Geistliches Wort zur Erinnerung an Heinrich Vogel
12. Juni 2002, Berlin Schlachtensee
Ich lese Verse aus dem 116. Psalm:
„Ich liebe den Herrn, denn er hört die Stimme meines Flehens. Er neigte sein Ohr zu mir; darum will ich mein Leben lang ihn anrufen. Stricke des Todes hatten mich umfangen, des Totenreichs Schrecken hatten mich getroffen; ich kam in Jammer und Not. Aber ich rief an den Namen des Herrn: Ach Herr, errette mich! Der Herr ist gnädig und gerecht, und unser Gott ist barmherzig. Der Herr behütet die Unmündigen; wenn ich schwach bin, so hilft er mir. Sei nun wieder zufrieden, meine Seele; denn der Herr tut dir Gutes. Denn du hast meine Seele vom Tode errettet, mein Auge von den Tränen, meinen Fuß vom Gleiten. Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.“
I.
„Gott ist barmherzig“. Das ist die Botschaft des 116. Psalms. Auf eindringliche Weise nimmt er vorweg, was als neutestamentlicher Wochenspruch diese Woche bestimmt: „Christus spricht: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Dass Gott unsere Liebe weckt, weil er unser Flehen hört: das ist die Botschaft der ganzen Bibel, des Alten wie des Neuen Testaments. In Christus bekommt diese Botschaft einen Namen: Gott in Christo.
In der vorletzten Woche hat die Gemeindejugend in einer unserer Berliner Gemeinden dazu eingeladen, in ihrer Kirche eine Woche lang die ganze Bibel zu lesen: die ganze Bibel ohne jede Auslassung, vom ersten bis zum letzten Wort. In den Büchern der Chronik sei es ihnen doch ziemlich lang geworden, so haben mir die Jugendlichen berichtet. Aber einer von ihnen war in diesem langen Weg durch das Alte Testament vor allem eines aufgefallen: dass es „Gott reute“. Natürlich dachte sie vor allem an die dramatische Ankündigung der Sintflut: „Da reute es Gott, dass er den Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“ (1. Mose 6, 6 f.). Dass Gott seine Schöpfergüte bereut und das Werk seiner Hände zurücknimmt, ist tatsächlich einer der rätselvollsten Züge der biblischen Botschaft. Aber in diesem Rätsel spiegelt sich doch nichts anderes als das Rätsel der menschlichen Bosheit, des Missbrauchs menschlicher Freiheit, der Auswirkungen menschlicher Orientierungslosigkeit. In diesem Rätsel kommt doch nichts anderes zum Ausdruck als die Perspektivlosigkeit, die bleibt, wenn Glaube, Liebe, Hoffnung aus dem menschlichen Leben verschwunden sind. Diese Reue Gottes ist seine Antwort auf die menschliche Gewalttat.
Aber die Jugendliche, die sich über Gottes Reue wunderte, hätte auch an eine andere Stelle im Alten Testament denken können, an der Gott das Übel gereut, das über das Volk gekommen ist. Nach dem Bericht des 2. Samuelbuch lässt Gott den David den Tempelplatz finden – aber auf einem schrecklichen Weg, der eine dreitägige Pest über Israel einschließt. Dann aber heißt es: „Als aber der Engel seine Hand ausstreckte über Jerusalem, um es zu verderben, reute den Herrn das Übel, und er sprach zum Engel, der das Verderben anrichtete im Volk: Es ist genug; lass nun deine Hand ab.“ In diesem Reuen Gottes findet das Bekenntnis Davids seine Antwort, das so heißt: „Es ist mir sehr angst, aber lass uns in die Hand des Herrn fallen, denn seine Barmherzigkeit ist groß, ich will nicht in der Menschen Hand fallen.“ (2. Samuel 24, 14-16). Es reute Gott: Seine Barmherzigkeit ist groß. Diese Reue Gottes ist seine Antwort auf das menschliche Elend.
Es reute Gott: Die Wandelbarkeit Gottes schließt nicht nur den Wandel zum Gericht, sondern auch zur Gnade, nicht nur das Urteil der Vernichtung, sondern auch der Rettung ein. Ja, das Gericht Gottes lässt sich nur ertragen, wenn es eine Form seiner Gnade ist, seine vernichtende Macht lässt sich nur aushalten, wenn sie eine Gestalt seiner neu schaffenden Kraft ist. Die Einheit von Altem und Neuem Testament nehmen wir nur wahr, wenn wir Gottes Barmherzigkeit schon im Alten Testament, in der Hebräischen Bibel wahrnehmen. Der Streit darüber ist in der christlichen Ökumene noch immer nicht ausgestanden. Der Konflikt im Nahen Osten gibt nicht nur antisemitischen Stimmungen, sondern auch antijüdischem Denken in christlichen Kirchen neuen Auftrieb. Ich habe das vor wenigen Wochen in Ägypten und im Libanon erlebt. Das Alte Testament, so hielt uns das durchaus bibelkundige Oberhaupt der Koptisch-Orthodoxen Kirche, Papst Shenouda III., entgegen, wisse nichts vom barmherzigen Gott – und wenn, dann nur als eine Verheißung auf Christus hin.
Das Alte Testament, die Hebräische Bibel, weiß etwas von der Barmherzigkeit Gottes. Der 116. Psalm ist dafür ein deutliches Beispiel. Er enthält das Evangelium in sich, die Botschaft von Gottes gnädiger Zuwendung zu uns Menschen. Es ist jene Zuwendung, die das Alte Testament schon umschließt, die aber in Jesus Christus Person wird.
„Gott in Christo“: selten hat ein Theologe ein ganzes theologisches Programm so bündig in den drei Worten eines Buchtitels zusammengefasst. „Gott in Christo“: Heinrich Vogel ist das gelungen. Er hat die Formel geschaffen für die Zentrierung christlicher Theologie auf Christus, die nicht nur eine Generation von Theologen geprägt hat. Das 1951 erschienene Buch mit diesem Titel fasste die Summe der theologischen Erfahrungen zusammen, die sich evangelischer Theologie in der Zeit des Kirchenkampfs aufgenötigt hatte. „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ (1. These der Barmer Theologischen Erklärung). Aber dieser Titel wies zugleich voraus. Auch für die Studierenden der Theologie, die das Buch damals selbst gar nicht lasen – auch ich muss gestehen, dass ich zu ihnen gehörte - , fasste der Titel zusammen, worum es nach unserer tiefen Überzeugung in der Theologie gehen musste: „Gott in Christo“ – „Gott ist barmherzig.“
Inzwischen haben wir den Weg auch in der anderen Richtung zu gehen gelernt – nicht nur von der Weite der alttestamentlichen Verheißung zur Klarheit des Christusbekenntnisses, sondern auch umgekehrt: von der Konzentration auf Christus, den einen Sohn Gottes, zu der Weite, in der schon die Hebräische Bibel die Barmherzigkeit Gottes bezeugt – so wie es im 116. Psalm geschieht. Er ist wirklich eine Christologie avant la lettre, ein Christuszeugnis des Alten Testaments, wie Heinrich Vogel sagte, freilich ein Christuszeugnis ohne den Christusnamen: „Der Herr ist gnädig und gerecht; und unser Gott ist barmherzig. Der Herr behütet die Unmündigen; wenn ich schwach bin, so hilft er mir.“ Deutlicher kann die Gewissheit nicht vorscheinen, die uns im Wochenspruch für diese Woche nach dem zweiten Trinitatissonntag im Mund Jesu begegnet: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
II.
Heinrich Vogel war ein wichtiger Lehrer unserer Kirche, für dessen Lebenszeugnis wir heute danken. Doch in der Geschichte unserer Kirche während des 20. Jahrhunderts hat er nicht nur einen bleibenden Rang und einen unverwechselbaren Platz als Pfarrer und theologischer Lehrer; er bleibt im Gedächtnis nicht nur als streitbarer Synodaler, sondern auch als einfühlsamer Dichter. Vier stattliche Bände umfassen seine „Versuche, Gott zu loben“. Vor der Welle des Neuen Liedes galt er zu Recht als einer der wenigen Kirchenliederdichter des 20. Jahrhunderts, denen der Sprung in das damalige Evangelische Kirchengesangbuch, zumindest in seine Regionalteile gelungen war. Im heutigen Evangelischen Gesangbuch ist er mit einem Lied vertreten, einer Nachdichtung des 116. Psalms.
Der theologische Lehrer, dessen Denken so konsequent um „Gott in Christo“ kreist, hilft der Gemeinde dabei, das Lob des barmherzigen Gottes in der Sprache der Psalmen zu singen. Das ist eine Wohltat für Geist und Seele – gerade in einer Zeit, in der uns manche in Gräben zurückstoßen wollen, die wir längst überbrückt glaubten – auch in neue Gräben im Verhältnis von Kirche und Israel, damit auch im Verhältnis von uns Christen zur Hebräischen Bibel. Heinrich Vogel hat in seinem Leben viele Gräben überbrückt und Mauern überwunden: zwischen akademischer Lehre und pastoraler Praxis, zwischen Gemeinde und Kirchenleitung, zwischen Ost und West – „vielleicht weil der Name eines ‚Vogels’ den Flug über die Mauer ermöglicht“, wie er mit heiterer Ironie sagen konnte. Die Erinnerung an ihn sollte uns dabei helfen, uns heute nicht mehr in überwundene Gräben zurückstoßen oder vor neu errichteten Mauern Halt machen zu lassen.
Wie nahezu alle Psalmen so hat Heinrich Vogel auch den 116. Psalm nachgedichtet, „zur Rühmung nachgesprochen“, wie er sagte. Ganz am Ende seiner Nachdichtungen und damit auf der letzten Seite der zwölfbändigen Ausgabe von Heinrich Vogels Werken sind in seiner eigenen Handschrift die Zeilen wiedergegeben:
„Die abertausend Reime –
Was soll die fromme Mühe?
Ach, Bruder, dass aus einem
Dir Gottes Lob erblühe!“
Vielleicht erblüht auch uns Gottes Lob aus einem dieser Reime, wenn wir nun miteinander das Lied 292 singen.
„Das ist mir lieb, dass du mich hörst
Und dich in Gnaden zu mir kehrst;
Drum will ich all mein Leben lang
Anrufen dich mit Lob und Dank.
Mich banden Höllenangst und Tod,
Ich kam in Jammer und in Not,
Da rief ich deinen Namen, Herr,
Errette mich, Barmherziger.
Lass mich in Einfalt trauen dir,
Wenn ich erliege, hilf du mir!
Ich bin gewiss: Du bist mir gut;
Das gibt mir den getrosten Mut.
Dem Tod entriss mich deine Hand,
Ich lebe, Herr, in deinem Land,
Ich glaube, darum rede ich
Und predige, mein Heiland, dich.
Ich danke dir von Herzensgrund
Und tue deinen Namen kund
Vor allem Volk in der Gemeind,
Die sich zu deinem Lob vereint.“
In Heinrich Vogels Psalmenübertragungen finden sich zu diesem Gedicht noch zwei Strophen, die in unser Gesangbuch nicht aufgenommen worden sind. Mit diesen beiden Strophen will ich schließen:
„Ach, Menschen lügen allzumal,
Du tust mir Wunder ohne Zahl,
Den Kelch des Heils ergreife ich
Und predige, mein Heiland, Dich.
Ja, Deiner Kinder Not und Tod
Ist vor Dir wertgehalten, Gott;
O Herr, ich bin Dein Knecht und Sohn,
Zerrissen sind die Bande schon.“
Amen.