Pfarrer sind Anwälte für die klärende Kraft des Bekenntnisses. Es ist immer ein Bekenntnis der Hoffnung. Und sie sind Fürsprecher der Gemeinschaft. Sie suchen, was Menschen zusammenbringt und beieinanderhält. Sie helfen dazu, dass wir in einer Kultur der Achtsamkeit miteinander umgehen. „Lasst uns aufeinander Acht haben“ sagt der Hebräerbrief. Achtsamkeit füreinander, weil Gott auf uns achtet: das könnte ein Grundton für die Adventszeit sein – und weit darüber hinaus. Achtsamkeit füreinander – das könnte auch der Grundton sein, mit dem wir über den offenen Anfang des menschlichen Lebens reden – bis hin zu den schwierigen Fragen dieser Tage – und auch über sein Ende. Achtsamkeit füreinander – das ist ein besonders kostbarer Zug am Beruf der Pfarrerinnen und der Pfarrer. Er soll Euer Verhältnis zu Euren Gemeinden prägen. Er soll sich aber auch im geschwisterlichen Umgang untereinander zeigen – in der wechselseitigen Tröstung von Schwestern und Brüdern, wie die alte kirchliche Sprache so richtig sagt.

Aber nicht nur für Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern für uns alle steht dieser Tag unter dem Zeichen der Hoffnung. Hoffnung prägt auch den gemeinsamen Weg der Kirchen in dieser Zeit. Dass Kardinal Sterzinsky dieser Ordination durch seine Anwesenheit eine besondere ökumenische Prägung gibt, erfüllt mich mit Dankbarkeit. In der großen Gemeinschaft der Christenheit wollen wir miteinander auf dem Weg bleiben und festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung. In dieser Gemeinschaft wollen wir aufeinander Acht haben. Denn wir sehen, dass sich der Tag naht. Amen.