Predigt zum Sonntag Sexagesimae (Lukas 16)

03. Februar 2002

Predigttext:
Aus der Apostelgeschichte des Lukas, aus dem 16. Kapitel (Bericht über die Ausbreitung des Evangeliums nach Europa)

Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!
Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich  nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt.
Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen.
Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, so dass sie darauf acht hatte, was von Paulus geredet wurde.
Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.

1. Das Evangelium kommt nach Europa, 

die erste, die sich davon berühren lässt, ist eine Frau: Lydia, die Purpurhändlerin.
Das muss den Apostel überrascht haben. Denn eigentlich war die Erwartung eine andere. Paulus hatte in Asia und anderen Provinzen in der heutigen Türkei, die Botschaft Jesu verbreiten wollen. Der Erfolg war deprimierend gering. „Der Geist ließ es nicht zu“, heißt es in dem Bericht der Apostelgeschichte. Dann aber erlebt Paulus bei Nacht eine innere Stimme, eine Traumstimme. Ein Mann sagt ihm: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ Die Stimme machte dem Paulus zur Gewissheit, er solle den Menschen in Mazedonien das Evangelium bringen - also denen auf der anderen Seite des Bosporus, der Asien von Europa trennt.
Eine Traumstimme, die auf neue Möglichkeiten und Chancen weist, nachdem die Mission in der letzten Phase der Reise ohne Ergebnis geblieben war. Ohne den Traum wäre es bei der Vergeblichkeit geblieben.

Das ist das erste, was es auf unsere Lage zu übertragen gilt:
Wenn es in unserer Kirche weitergehen soll, wenn es zu neuen Aufbrüchen kommen soll, braucht es innerer Signale. Sie sind es, die Türen öffnen. Es muss in uns etwas geschehen.
Die Mission in Europa hat jedenfalls nicht als Projekt einer menschlichen Strategie begonnen, sondern als göttliche Inspiration. Mit diesem Bewusstsein müssen wir auch heute an unsere missionarischen Herausforderungen gehen; ein neuer Aufbruch gelingt, wenn in den Menschen etwas geschieht.


2. Als erste berührt die Botschaft eine Frau 


Ich sagte, es muss den Paulus überrascht haben, was geschah. Er hatte die Stimme eines Mannes gehört, der um Hilfe bat. Die erste, die diese Hilfe annimmt und sich ihm zuwendet, ist eine Frau – eben Lydia, die Purpurhändlerin. In unserer Kirche wird oft von den Vätern des Glaubens geredet, von Kirchenvätern, die von großer Bedeutung sind.
 Aber bei Lichte besehen waren es oft die Frauen, die in den Biographien die Glaubensgeschichte angestoßen haben – die Mütter vor allem.

Wer ist Lydia?
Drei Angaben gibt es in der Geschichte:

  • Sie ist gottesfürchtig, das heißt nicht einfach fromm oder religiös interessiert. In damaliger Sprache heißt das: sie ist Heidin, die sich zu einer jüdischen Gemeinde hält. Trotz aller religiösen Angebote der antiken Welt trifft sie sich mit einer Gruppe von jüdischen Frauen zum Gebet.

  • Lydia ist Purpurhändlerin. Sie kauft und verkauft einen Farbstoff, der nur für Vornehme erschwinglich ist. Vermutlich war sie eine erfolgreiche Kauffrau, die ein Haus hat mit Menschen, die es bewohnen und die sie bedienen.

  • Sie stammt aus Thyatira, aus dem Ausland also. Sie hatte hier in Philippi ihren Handelsplatz und hatte in der kleinen jüdischen Frauengruppe Kontakt gefunden.

3. Paulus und Lydia erleben den Durchbruch

Da heißt es: „Gott tat ihr das Herz auf, so dass sie darauf achtete, was von Paulus geredet wurde.“

  • Sie lässt sich taufen und ihr ganzes Haus, also alle, die zu ihr gehören, werden ebenfalls getauft.

  • Das geöffnete Herz lässt sie auch ihr Haus öffnen für Paulus und seine Mitarbeiter.

Eine kleine Hausgemeinde in Philippi war die Keimzelle des Gemeindewachstums.
Solche Hausgemeinden sind keine Notlösungen für die frühe Christenheit gewesen. Sie spiegeln vielmehr ein lebendiges Kirchenmodell, das eine wichtige Kraftquelle ist. Die Menschen trafen sich hin und her in den Häusern, beteten zusammen, feierten das Mahl und praktizierten gegenseitige soziale Hilfe.

Wiederbelebung der Hausgemeinde kann auch unseren Gemeinden heute wichtige Impulse geben.
Auch in heutigen Zeiten sind solche Hausgemeinden nicht nur ein innergemeindliches Kontaktsystem, sie sind vielmehr Brücke auch zu solchen, die geringe oder keine Berührung zur Gemeinde mehr haben.

Die Zukunft unserer Kirche bedarf solcher Brücken, solcher Netzwerke; bedarf der Gemeindebildung im Ursprungsbereich von Gemeinschaft, nämlich in den Häusern, in den Familien und Nachbarschaften. Das ist bei heutigen Kommunikationsweisen nicht der einzige Weg zum Menschen, aber ein wichtiger. Er schenkt Nähe in einer Zeit bedrückender Entfremdung und Einsamkeit.

4. Worum es heute geht: Lydia lässt sich taufen.

Auswirkung der Botschaft ist eine Lebensentscheidung. Und ihr „ganzes Haus“ wird getauft. Ob alle im Hause in gleicher Konsequenz die Taufe erlebt haben? Man kann  es sich kaum vorstellen.
Wahrscheinlich gab es schon von Anfang an, auch in diesen Großfamilienstrukturen, so etwas wie Volkskirchlichkeit, nicht nur die eine entscheidende Bekehrung. Wichtig ist aber auch hier, dass Geborgenheit geschenkt wird, die sich für neue Menschen öffnet und ein inneres Wachstum ermöglicht.

„Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“, hatte der Mann im Traum dem Paulus gesagt. Die erbetene Hilfe war die Verkündigung der frohen Botschaft von Gottes Liebe in Christus.
In welcher Weise ist die Botschaft des Apostels heute eine Hilfe?
„Komm herüber und hilf uns“, diesen Ruf hören wir heute aus vielen Ländern der weiten Welt. Aus Afrika und Indonesien zum Beispiel. Da, wo Verfolgte und Leidende nach Hilfe rufen. Auch aus diesem Land. Und es wird immer seltener, dass Menschen herüber kommen mögen.

Welche Hilfe aber bedeutet das Evangelium heute für Europa?
Europa hat das Christentum nicht mehr vor sich, wie damals, als Paulus der Lydia begegnete. Wir leben in einem nachchristlichen Erdteil. Im ganzen scheint Europa eher an materiellen Entwicklungen interessiert zu sein als an geistigen oder religiösen. Auch da, wo religiöses Interesse noch wach ist, kommt die Kirche nicht als erste in den Blick, um es zu befriedigen. Das wird hier im Lande nicht viel anders sein.
Besonders im Osten Deutschlands, aber auch bei unseren westlichen Nachbarn, ist die Anziehungskraft des christlichen Glaubens stark zurückgegangen, in Holland ist das zu spüren, in Frankreich auch, selbst in Italien - und in vielen Regionen unserer Landeskirche auch.
„Komm herüber und hilf uns.“
Wir brauchen wieder einen solchen einfachen Anfang, gar keine Macht und keinen großen politischen Einfluss brauchen wir. Wir sind, wenn wir den Ruf als innere Stimme hören „Hilf uns!“, selber auch nur Bettler, aber solche, die anderen sagen, wo es Brot gibt: in der Botschaft des Mannes von Nazareth.

Das klingt angesichts des gigantischen Wirtschaftspotentials des heutigen Europas völlig weltfremd und unwirksam. Aber Lydia als erste europäische Christin ist eine Gestalt, die eine symbolische Bedeutung hat. Lydia war keine arme Frau, keine Bettlerin, sie war vermutlich sogar wohlhabend. Und gerade an ihr ist erkennbar, wie äußerer Reichtum die innere Sehnsucht nicht zu stillen vermag.
Wie Lydia, so suchen in Europa heute viele Menschen nach Erfüllung. Immer mehr Menschen spüren, dass die Steigerung des Konsums keine Lösung für die entscheidenden Lebensfragen bietet. Darum muss auf die Quelle des Lebens, auf das Brot des Lebens verwiesen werden. Das ist heute der besondere Auftrag der Kirche. Daraus leitet sich der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden ab.

Das sensibilisiert für die wirklich leidenden Teile der Erde. Aus der Quelle der Botschaft entsteht ein Maß im Umgang mit den Gütern der Erde – mit ihrem Reichtum – in Verantwortung für die Armen und für künftige Generationen. Die Botschaft macht fähig, auch die Leiden in diesem Land wahrzunehmen, die sich steigern in der Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die doch gar keine Zukunft bietet.

Die Frage nach Gott ist alt, aber elementar. Sie ist der Horizont, wo wir mit Leid und Angst, mit Schuld und Verstrickung umgehen lernen! Sie ist das Kraftfeld, wo wir widerstehen lernen, den Mammon anzubeten.
Natürlich gibt es wichtige soziale Fragen:
Wie wird Arbeitslosigkeit bekämpft?
Was überwindet die Gewalt und die Gegengewalt in unseren Gesellschaften?
Wie gelingt es, das Bedürfnis nach Sicherheit auf der einen Seite und die Sehnsucht nach Anerkennung auf der anderen Seite zu stillen?
Was muss geschehen, dass Familien ihre Kinder ernähren und auf eine gesicherte Zukunft vorbereiten können?
Was muss verändert werden, um unterdrückten Frauen zu Recht und Würde zu verhelfen?

All diese Fragen können nur ausgehalten und beantwortet werden, wenn wir der entscheidenden Frage nach Gott standhalten. Sicherheit und Geborgenheit hängen nicht an den Strukturen eines geordneten Marktes oder an den Divisionen einer wohlgerüsteten Armee, auch nicht an der verzweifelten Entschlossenheit zur Gewalt.
Sicherheit und Geborgenheit sind versprochen in der Wahrheit der Botschaft. Auch ohne ausdrücklichen Bezug darauf müssen die Mächtigen ihre Verantwortung aus der Wahrheit schöpfen.

Gott hatte Lydia das Herz geöffnet, dass sie von Paulus diese Botschaft annahm. Sie hat ihr Haus geöffnet, dass Gemeinde sich sammelt und stärkt.
Sie ist darin Vorbild und Anfang für die Ausbreitung der Botschaft nach Europa gewesen. Sie ist darin auch ein Modell für die heutige Suche.

Offene Herzen haben offene Häuser zur Folge.
Sie sind die Keimzellen für ein neues Wachstum unserer Kirche, für ein künftiges Europa und für eine friedliche Welt.