Predigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis im Berliner Dom (Lukas 15, Vers 1-10 – Lukas 19, Vers 10)

Manfred Kock

1. Gott sucht und findet die Verlorenen; große Freude ist das Ergebnis.
Martin Luther sagt: „Das ist die Predigt von Christus, die uns so alltäglich sein sollte wie Brot- und Käseessen. Christus erfüllt das Gesetz für Dich, Du kannst es nicht.“

„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ Das ist der Wochenspruch. Er steht im Anschluss an die Geschichte von Zachäus, dem Zöllner. Bei ihm sitzt Jesus zu Tisch. Seine Nähe verwandelt den Betrüger und Kollaborateur zu einem neuen Menschen. Das ärgert die Anständigen.

So steht das immer wieder im Evangelium: Jesus auf der Seite der Ausgestoßenen, der Fischer, der Huren, der Aussätzigen, der Zöllner, der Frauen, der Kinder, der Kranken, der Lahmen, der Krüppel. Und immer wieder der Protest der Ordentlichen, Ehrlichen, Engagierten, Entschiedenen: „Dieser isst mit den Sündern!“ Und die Antwort Jesu darauf: „Die Gesunden brauchen nicht den Arzt, sondern die Kranken.“

Der Menschensohn kommt und sucht, was verloren ist.
Der verlorene Sohn fällt uns ein. Von Hause ist er fortgegangen und bei den Schweinen gelandet, bis er nichts mehr weiß, als sich dem Alten als Tagelöhner anzubieten. Der Vater aber nimmt ihn wieder an als seinen Sohn und feiert ein großes Fest.

Und da ist der andere Sohn, der Daheimgebliebene, der das Fest der Auferstehung seines Bruders missbilligt und die Teilnahme verweigert. Und auch ihn lädt der Vater ein, das Fest der Freude über die Heimkehr der Verlorenen zu feiern.
Freude über das wiedergefundene Schaf, über den wiedergefundenen Groschen. Geschichten vom Suchen und Finden und von der Freude darüber. Geschichten, die vielen vertraut sind,  - wie Brot- und Käseessen.

2. Die Bilder sind deutlich: Wie sich einer aufmacht, sein verlorenes Schaf zu suchen und sich freut, wenn er es gefunden hat; - wie sich eine Frau freut, die ein verlorenes Geldstück wieder findet, so freut sich Gott, wenn „Verlorene Menschen“ gefunden werden.
Die Bilder sind deutlich, wenigstens denen, die einen vertrauten Umgang mit der biblischen Tradition haben.
Vermutlich sind die Geschichten aus sich selbst für viele heraus weniger plausibel.

  • Das Suchen ist oft mühselig. Vor allem in unserer Wegwerfgesellschaft. Wir kalkulieren den Schwund ja ein. Der Zeitaufwand des Suchens wird ins Verhältnis zum Nutzen gesetzt. Selbst wenn der Silbergroschen mehr wert ist, als er in unseren Ohren klingt. Ob Suchen sich wirklich immer lohnt?

  • Die Zahlen stimmen auch nicht. 99 Gerechte gegen einen Sünder. Wenn Menschen überhaupt mit solchen Begriffen etwas anfangen können, dann denken sie eher an ein  umgekehrtes Zahlenverhältnis. Wie wenig Menschen sind denn ausgestattet mit Sensibilität für Gerechtigkeit? Und wie wenige setzen sich wirklich dafür ein?

  • Wie groß ist die Zahl derer wirklich, die um der Gerechtigkeit willen einen neuen Lebensstil wagen? 
    Die Pharisäer damals zur Zeit Jesu waren solche engagierten Leute, aber sie waren an Zahl keine große Gruppe.  
    Die Pharisaer sind, weil Jesu Krititk nicht verstanden wurde, in ein falsches Licht geraten. Sie sind vergleichbar mit denen, die sich heute für Humanität und solidarisches Handeln einsetzen. Damals wie heute sind so Engagierte eher in der Minderheit.

Und wo stehen wir, die wir uns heute Morgen zum Gottesdienst versammelt haben? Sind wir die Gerechten? Sollen wir uns vom Evangelium beschämen lassen, dass wir nicht genügend auf die Suche gehen nach den Verlorenen? Oder sind wir die gefundenen Sünder, über die sich Gott im Himmel gefreut hat, weil es uns annimmt? Oder sind wir dieVerlorenen, die immer noch herumirren ohne Hoffnung auf Rettung.
Mir ist schon klar, so lassen sich die Fragen nicht stellen. Da sind viele unter uns, die danken können für einen guten Morgen, für eine erfüllte Lebenszeit. Und auch bei denen, die mit Problemen belastet sind, geht es wohl nicht um „gerecht“ oder „verloren“. Da gibt es Ängste und Einsamkeit, Trauer über einen Verlust; da gibt es Krankheit, Unklarheit über die nächsten Lebensschritte. Und vor allem gibt es die Unsicherheit über den rasanten Wandel unserer Zeit, der vor viele neue Fragen stellt, für die wir noch keine Lösung wissen. Wenig deutet daraufhin, dass unsere Welt zur Vernunft findet, darum gibt es so viel Versagen.

Immerhin leuchtet in unseren biblischen Geschichten etwas auf: Gott geht jedem Einzelnen nach, wohin er sich auch verrannt hat, wohin er auch getrieben wurde. Mitten in unserer verwalteten, chaotischen, unserer korrupten und sich auflösenden Welt, mitten in all den anonymen Massen gibt es das Zeichen: Gott freut sich über das Eine. Das wäre schon was, wenn der Eine, die Eine mit etwas mehr Mut zum Leben, diesen Gottesdienst verlassen würden. Du kannst ja nicht tiefer fallen als in die Hände Gottes. Wie entlastend wäre es, wenn jemand diese Entdeckung erleben würde. „Mich in meiner verlorenen Situation, mich sucht Gott, und er freut sich an mir, weil ich diese Entdeckung gemacht habe.“
Angesichts dieser wundervollen Möglichkeit beginnen die biblischen Bilder vom Finden des Verlorenen zu atmen. Auch wenn die Lasten, die seelischen und körperlichen, nicht mit einem Schlag behoben sind; auch wenn die Krisenherde unserer Gesellschaft nicht bereinigt sind, wir erleben in diesen Geschichten einen starken Geist. Der lässt uns auch in Krisen leben und hilft uns, zu kämpfen und nicht müde zu werden. 

3. Ich muss wohl etwas zu den 99 Gerechten sagen. Jesus kritisiert nicht ihren Einsatz für Notleidende und eine bessere Welt. Er wendet sich gegen das Schema der Anständigkeit, gegen die Kategorie des frommen Scheins, gegen die Floskeln der Rechthaberei. Sie grenzen die Suchenden und Fragenden und Irritierten aus und bieten in Wahrheit keinen Halt und keine Hoffnung.
Unser Land lebt in einer Krise der Glaubwürdigkeit und einer Krise der Verantwortungsbereitschaft. Den Parteien laufen die Wähler weg, den Kirchen die Mitglieder, nicht mehr so viele wie in früheren Jahren, aber immer noch zu viele. Wie würden wir befreit atmen, wenn jemand öffentlich zugestehen würde: Das habe ich falsch gemacht. Ein solches Bekenntnis wäre so befreiend wie die beiden Geschichten vom Verlorenen und Finden. Welche Befreiung brächte es unseren Gruppen, Kreisen und Gemeinden, wenn wir uns von den eingefleischten Bildern lösen könnten, die wir uns voneinander machen. Wir erfrischend wäre es in unserer Nachbarschaft oder an den Arbeitsstellen, wenn die Raster der wechselseitigen Einschätzung aufgebrochen würden und eine neue Sicht vom einen zum anderen entstünde. Denn das ist das Geheimnis dieser göttlichen Gleichnisse. Sie ermöglichen eine neue Sicht der Menschen. Verlorene sind nicht abgeschrieben; die sich für gerecht halten, sind darum nicht priviligiert.

Ein solcher Befreiungsschub käme auch vom Eingeständnis über die trüben und finsteren Seiten unserer kirchlichen Geschichte. Die Kirche hat oft auf der Seite der Unterdrücker gestanden. Einzelne Christen und standhafte Gemeinden ausgenommen.

Diese ganze Geschichte und alle Nöte und Krisen können wir aushalten, weil die Bildergeschichten Jesu auch zu uns sprechen, zu unserer verlorenen Kirche, zu unserer verlorenen Generation. Die Freude Gottes wird sein über unsere Umkehr.

4. Der Glanz von Gottes Freude wirft ein Licht auf unsere Welt und auf uns Menschen. Das verlorene Schaf ist ein Teil der Herde. Sie ist ärmer, so lange das eine fehlt. Mit jeder Art, die verloren geht, mit jedem Menschen, der uns fehlt, fehlt ein Teil des Ganzen, ein Glied am Leibe Christi. Freude kommt auf, wenn Menschen zur Gemeinschaft zurückfinden.

Darauf kommt es an: Wir werden Schwestern und Brüder. Das bewegt unsere Herzen, das tröstet und ermutigt. Gemeinschaft wird geheilt.
Die umschließt nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die, die vor uns waren und die nach uns kommen.

Im Buch des Propheten Hesekiel wird Sprichwort erwähnt, das wie ein Ventil zu sein scheint: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, den Kindern werden die Zähne stumpf.“ Das heißt: Die Alten haben die Suppe eingebrockt. Die Kinder müssen sie auslöffeln. Solche Erfahrung macht jede nachfolgende Generation. Damals zur Zeit der Prophetenklage waren es die Verbannung nach Babylon, die Katastrophe des Volks, die Zerstörung des Tempels, der Verlust von Heimat. Die Nachgeborenen tragen keine Schuld daran und müssen trotzdem büßen. So geht es durch alle Generationen und alle Völker. Das Leid der Söhne und Töchter ist als Erblast auferlegt persönlich und als gemeinsames Schicksal.

Wir mögen über Kollektivschuld und –haftung unterschiedlich denken. Es ist aber unbestreitbar, dass für die Eltern Kinder haften. Die Eltern nutzen Atomenergie, den Kindern strahlen die Zähne.  Die Eltern freuen sich über die Mobilität dank ihrer Automobile, die Kinder werden Klimakatstrophen erleben.

Das Sprichwort spiegelt erfahrene Reaktionen wieder. Es sucht nach den Schuldigen, es sind die andern. Alles Fehlverhalten und alles Leiden, das daraus erwächst, wird als Erblast bezeichnet. Auch die Psychoanalyse ist  viel zu differenziert, als dass alles Fehlverhalten und alle Schädigung auf Väter und Mütter geschoben werden könnten. Der Prozess der Aufarbeitung ist nötig. Aber darin darf niemand auf der Stelle bleiben. Zur Rechtfertigung und Selbstentschuldigung ist dieses Verfahren nicht geeignet. Das wäre der völlige Verlust der Freiheit, weil so die Menschen nur eine Funktion von Erbmasse und Erziehung würden. Daher gilt es, das eigene Schicksal anzunehmen und sich darin bewähren. Darum heißt es im Anschluss an das prophetische Sprichwort: „Die Eltern haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden, das Wort soll nicht mehr umgehen in Israel“.
Verklagt nicht Andere. Seht auf euch selbst! Jeder trägt seine eigene Schuld und wird dafür grade stehen. Vergangenheit  darf nicht zur eigenen Entschuldigung herhalten. Rassismus der Nazis ist keine Entschuldigung für uns heute. Die Ansprüche auf unser gegenwärtiges Konsumverhalten finden keine Entschuldigung in der vorigen Generation. Jede Generation hat ihre eigene  Blindheit und Taubheit.
Darum sind die Bilder vom verlorenen Schaf, vom verlorenen Groschen so wichtig und wirksam: Jeder/ Jede kann als eigene Person sich daran erfreuen, wenn sie aus Verlorenheit herausgeholt wird.

Freude Gottes über das Verlorene. Der Tod des Gekreuzigten ist der Durchbruch zur Umkehr. Das prägt die biblische Geschichten, daraus haben sie ihre Kraft.

Und solange die Botschaft Jesu gesagt wird, gilt dieses:
Die persönliche Lebensgeschichte, auch wenn sie noch so traurige Verlorenheit aufweist, kann nicht mehr verschlingen. Es gibt Hoffnung auf Reifung, es gibt Hoffnung auf Weisheit.
Denn es gibt die Freude Gottes über den neuen Anfang.
Amen.