Rede zur Demonstration in Wittstock

Wolfgang Huber

Wittstock

Es ist ein ermutigendes Zeichen, dass wir uns hier in Wittstock versammelt haben – ein gutes Zeichen für Wittstock, für die Ostprignitz, für unser Land. Menschen machen sich auf den Weg, zeigen ihr Gesicht, finden sich nicht ab. Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund – Christen, Humanisten – treten ein für die gleiche Würde jedes Menschen. Ja, wir finden uns nicht damit ab, wenn junge Leute Fremde verachten oder anderen Jugendlichen mit SS-Runen das Gesicht beschmieren, wie es in diesen Tagen wieder in einer brandenburgischen Stadt geschah. Auf diesem Platz stehen wir für die vielen Menschen, die sich damit nicht abfinden – in Wittstock so wenig wie an irgendeinem andern Ort in Brandenburg. Und wir mahnen die Eltern, dass sie nicht schweigend zuschauen und erst dann unruhig werden, wenn ihre Kinder mit der Polizei aneinandergeraten. Nein, wir selber, wir alle müssen hinschauen, statt wegzuschauen, eingreifen, statt die Hände in den Schoß zu legen. Wir müssen selbst für die demokratische Kultur in unserem Land kämpfen. Es reicht nicht, wenn wir von ihr nur profitieren wollen.

Deshalb ist dieser Nachmittag – das Friedensgebet, der Weg hierher zum Amtshof und diese Kundgebung – ein wichtiges Signal. Der Zeitpunkt ist richtig gewählt. Übermorgen ist der Tag der Menschenrechte. Denn am 10. Dezember 1948, vor 53 Jahren, verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. An diesen Tag der Menschenrechte knüpfen wir an. Hier in Wittstock demonstrieren wir  für die Geltung der Menschenrechte in unserem Land.

Immer wieder stoßen wir bei uns in Brandenburg auf Beispiele für fremdenfeindliche Gewalt, für gewalttätige Intoleranz. Das Beispiel von Manuel Guskowsky und Daniel Albrecht, das wir vorhin gehört haben, steht nicht allein. Der fünfzehnjährige Schüler in Sperenberg, der am vergangenen Mittwoch von Mitschülern an einen Laternenpfahl gefesselt, gewürgt und im Gesicht mit SS-Runen beschmiert wurde, ist das jüngste Beispiel für eine Kette von entwürdigenden Gewalttaten, in denen sich eine niederträchtige Gesinnung ausdrückt. Die Kette solcher Taten reißt noch immer nicht ab, auch wenn ihre Zahl im vergangenen Jahr zurückgegangen ist. Einen wirklichen Durchbruch zum Besseren gibt es noch immer nicht. Er lässt sich nur erreichen, wenn alle Menschen guten Willens zusammenstehen und zusammenwirken, wenn Staat und gesellschaftliche Kräfte an einem Strang ziehen, wenn Kirchen und andere Verbände die Menschenrechte nicht nur am 10. Dezember, sondern im ganzen Jahr zu ihrer Sache machen. Das Brandenburger Aktionsbündnis gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, in dem auch unsere Kirche mitarbeitet, ist einer der Kristallisationspunkte für dieses gemeinsame Wirken. Aber wir brauchen solche Bündnisse auch vor Ort. Denn noch immer bestimmen gewalttätige und neonazistische Untaten in vielen brandenburgischen Orten das Lebensgefühl und die Alltagswirklichkeit. „Angsträume“ bilden sich, in die andere sich nicht mehr trauen. Wir können das nicht hinnehmen, auch in Wittstock nicht. Auch Wittstock braucht ein Aktionsbündnis. Der heutige Tag kann nur ein Beginn sein. Tragen Sie alle dazu bei, dass die Schönheit von Wittstock sich auch darin spiegelt, wie die Menschen hier miteinander umgehen – nämlich im Geist der Freiheit, des Respekts füreinander, im Geist menschlicher Toleranz und Solidarität.

Menschenrechte sind in Deutschland und natürlich auch in Brandenburg durch die Verfassung gewährleistet. Aber wir können ihre Wirksamkeit nicht einfach voraussetzen. Sie müssen vielmehr täglich neu bewährt und in ihrer Geltung immer wieder erstritten werden. Ein entscheidender Prüfstein ist und bleibt unser Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden. Prüfstein bleibt auch unser tolerantes und gesprächsbereites Verhältnis zu Menschen islamischen Glaubens.

Wir alle sind in diesen Tagen bedrückt und ratlos angesichts der terroristischen Gewalt und des Krieges in Afghanistan. Nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA ist auch in unserem Land vieles anders geworden: Die Politik steht vor der Aufgabe, zu sichern und zu bewahren, was den Wert eines freiheitlichen und zivilen Gemeinwesens ausmacht. Wir können auch in dieser Situation nicht zulassen, dass nur noch in den Maßstäben militärischer Gewalt und wirtschaftlicher Macht gedacht wird. Denn dann würden wir verlieren, was den Wert unseres Zusammenlebens ausmacht: das menschliche Gesicht, das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, der Schutz der Freiheit – und all das nicht nur für Menschen mit deutschen Pass, sondern genauso für die, die mit anderen Ausweispapieren zu uns kommen und hoffentlich Heimat finden.

Die terroristischen Verbrechen des 11. September haben uns schockiert. Das Ausmaß militärischer Gegengewalt seitdem macht viele von uns unruhig und ratlos. Gerade jetzt dürfen nicht populistische Parolen das gesellschaftliche und politische Klima vergiften. Es ist unter unserer Würde, auf den Terror mit gleicher Münze zu reagieren. Es führt in die Irre, wenn wir auf die islamistischen Untaten mit einer pauschalen Ablehnung aller Muslime antworten. Selbstkritisch müssen wir zugehen: Manchmal ist auch bei uns der Firnis von Zivilisation, Menschenrechten und Gewaltverzicht sehr dünn. Die alltägliche Gewalt von rechtsextremen Jugendlichen ist ein Beispiel dafür. Wir können nicht hochmütig die Zivilisation nur für uns in Anspruch nehmen und andere davon ausschließen. Miteinander müssen wir uns darum bemühen, dass sie für uns alle gemeinsam gilt – unabhängig von Staatsangehörigkeit oder politischer Einstellung. Wir wollen zivilisiert miteinander umgehen. Wir beteiligen uns nicht an einem Kampf der Kulturen, wir kämpfen miteinander um Kultur. Sie zeigt sich in nichts dringlicher als im toleranten Umgang miteinander. Zu dieser Kultur gehört auch, dass wir Gewalt und Kriminalität energisch entgegentreten – egal von wem sie verübt werden, unabhängig von dem Pass der Täter.

Denn Gewalt und Verbrechen lassen sich durch nichts rechtfertigen, durch keinen Glauben an Gott, weder im Islam noch im Christentum, durch keine atheistische Auffassung, gerade auch wenn sie allein den Menschen als „höchstes Wesen“ anerkennt. Jede Religion und jede Weltanschauung ist schon zu Fanatismus entartet oder zu extremistischer Verführung missbraucht worden. Die kritische Auseinandersetzung damit ist nötig; Verharmlosung ist fehl am Platze. Doch solchen Missbrauch darf man nicht mit der entsprechenden Religion oder Weltanschauung im Ganzen gleichsetzen. Das gilt auch heute, es gilt auch für den Islam.  Verteufelung hilft uns nicht. Wir sind auf den Dialog angewiesen, wenn wir den Missbrauch an der Wurzel bekämpfen wollen.


Wir dürfen nicht aufgeben und resignieren. Unser Reden über Toleranz ist nur ein Anfang. Mitmenschlichkeit muss jeden Tag neu errungen werden. Im praktischen Handeln müssen wir zeigen, dass jeder Mensch seine  Würde behält. Sie ist nicht abhängig von wirtschaftlichen ‚Verwertungsmöglichkeiten’, Nationalität, Religion oder Hautfarbe. Nur in unermüdlicher Alltagstapferkeit ist das menschliche Gesicht unseres Landes zu wahren. Deshalb rufe ich Euch zu, liebe Wittstockerinnen und Wittstocker: Gebt nicht auf! Seid achtsam! Bleibt an der Seite der Fremden! Tretet der Gewalt entgegen! Verteidigt das Recht jedes Menschen auf Menschlichkeit!