Aussendungsrede für den Abschluss-Gottesdienst „Jahr der Bibel“ im Hohen Dom zu Mainz
Wolfgang Huber
Liebe Gemeinde!
Im Stall von Bethlehem kann niemand bleiben. Die Weisen aus dem Morgenland müssen sich wieder auf den Weg machen, wie vor ihnen auch schon die Hirten von Bethlehem wieder zu ihren Tieren zurückgekehrt waren. Die Weisen aber, die heiligen drei Könige, wie wir sie auch nennen, müssen einen neuen Weg suchen. Der vertraute Weg allein genügt nicht. Sie würden Jesus in Gefahr bringen. Er wäre den Plänen des Königs Herodes ausgeliefert. Sie müssen einen ungewohnten Weg suchen, um zu retten, was ihnen anvertraut ist: die Botschaft von der Geburt des Heilands.
Auch wir haben Einkehr gehalten bei der Krippe von Bethlehem. Wir haben dem Jesuskind unsere Gaben gebracht. Aber auch wir können nicht bleiben. Auch wir werden uns wieder auf den Weg machen, vielleicht auf einen ungewohnten Weg. Auch wir wollen nicht in Gefahr bringen, was uns anvertraut ist: die biblische Botschaft, ein kostbares Geschenk.
Vielfältig waren die Versuche dieses Jahres, den Menschen diese Botschaft nahe zu bringen. Die Bibel als Kulturgut, die Bibel als Lebensbuch, die Bibel als Gotteswort wurde neu erschlossen. Im Jahr der Bibel wurde versucht, den Menschen die Botschaften neu nahe zu bringen. Diese neuen Wege sind nicht zu Ende. Denn jetzt kommt es darauf an, dass auf das Jahr der Bibel viele Jahre mit der Bibel folgen.
Ermutigt können wir uns auf diesen Weg begeben. Das Jahr der Bibel hat viel mehr Menschen erreicht, als von manchen Skeptikern erwartet worden war. Es hat eine breitere Wirkung entfaltet, als sich voraussehen und vorausplanen ließ. Es hat sich in diesem Jahr 2003 mit dem Ökumenischen Kirchentag verbunden; in ökumenischer Gemeinschaft haben wir von unserem Glauben Zeugnis abgelegt und deutlich gemacht, dass wir in der Weite der ökumenischen Christenheit mit der biblischen Botschaft eine gemeinsame Wurzel haben. Nun geht es darum, dass Christen aller Konfessionen weitertragen, was sie selbst in der Bibel finden. Den Glauben an Jesus Christus finden sie als tragende Hoffnung und letzte Geborgenheit; Orientierung finden sie für ein Leben im Geist Jesu Christi; Zugang zur Gemeinschaft der Glaubenden finden sie, in der eigenen Kirche wie in der Ökumene; zur Verantwortung werden sie ermutigt, persönlich wie in Gemeinde und Gesellschaft.
Das Jahr der Bibel endet nicht mit einem Schlusspunkt, sondern mit einem Doppelpunkt. Das Motto für die kommenden Wege lässt sich auch so fassen: Nach dem Jahr der Bibel mit der Bibel durch die Jahre!
Wie können solche Wege aussehen? Wie die Weisen aus dem Morgenland zu dritt unterwegs waren – Kaspar, Melchior und Balthasar - , so sollten auch wir uns drei weise Begleiter suchen. Für die Wege mit der Bibel durch die Jahre schlage ich als Begleitung die drei Weisheiten Rücksicht, Einsicht und Zuversicht vor.
Rücksicht zuerst. Christa Wolf beschreibt in ihrem Roman „Kindheitsmuster“, was im strengen Sinn „rück-sichts-los“ zu nennen ist. Das ist nämlich eine Haltung „ohne-Sicht-zurück“. Rücksichtslos ist, wer nur vorwärtsstürmen will. Das aber macht keinen Sinn, beim Fußball so wenig wie beim Bibellesen.
Wir brauchen ein gemeinsames Gedächtnis für die Quellen und Wurzeln, die uns tragen. Wir brauchen einen Vorrat an Geschichten, die unser Leben deuten. Wir brauchen eine Landkarte des Verstehens, um uns auf unseren Wegen zurechtzufinden. Die biblischen Geschichten sind dafür eine unentbehrliche Hilfe. Deshalb hat die Evangelische Kirche in Deutschland bei ihrer Synode von der „Bibel im kulturellen Gedächtnis“ gesprochen. Damit unsere Welt nicht „rücksichtsloser“ wird, müssen wir Christen die Bibel immer wieder erinnern und erschließen, auch und gerade für jene, die sie nicht mehr kennen oder als Buch ihrer eigenen Herkunft verstehen. Vor uns liegt eine große Bildungsaufgabe. In Familien und Büros, in Schulen und Kindergärten, in Universitäten und Redaktionen sollte die Bibel bekannt gemacht werden.
Einsicht heißt die zweite Begleiterin. Denn Einsicht in die Einzigartigkeit und Besonderheit unserer Bibel sollte unseren Umgang mit ihr auch in Zukunft prägen. Die Bibel ist ja nicht nur ein Stück Kultur wie Shakespeare oder Goethe, sondern sie ist Glaubensursprung und Lebensbuch für uns alle. Sie braucht nicht nur Erzählerinnen und Erzähler, die ihre Geschichten weitersagen; sondern sie sucht Zeuginnen und Zeugen, die für ihre Wahrheit einstehen. In der Mitte dieses Buches steht Christus, Gottes eingeborener Sohn, in Windeln gewickelt, ans Kreuz geschlagen, von der Mutter erkannt, von den Mächten verkannt. Er ruft uns in die Wahrheit, die frei macht. Im Licht dieser Wahrheit sehen wir auch unsere Welt mit einer neuen und geschärften Optik.
Ein kleiner Seitenblick soll verdeutlichen, was ich meine. Ein Pfarrer war zu einer kirchlichen Trauung ohne seine Brille gekommen. Zum Glück hatte er die Liturgie im Herzen und die Predigt gut vorbereitet. So gelang ihm der Gottesdienst gut, obwohl er nichts ablesen konnte. Doch ganz kalt hatte ihn die vergessene Brille nicht gelassen. An der Stelle, an der er den Ringwechsel ankündigen will, fordert er das Brautpaar auf: Wechselt die Brillen. Erstaunen ringsum. Dann befreiendes Gelächter.
Wechselt die Brillen. Seht die Welt im Licht der biblischen Botschaft. Stellt die Bibel nicht ins Regal, sondern nehmt sie mit in der Jackentasche oder auf eurem Laptop. Ihr könnt sie brauchen. Sie bleibt das Buch der Bücher.
Als dritte Begleiterin wähle ich die Zuversicht. Vor der Gottvergessenheit unserer Zeit brauchen wir nicht zu kapitulieren. Auch Ungeübte finden Zugang zur Bibel und zu Gott. Die Bibel ist das Unterpfand einer ökumenischen Zukunft, wie wir sie uns heute noch kaum vorstellen können. Denn die gemeinsame Bibel ist zusammen mit der Taufe das Band, das die Kirchen verbindet. Auch zwischen den Kirchen ist es wie im richtigen Leben: Wenn man an der Beziehung arbeiten will, muss man den Blick auf die Gemeinsamkeiten richten, muss man die Chancen betonen und die Aussichten verstärken. Unterschiede haben dabei durchaus ihren Ort. Sie sind ja auch aus der Bibel selbst bekannt, dieser großen Bibliothek, die eine Glaubensgeschichte von mehr als einem Jahrtausend umspannt. Aber es ist eben eine Bibliothek in einem Buch. Auch heute leben wir mit all unseren unterschiedlichen Glaubensgeschichten in einer Christenheit. Ebenso wie der Ökumenische Kirchentag macht auch das Jahr der Bibel Mut zur Ökumene.
Auf ungewohnten Wegen machten sich die Weisen aus dem Morgenlande auf – und kamen an. Auf ungewohnten Wegen wollen auch wir uns aufmachen, mit unseren drei Weisen aus dem Abendland: mit Rücksicht, Einsicht und Zuversicht. Sie mögen uns begleiten: mit der Bibel durch die Jahre, mit der Bibel zu unseren Mitmenschen. Amen