In Konflikten einen Weg finden - Beratung im Feld von Ehe, Familie, Schwangerschaft als Aufgabe der Kirche
Wolfang Huber
Festveranstaltung des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung
1.
Dass das Evangelische Zentralinstitut für Familienberatung sich in der Mitte Berlins ansiedelt, ist ein begrüßenswerter Anlass für eine grundsätzliche Überlegung zu Wesen und Aufgabe dieser Beratungsarbeit. So kann sich der Dank für die Arbeit der Aus-, Fort- und Weiterbildung, die in diesem Institut geleistet wird, mit einem Wort der Ermutigung für die Zukunft verbinden. Denn es ist ja wahr: Die wechselseitige Beratung, Tröstung und Ermutigung gehört in den Kern der christlichen Existenz. Wir seien zum Gespräch geboren, hat Melanchthon erklärt; und Martin Luther hat den wechselseitigen Trost von Schwestern und Brüdern als ein entscheidendes Kennzeichen der Kirche angesehen. "Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat" (Römer 15,7) heißt eine Gemeinderegel beim Apostel Paulus; und ebenso eindeutig ist die Grundregel christlicher Existenz, die er so formuliert: "Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen." (Galater 6,2).
So unzweideutig diese grundlegende Beschreibung des christlichen Lebens und der Existenz jeder christlichen Gemeinde ist, so deutlich muss man hinzufügen: Dass die Aufgabe der Beratung in der Kirche in spezialisierter und professionalisierter Form durchgeführt wird, ist eine neue Entwicklung. Dies wurde der christlichen Kirche noch nicht an der Wiege gesungen; und auch die Reformation hat nichts dergleichen zu Wege gebracht. Die Ausdifferenzierung eines besonderen Felds kirchlicher Beratungstätigkeit hat sich vielmehr erst innerhalb des letzten halben Jahrhunderts entwickelt. Diese Beratung hat ihren Ort zwischen Therapie auf der einen und Seelsorge auf der anderen Seite. Sie antwortet auf das "wachsende Bedürfnis nach Hilfe in Lebenskrisen, Beziehungskonflikten und psychischen Schwierigkeiten" (Leitlinien 1981). Die psychologisch qualifizierte Beratung für einzelne, Paare und Familien in aktuellen Schwierigkeiten, die prophylaktische Arbeit und die Praxisbegleitung durch Supervision sind die drei klassischen Arbeitsfelder.
Ich erinnere mich noch an meine Gefühle bei einem Gespräch, das ich als junger Vikar, ungefähr im Jahr 1967, mit einem Gemeindeglied führte. Mit Ehe- und Familienproblemen, so sagte mir mein Gesprächspartner, werde er sich nicht an mich wenden, er werde nach einer Beratungsstelle Ausschau halten. Zwei Gefühle meldeten sich gleichzeitig bei mir: die Erleichterung darüber, dass es eine kompetentere Beratungsmöglichkeit gab, als ich sie hätte bieten können, und zugleich die Enttäuschung darüber, dass ein wichtiger Bereich seelsorgerlicher Begleitung damit aus dem Aufgabenfeld des Pfarrers und zugleich aus der Gemeinde auswanderte. Beides hat sich seitdem verstärkt. Mein Respekt und mein Dank für die Arbeit, die in den Beratungsstellen geleistet wird, sind in dem Maß gewachsen, in dem ich genaueren Einblick in diese Arbeit bekam. Aber die Sorge darüber, dass sich Beratungsarbeit und Gemeinde genauso voneinander trennen, wie sich Diakonie und Gemeinde auseinanderentwickeln, ist zugleich gewachsen.
Deshalb möchte ich heute als ein erstes Kriterium für evangelische Beratungsarbeit in Erinnerung rufen, dass sie in einer lebendigen Verbindung zur Gemeinde steht. Verwurzelung und Präsenz der Beraterinnen und Berater in den Gemeinden, lebendiger Austausch zwischen Gemeinden und Beratungsstellen, Verknüpfung zwischen der Beratung, die ja immer nur einen Ausschnitt der Lebenswirklichkeit eines Menschen oder einer Familie erfassen kann, und der Aufnahme und Annahme von Menschen in der Gemeinde müssen sich verstärken. Dabei bleibt es selbstverständlich dabei, dass die Beratungsbereitschaft nicht an Voraussetzungen gebunden ist, auch nicht an die Voraussetzung der Kirchenmitgliedschaft. Und es bleibt ebenso dabei, dass alle Beratung in der Kirche dem Gebot der seelsorgerlichen Verschwiegenheit unterliegt. Dem Hinweis auf die Gemeinde und dem Brückenschlag in die Gemeinde hinein steht beides jedoch nicht im Wege.
Seit jenem ersten Gespräch hat mich auch stets die Frage beschäftigt, wie sich Glaubenswissen und psychologische Beratung eigentlich zueinander verhalten und miteinander verbinden. Der wichtigste Eindruck, den ich gewonnen habe, besteht darin, dass der grundlegende christliche Impuls, der in der Beratungstätigkeit zur Geltung kommt, in der Aufforderung gesehen wird: "Nehmet einander an." Nicht so sehr der direkte, dann auch als direktiv empfundene Bezug auf die christliche Botschaft, sondern die Vermittlung des Gefühls, angenommen zu sein, verleiht, so höre ich oft, der Beratungssituation ihre christliche Eindeutigkeit.
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt hat der therapeutisch erfahrene Theologe Dietrich Ritschl allerdings die Frage nach dem Verhältnis zwischen biblischer Weisheit und Beratung gestellt. Er hat unsere Kirche zu einer "therapeutischen Diakonie" aufgefordert, zu der die Bereitschaft gehört, "den verwundeten und leidenden Mitmenschen eben doch ‚Direktiven' zu geben, wenn auch katalytisch und nicht autoritär. Vielleicht kann das Non-direktive, das alle Kreativität dem Klienten aufbürdet, eine versteckte Form von autoritärer Unbarmherzigkeit sein; vielleicht ist das wahre Orientierungsmodell des christlichen Beraters nicht so sehr der klinische Psychologe als vielmehr der Rabbiner, der die Bibel und die Menschen kennt. Beratung wäre dann das Fragen nach Gottes Lebensweisheit."
Dass Menschen miteinander angesichts einer schwierigen Konfliktsituation nach Gottes Lebensweisheit fragen, ist eine Beschreibung christlicher Beratungsarbeit, die mich überzeugt. Sie ist gewiss anspruchsvoll; aber den Verzicht auf Ansprüche wird niemand zum Kennzeichen christlicher Beratung machen wollen. Solche Beratung steht der Eigenverantwortung nicht im Wege, sondern fordert sie heraus. Damit ist beides gemeint: die eigenverantwortliche Gestaltung der Beratungsarbeit durch die Berater ebenso wie die Befähigung von Klientinnen und Klienten zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens und zum eigenverantwortlichen Umgang mit den Konfliktsituationen, denen sie konfrontiert sind. Zur verantwortlichen Gewissensentscheidung zu befähigen, Menschen so aufzurichten, dass sie Freiheit und Verantwortung miteinander verbinden können, ihnen die Vergebung der Schuld so zuzusagen, dass sie Schuld wahrnehmen und mit der Erfahrung von Schuld umgehen können - darin liegt der theologische Horizont gerade einer evangelischen Beratungsarbeit. Noch elementarer gesagt: Evangelische Beratungsarbeit hat ihren Horizont in der Zusage des grundlos rechtfertigenden Gottes, dass der Mensch mehr ist als er selbst aus sich macht.
Nicht die Überwältigung, sondern die Stärkung der Gewissen ist deshalb auch das Ziel aller evangelischen Beratungsarbeit. Eben deshalb aber isoliert sie die einzelne Person nicht von ihrem Lebensumfeld und den aktuellen Konflikt nicht von ihrer Lebensgeschichte. In diesem Sinn ist ihr Ansatz ganzheitlich: die sozialen Umstände treten ebenso in den Blick wie der Zusammenhang der Biographie. Doch zu einem ganzheitlichen Ansatz gehört auch, dass die Lebensgeschichte der Menschen mit der Gottesgeschichte verknüpft wird, dass die aktuellen Konflikte, vor denen Menschen stehen, in die großen Fragen nach Schuld und Vergebung, nach Leben und Tod eingebettet werden, dass die Geschichten, die Menschen erzählen, verknüpft werden mit der Geschichte des einen Menschen, in dem Gott den Menschen nahekommt. Die biblische Überlieferung enthält eine narrative Kraft, die auch der Beratungsarbeit in der Kirche nur gut tun kann. Der Absicht, dass kirchliche Beratungsarbeit niedrigschwellig ansetzt, steht ein solcher Hinweis nicht im Wege. Er verweist vielmehr auf das besondere Potential, das kirchlicher Arbeit zur Verfügung steht und ihr Profil verleihen kann.
2.
Diese Überlegungen will ich an einem Feld kirchlicher Beratungstätigkeit vertiefen, das in den letzten Jahren besonders umstritten war und auch bleiben wird: der Schwangerenberatung und dabei insbesondere der Schwangerschaftskonfliktberatung. Sie steht immer wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In Deutschland ist die Sensibilität besonders groß.
Denn mit der Vereinigung Deutschlands wurden auch zwei Rechtsauffassungen zu diesem Thema vereinigt, die eigentlich unvereinbar sind. In den vormals sozialistischen Staaten hatte man sich mit der gleichberechtigten Integration von Frauen in den Arbeitsprozess auch auf einen Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch eingelassen. Weit später als manche anderen sozialistischen Länder hatte auch die DDR 1972 mit dem Übergang zu einer reinen Fristenregelung den Schwangerschaftsabbruch zu einem Mittel der Geburtenkontrolle und der Familienplanung gemacht. In der alten Bundesrepublik dagegen wurde, ausgehend von der Pflicht zum Schutz des Lebens, das strafrechtliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs aufrechterhalten; er wurde jedoch im Blick auf bestimmte Konfliktlagen, die zuvor durch ein Beratungsgespräch festgestellt werden mussten, straffrei gestellt. Eine lebensbedrohende Gefährdung der Mutter, die Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung, eine drohende schwere Fehlentwicklung des Fötus und schließlich eine soziale Notlage konnten eine solche Straffreiheit begründen. Auch wenn insbesondere die Praxis der Notlagenindikation den Unterschied zwischen den Betrachtungsweisen relativierte, war er gleichwohl von erheblicher Bedeutung. Denn es bleibt von großem, ja von entscheidendem Gewicht, ob der Schwangerschaftsabbruch nur als eine Form der Geburtenkontrolle durch Beseitigung eines "Zellklumpens" oder als tödlicher Eingriff in das Werden eines menschlichen Lebens betrachtet wird. Dem Ernst der Entscheidung, vor der eine schwangere Frau steht, und der Schwere des Konflikts, den sie erlebt, wird die zweite Art der Betrachtung weit eher gerecht.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 und das darauf aufbauende Schwangerschaftskonfliktgesetz haben freilich die Bedingungen für die Beratung in Schwangerschaftskonflikten entscheidend verändert. Es handelt sich bei ihr nicht mehr um eine flankierende Maßnahme oder ein freies Angebot. Sondern die Beratung ist jetzt eine gesetzliche Aufgabe des Staates, für die er auch dann die Verantwortung trägt, wenn er die Beratung nichtstaatlichen Trägern überlässt.
Die Pflichtberatung soll schwangeren Frauen in Konfliktlagen dabei helfen, ihre persönliche Situation zu klären und eine verantwortliche Entscheidung zu treffen. Kirchliche Beratung geschieht dabei in der Hoffnung, dass Frauen sich zur Fortsetzung der Schwangerschaft entschließen. Miteinander haben die Kirchen sich 1989 auf die Zielsetzung verpflichtet, Beiträge dazu zu leisten, dass Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden. Dabei haben sie auch miteinander erkannt und erklärt, dass das ungeborene Leben im Mutterleib nur mit der Mutter und nicht gegen sie geschützt werden kann. Aus dieser Einsicht heraus kann kirchliche Beratung und können evangelische Beraterinnen und Berater sich zu einer ergebnisoffenen Beratung bekennen, in welcher die Achtung vor der Gewissensentscheidung von Frauen im Schwangerschaftskonflikt zum Ausdruck kommt.
In den allermeisten Fällen gelingt ein offenes und tiefgehendes Gespräch. Aber es bleibt in aller Regel bei einem einmaligen Gespräch; eine vertiefende Begleitung lässt sich an die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtberatung zumeist nicht anknüpfen. In vielen Fällen bleibt den Beraterinnen oder Beratern unbekannt, ob der ausgestellte Beratungsschein auch tatsächlich benutzt wurde. Auch wenn das Beratungsgespräch neue Perspektiven eröffnete, kann nicht ausgeschlossen werden, dass am Ende doch die Entscheidung zum Abbruch steht. Ideal ist das deutsche Verfahren sicher nicht. Aber nirgendwo in Europa, auch in keinem "katholischen" Land, gibt es ein überzeugenderes System des Lebensschutzes durch Beratung. Deshalb bedaure ich, dass die Interventionen des päpstlichen Lehramts den deutschen katholischen Bischöfen die weitere Beteiligung an der gesetzlich vorgeschriebenen Schwangerschaftskonfliktberatung versperrt haben. Die Spaltung der katholischen Beratungstätigkeit zwischen einer Schwangerenberatung, die weiter im Auftrag der Bischöfe erfolgen kann, und einer Schwangerschaftskonfliktberatung, die dann im Auftrag von "Donum vitae" erfolgen muss, ist in meinen Augen keine Lösung. Sie ist vielmehr ein Beispiel dafür, dass ein scheinbar konsequenter Rigorismus die Konfliktlagen des menschlichen Lebens vertiefen kann, statt einen Beitrag zu ihrer Lösung zu leisten.
Der evangelischen Beratung wird manchmal vorgehalten, ihr fehle die Eindeutigkeit des Lebensschutzes, den die katholische Kirche für sich in Anspruch nimmt. Eine solche Entgegensetzung trifft die Sache nicht. Worum es geht, ist glaubwürdige Solidarität mit Frauen in Konfliktsituationen. Worum es nicht gehen kann, ist, ihnen auch noch die Konflikte anderer aufzuladen.
Gegen die in Deutschland geltende Regelung wird auch eingewandt, Embryonen im Reagenzglas seien durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 wirksamer geschützt als Embryonen im Mutterleib durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz von 1994. Das stimmt nicht nur; es lässt sich sogar erklären. Am Embryo im Mutterleib kann sich ein Konflikt entzünden; denn nun muss nicht nur der Embryo geschützt werden, sondern auch die Mutter. Beide, Mutter und werdendes Kind, in den Blick zu nehmen, ist die Aufgabe der gesetzlichen Regelung zum Schwangerschaftskonflikt. Eine solche Regelung ist notwendigerweise ein Kompromiss. Wer dem Kompromiss entgehen will, wird zwangsläufig unbarmherzig. Er beschwört entweder das Lebensrecht des werdenden Lebens und ignoriert die Lage der Mutter; oder er verficht das Selbstbestimmungsrecht der Mutter und missachtet das Lebensrecht des Kindes. Gerade in einer so schwierigen Frage muss man deshalb sagen: Lieber ein Kompromiss als pure Unbarmherzigkeit.
Einen solchen Konflikt gibt es beim im Reagenzglas erzeugten Embryo nicht. Jedoch ist er menschlichem Zugriff noch viel leichter ausgesetzt als der Embryo im Mutterleib. Deshalb ist es richtig, dass er stärker geschützt wird. Am Umgang mit ihm entscheidet sich nämlich, ob wir werdendes menschliches Leben nur wie eine Sache behandeln oder ob wir in ihm eine potentielle menschliche Person sehen. Unter denen, die im Interesse an therapeutischem Klonen weiterreichende Eingriffsmöglichkeiten in den künstlich erzeugten Emryo fordern, gibt es viele, die ihn als bloßes Ding sehen, mit dem man alles machen kann, was um eines vermeintlich guten Zweckes willen als nötig gilt. Vor allem soll es erlaubt sein, ihn zu töten. Im Fall des therapeutischen Klonens wird er nämlich nur zu diesem Zweck überhaupt erzeugt.
Als einen "himbeerfarbenen Klumpen" hat einmal ein hoher Richter den menschlichen Embryo in seinen frühen Entwicklungsstufen bezeichnet. Unterschwellig hieß das: Man braucht ihn nicht so wichtig zu nehmen; er ist ein Ding, keine Person, ein "etwas", kein "jemand". Von "Klumpen" und "Zellhaufen" ist auch heute wieder die Rede, um unsere moralische Widerstandskraft zu unterlaufen. Das Staunen über das Wunder des Lebens soll uns ausgetrieben werden.
Für mich besteht kein Zweifel: Gibt man diesem Denken nach, das sich gegenwärtig um die Idee des "therapeutischen Klonens" konzentriert, dann wird auch der noch verbliebene Schutz für den Embryo im Mutterleib zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Der Abtreibungskompromiss landet auf dem Müllhaufen der Geschichte. Denn nicht nur im Reagenzglas, auch im Mutterleib ist der Embryo dann nur noch ein Ding. Dem zu widerstehen, ist eine gemeinsame Aufgabe. Sie bezieht sich auf die Regeln für den Umgang mit künstlich erzeugten Embryonen genauso wie für den Umgang mit Schwangerschaftskonflikten. Im einen wie im andern Fall muss bewusst sein, dass schon der Embryo nicht ein "etwas" ist, sondern sich auf dem Weg befindet, ein "jemand" zu werden. Im einen wie im andern Fall können wir nicht beliebig über ihn verfügen; vielmehr ist er als werdendes menschliches Leben unserer besonderen Fürsorge anvertraut. Im einen wie im andern Fall kann eine Beendigung dieses Lebens nur aus sehr schwerwiegenden Gründen in Betracht kommen. Noch so gute Gründe werden nichts daran ändern, dass diese Lebensbeendigung mit Schuld verbunden ist.
3.
Ich habe in den letzten Monaten evangelische Beratungsstellen in Berlin und Brandenburg besucht, zu deren Aufgaben Schwangerschaftskonfliktberatung gehört. In einer Zeit, in der diese Beratungsarbeit besonders umstritten ist, wollte ich den Beraterinnen und Beratern für ihre Arbeit danken und sie in dieser Arbeit ermutigen. Denn die Entscheidung der evangelischen Kirche, am System der Pflichtberatung und an der evangelischen Beteiligung daran festzuhalten, ist auf die Bereitschaft von Frauen und Männern angewiesen, die diese schwierige und oft belastende Arbeit zu übernehmen bereit sind. Ich habe mir von den Erfahrungen in Stadt und Land, in Ost und West berichten lassen, die mit dieser Arbeit verbunden sind. Die Beraterinnen und Berater selbst haben in diesem Zusammenhang Kerngedanken formuliert, von denen sie sich in ihrer Arbeit leiten lassen. Diese fünf Kerngedanken heißen:
"1. Evangelische Schwangerschafts-/Schwangerschaftskonfliktberatung ist von der bedingungslosen Annahme der ratsuchenden Frauen, deren Partnern und Familien gekennzeichnet. In der ergebnisoffenen Beratung spiegelt sich die Achtung der Gewissensentscheidung der Frauen in der Verantwortung vor sich selber, dem Kind, den Familien und letztlich vor Gott wider.
2. Evangelische Schwangerschaftskonfliktberatung geschieht im Wissen um das Schuldigwerden und im Vertrauen auf die Vergebung Gottes.
3. Die Besonderheit des Schwangerschaftskonflikts wird in Kirche, Gesellschaft und Politik oft zu wenig verstanden. Es muss bedacht werden: Konflikte werden auch von Frauen erlebt, für die sich die Frage nach einem Schwangerschaftskonflikt nicht stellt. Das Problem wird unzulässig vereinfacht, wenn man Frauen im Schwangerschaftskonflikt nur vor der Entscheidung zwischen sich selbst und dem Kind sehen wollte. Schwangerschaftskonflikte sind komplex und in sich widersprüchlich, sie sind keine ‚klare Sache'.
4. Die Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch spielt sich für die betroffene Frau sowie für die Beraterin auf dem Hintergrund des gesetzlichen, zeitlichen und moralischen Drucks ab.
5. Für die Beraterinnen bleiben Gefühle wie Schuld, Mitschuld, innere Zerrissenheit und Ohnmacht kaum aus. Die Widersprüchlichkeit und Ausweglosigkeit des Schwangerschaftskonflikts wird von der Frau und der Beraterin auf unterschiedlichen Ebenen in gleicher Weise erlebt. Es gibt keinen klaren Standpunkt. Das Ungleichgewicht zwischen Chancen und Grenzen der Beratung muss täglich ausgehalten werden."
Eine solche Beschreibung des Kerns, um den es in der Beratungsarbeit geht, macht auch die Belastungen deutlich, die mit dieser Arbeit verbunden sind. Die evangelische Kirche und ihre Diakonie sowie die einzelnen Träger von Beratungsstellen muten den Beraterinnen und Beratern diese Belastungen aus der Überzeugung zu, dass die Begleitung von Frauen in Schwangerschaftskonflikten und ihre Unterstützung bei einer gewissenhaften Entscheidung zu den Kernaufgaben der Kirche gehört. Die Einsatzbereitschaft, mit der Beraterinnen und Berater Frauen in schwieriger Lebenssituation kompetent beraten, sich um die Einbeziehung der Partner bemühen und Menschen im Gespräch einfühlsam begleiten, verdient ganz besonderen Dank. Diese Arbeit lässt sich nur durchhalten, wenn und weil sie sich auf eine klare Position unserer Kirche auch in der öffentlichen Debatte stützen kann. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass wir uns an dieser Aufgabe nicht aus bloßer Anpassung an gesellschaftliche Trends und politische Notwendigkeiten beteiligen. Wir nehmen diese Aufgabe wahr, weil wir uns dem Leben des Kindes und dem Leben der Mutter in gleicher Weise verpflichtet fühlen.
Mit den Beraterinnen und Beratern zusammen sollte eine Weiterentwicklung dieser Arbeit in Angriff genommen werden. Diese Weiterentwicklung zielt auf die konzeptionelle Begründung, die praktische Gestalt und die organisatorischen Bedingungen zugleich. In allen drei Richtungen will ich auf dem Hintergrund der Besuchserfahrungen dieses Sommers einige Vorschläge machen.
1. Für die evangelische Kirche ist die Beratung in Krisen und Konfliktsituationen ein Ausdruck christlicher Nächstenliebe. Sie verpflichtet dazu, dem Nächsten in seinen Konflikten beizustehen, sie mit ihm auszuhalten und mit ihm zusammen nach Lösungen zu suchen. Sie geschieht auf Grund der Hoffnung, dass "die Liebe, die weiterhilft, stärker ist alles Unglück, Scheitern und Elend" (J.Moltmann). Denn diese Hoffnung richtet sich auf eine Wirklichkeit, die die sichtbare Welt übersteigt. In ihrem Licht kann auch Schuld wahrgenommen und ausgehalten werden. In dem Konflikt um das, was Menschen machen können, werden sie durch die Gewissheit getragen, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht. Das begründet die gleiche Würde jeder menschlichen Person.
2. Im Licht des Evangeliums wird das Menschenbild, das nur den starken, unabhängigen, vollkommenen Menschen kennt, radikal in Frage gestellt. Schwäche wird nicht als Makel und Stärke nicht als Privileg gewertet. Die Bejahung des Menschen durch Gott gilt voraussetzungslos und bedingungslos. Evangelische Beratung beginnt mit der voraussetzungslosen und bedingungslosen Annahme des Menschen, der Rat sucht, braucht oder auch widerwillig in die Situation der Beratung kommt. Darin sucht sie der Annahme jedes Menschen durch Gott zu entsprechen. Evangelische Beratung unterscheidet zugleich zwischen der Person und ihren Taten. Sie sucht deshalb mit den Ratsuchenden einen Weg, auf dem sie die Ambivalenz ihrer Situation und die Schuldverflochtenheit ihres Handelns wahrnehmen und die Chance eines Neubeginns ergreifen können.
Evangelische Beratung orientiert sich aber auch darin am Beispiel Jesu, dass sie die einzelne Person nicht in jedem Fall als die beste Expertin für das eigene Leben ansieht. In jeder Beratungssituation warten Menschen auf eine Wahrheit, die sie sich nicht selbst sagen können. Evangelische Beratung hat keinen Grund, ihnen diese Wahrheit zu verweigern. Die Wahrheit des Evangeliums aber ist eine befreiende Wahrheit. Es widerspräche dieser Wahrheit selbst, wenn sie autoritär vorgebracht würde; denn dann wäre sie nicht befreiend, sondern einengend. Die Orientierung an dieser Wahrheit muss auch den Beratungsvorgang bestimmen, ohne dass sie den ergebnisoffenen Charakter der Beratung in Frage stellt.
3. Evangelische Beratung hat auch dann, wenn sie spezialisiert und professionalisiert ist, ihren Ort in der Gemeinde. Sie verweist Einsame und Haltsuchende auf die Gemeinde als einen Ort der Beheimatung. Glaubwürdig kann das nur geschehen, wenn die Gemeinden auch selbst zur Aufnahme und Begleitung von Menschen bereit sind, die nach einer solchen Beheimatung suchen. Veränderungen sind deshalb auf beiden Seiten notwendig: auf der Seite einer oft verselbständigten Beratungsarbeit und auf der Seite eines oft sehr selbstgenügsamen gemeindlichen Milieus. Kirchengemeinden sollten sich als Informationsträger und Multiplikatoren im Blick auf die Beratungsarbeit verstehen. Sie sollten auch einen Sinn für die Unterschiede der verschiedenen Beratungsangebote vermitteln. Das setzt voraus, dass berufliche und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinden über die Inhalte und Rahmenbedingungen der Beratung informiert sind. Der Dialog zwischen Beraterinnen, Trägern von Beratungseinrichtungen und Gemeinden vor Ort ist unerlässlich.
4. Mit der Einrichtung von Beratungsstellen verbindet sich eine Organisationsform, die ausschließlich an der Komm-Struktur der Beratungsarbeit orientiert ist. Die damit verbundenen Einschränkungen werden gelegentlich dadurch abgeschwächt, dass das Angebot möglichst "niedrigschwellig" gestaltet wird. Im Westteil Berlins hat man in diesem Zusammenhang teilweise auch auf den Namen "Evangelische Beratungsstelle" verzichtet und ihn durch "Psychologische Beratungsstelle" ersetzt. Es ist jedoch fragwürdig, wenn Niedrigschwelligkeit dadurch erreicht werden soll, dass evangelisches Profil und kirchliche Identität der Beratung in den Hintergrund treten. Vielmehr gehört gerade zum evangelischen Profil die Offenheit für alle Ratsuchenden. Deshalb sollte eine Weiterentwicklung nicht durch Profilschwächung, sondern durch Profilverdeutlichung gesucht werden.
Zu ihr könnte gehören, die bisherigen Beratungsangebote durch das Element aufsuchender Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung zu erweitern. Aufsuchende Beratung würde mit geringem Aufwand durch zeitliche Koordinierung die Möglichkeit bieten, einer relativ großen Region - entsprechende Öffentlichkeits- und Informationsarbeit vorausgesetzt - Frauen, Paare und Familien "klientenzentriert" zu begleiten. Die Kenntnis des Lebensumfelds ist oft eine entscheidende Voraussetzung für hilfreiche Beratung. Ein solches Konzept könnte der evangelischen Beratung einen deutlichen "Dienstleistungsvorsprung" vor anderen Angeboten vermitteln.
5. Trotz des punktuellen Charakters von Schwangerschaftskonfliktberatung sollte der Nachhaltigkeit der Beratung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Hinweise auf unterstützende Angebote für Frauen, Paare und Familien sollten deshalb in einem Beratungsbrief zusammengefasst werden, der über die Krisensituation hinausweist. Der Beratungsbrief sollte weiterführende Unterstützungen sowohl für Frauen aufzeigen, die sich zum Schwangerschaftsabbruch entscheiden, als auch für diejenigen, die sich zur Fortsetzung der Schwangerschaft entschließen. Ein solcher Beratungsbrief kann die Angebote verschiedener Beratungseinrichtungen sowie der Gesundheitsämter miteinander verknüpfen und auf die allgemeine Sozialberatung hinweisen.
6. Eine im Blick auf Berlin und Brandenburg noch keineswegs verwirklichte Zielsetzung lässt sich so formulieren: Niemand, der von einem Schwangerschaftskonflikt betroffen ist, soll von evangelischer Beratung ausgeschlossen sein - sei es durch einen Mangel an Kenntnis über dieses Beratungsangebot, sei es durch die fehlende Erreichbarkeit dieser Beratung. Denn evangelische Beratung hat ein eigenes Profil; deshalb lässt sie sich nicht einfach durch andere Beratungsangebote ersetzen. Darüber hinaus sind die gerade im Land Brandenburg besonders verbreiteten Beratungsformen auch besonders problematisch - nämlich die Beratung durch das staatliche Gesundheitsamt einerseits, durch niedergelassene Ärzte andererseits. Ob bei diesen Beratungen die Ganzheitlichkeit des Beratungsansatzes ausreichend gewahrt wird, kann man bezweifeln. Vor allem ist die Nähe zwischen den Beraterinnen oder Beratern und denen, die von dem Vollzug eines Schwangerschaftsabbruchs profitieren, unverkennbar.
Auch hier wäre es nach meiner Überzeugung günstig, wenn die evangelische Position zum Schwangerschaftsabbruch klar vermittelt und deutlich vertreten würde. Damit würde auch ein Signal in die allgemeine Öffentlichkeit gegeben, in dem das Ja zum Leben nicht abgeschwächt, sondern umfassender verstanden wird. 7. Das Ja zum Leben kann die Grundlage sein für einen gemeinsamen Umgang mit dem Problem des Schwangerschaftskonflikts, der von der Verantwortung für das Heranwachsen von Kindern geprägt ist.
Denn jedes Ja zum ungeborenen Leben setzt ein Ja zum geborenen Leben voraus. Ein gesellschaftlicher Perspektivenwechsel zugunsten von Kindern und Jugendlichen bleibt zusammen mit verbesserten Lebensbedingungen für Mütter und Familien der wichtigste Beitrag zur Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen. Nachhaltige und langfristig wirksame Hilfsangebote sollten deshalb energisch verstärkt werden. In der Kirche und in den Kirchengemeinden ist dafür ein ganzes Bündel von Maßnahmen erforderlich, die vom Kindergarten bis weit über einen ordentlichen Religionsunterricht hinaus reichen. Wo immer möglich muss evangelische Kinder- und Jugendarbeit, aber ebenso auch die wachsende Zahl von evangelischen Schulen ins Bewusstsein treten.
Die Fristenregelung mit Beratungspflicht bleibt unter den gegebenen Umständen der Rahmen dafür, wie ein Schwangerschaftskonflikt lebensfördernd wahrgenommen und ausgetragen werden kann. Es ist ein Rahmen, in dem Frauen den Schutzraum eines vertraulichen Gesprächs nützen können. Es ist ein Rahmen, für den aber zugleich die Träger der Beratungsstellen einen klaren Verständigungsprozess darüber brauchen, worin die Voraussetzungen und Ziele der von ihnen geförderten und verantworteten Beratungstätigkeit bestehen. Die Arbeit an klaren Leitlinien für dieses Arbeitsfeld mit unverkennbar evangelischem Profil erscheint mir als überfällig. Vielleicht ist es mir durch diesen Vortrag gelungen, dazu einen Beitrag zu leisten und vor allem: Menschen für diese wichtige Arbeit zu motivieren oder in ihrer Arbeit zu bestärken. Allen, die sich im evangelischen Bereich an dieser wichtigen Beratungsarbeit beteiligen, gilt mein herzlicher Dank.
Dem Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung aber gelten meine guten Wünsche. Möge die Arbeit am neuen Ort gelingen - wie sie ja auch am alten Ort gelungen ist. Ich begleite diese Arbeit mit großem Interesse und mit herzlichen Segenswünschen.