Predigt am 1. Weihnachtstag 2022 in der Neustädter Marienkirche in Bielefeld

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Annette Kurschus

Präses Annette Kurschus, Leitende Geistliche der Evangelischen Kirche von Westfalen und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland 

Kolosser 2, 3-10

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe.

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

I.

Weihnachten als Fest der Schätze:

So, liebe Gemeinde am ersten Weihnachtstag, so habe ich das noch nie gesehen. Es ist eine wundersame Spur, auf die uns der erste Satz des heutigen Predigttextes lockt. Und eine reizvolle. Sofort stellen sich Bilder und Erinnerungen ein:

An die Weihnachtsfeste in Kindertagen.

Da lagen am Morgen des ersten Weihnachtstags die ausgepackten Geschenke tatsächlich wie eine Schatzsammlung im Wohnzimmer ausgebreitet. Wie habe ich, wenn ich spät am Heiligen Abend glücklich aufgewühlt in meinem Bett lag, dem nächsten Tag entgegengefiebert. Wie bin ich am Morgen aufgewacht und konnte es kaum abwarten: Endlich den heiß ersehnten Fotoapparat ausprobieren, der unterm Tannenbaum lag. Endlich das neue Buch von Enid Blytons „Fünf Freunden“ anfangen.

Kindlich weihnachtliche Schatzfreude.

Die liegt inzwischen lange zurück.

Andere Schätze treten in den Vordergrund: Die wunderbare Musik, die in die Weihnachstzeit gehört. Und die vertrauten Lieder. Sie werden mir mit den Jahren immer lieber. Ein Schatz, der nie vergeht. Oder die großen Texte der Bibel, die in diesen weihnachtlichen Tagen laut werden. Ich kann mich nicht satt daran hören. In jedem Jahr – das ist auch so ein Schatz – klingen sie neu.

Weihnachten ist auch das Fest der verlorenen Schätze. Mir jedenfalls wird in diesen Tagen besonders bewusst, wen und was ich schmerzlich vermisse. Was für immer vergangen ist – und was mir innerlich doch für immer ein Schatz bleiben wird. Das Elternhaus, wo Weihnachten einen Zauber hatte wie später nie wieder. Mit all den geliebten Ritualen, die es da gab. Mit den kleinen Reibereien auch, ohne die Weihnachten nicht Weihnachten gewesen wäre. Die Großeltern, die lange dazugehörten. Am ersten Weihnachtstag die einen, am zweiten die anderen. Und die Geschichten, die sie von früher erzählten.

In einer dieser Geschichten ging es um einen Schatz, der mich als Kind ungeheuer faszinierte. Im Januar 1945, kurz nach Weihnachten, machten sie sich in Ostpreußen auf die Flucht. Es war bitter kalt, alles musste schnell gehen, der Weg drohte mühsam zu werden – nur das allernötigste Gepäck durfte mit. Alle dachten, sie kommen bald wieder, und so haben sie das, was ihnen wichtig war, in Kisten gepackt und vergraben. Kisten mit Besteck und Porzellan; Kisten mit wichtigen Andenken und kostbaren Erinnerungen. Keine Reichtümer verbargen sich darin, aber das Liebste und Wichtigste; das, was sie brauchen würden, wenn sie zurückkehrten: persönliche Schätze eben. Diese vergrabenen Schatzkisten sind mir als Kind nicht aus dem Kopf gegangen. Irgendwann, wenn ich erst groß und alt genug war, wollte ich sie suchen. Nach Ostpreußen fahren und danach graben. Das stellte ich mir manchmal vor: meinen Großeltern stolz wiederzubringen, was sie so hoffnungsvoll zurückgelassen hatten. Wie eine Art Pfand haben sie es damals in die Kisten gepackt, als zuversichtliches Zeichen: Wir kommen wieder heim. Ja, irgendwann kommen wir wieder heim.

Nun, es ist anders gekommen.

Welche Schätze mögen die Menschen, die zum Weihnachtsfest 2022 auf der Flucht sind, zurückgelassen haben – aus der Ukraine oder aus anderen Ländern der Welt ? Menschen und Häuser und Wohnungen, Vertrautes und Liebgewordenes. Jedes kostbar auf seine Art.

II.

Weihnachten als Fest der Schätze.

Alles in diesen Tagen ist verschwenderisch, auch da, wo eigentlich zu wenig ist. Alles ist im Überfluss da – Geschenke, Dekoration, Kalorien. Auch die Gefühle, die Freude, das Glück, die Rührung. Derart ohne Maßen ist alles da, dass das Weihnachtsfest für manche zu einer maßlosen emotionalen oder finanziellen Überforderung gerät. Fülle kippt um in Völlerei, heiße Gefühle entladen sich im Streit. In jedem Jahr sieht man sie kommen, diese seltsame weihnachtliche Unvernunft, die nicht weniger als alles haben will. Und man kann sich ihr kaum entziehen.

Vielleicht hat man die Zeilen aus dem Kolosserbrief aus diesem Grund dem Ersten Weihnachtstag zugedacht. Sie bersten förmlich von vollmundigen, hochfliegenden Worten. Wie auf einer Schaukel, die immer höher steigt, schwingt der Schreiber sich auf, er ereifert sich geradezu vor Begeisterung: In Christus liegen alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen. Nicht einige – alle!  In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

Mehr geht nicht. Christus in allem und über alles. Heimlich bewundere ich Menschen, die sich trauen, so zu reden. So richtig begeisterte Menschen haben ja was. Man spürt ihnen ab, wie sie für ihre Sache brennen, das steckt an, und solche Menschen können wirklich etwas bewegen.

In der vergangenen Woche war ich auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt zu Besuch im WDR 2-Glashaus. Unter dem Motto „Weihnachtswunder“ hat der Sender über mehrere Tage Geld für Aktionen gegen den Hunger in der Welt gesammelt. Das Prinzip war denkbar simpel: Du äußerst einen Liedwunsch, und der wird gegen Spende erfüllt. Als ich hinter der Bühne ankam, geriet ich unmittelbar in den Sog der begeisterten Leute: Techniker, Moderator und Moderatorin, draußen auf dem Hansaplatz eine große Traube von Zuschauenden – sie alle waren durch und durch beseelt von ihrer Idee und davon, dass die Idee so genial funktioniert. Die Hilfsbereitschaft schwappte schier über. Aus viel wurde immer mehr.

III.

Auch der Autor unseres Predigttextes ist so ein mitreißender Mensch, das merkt man. Er nennt sich Paulus, wobei die Forschung sich recht einig ist, dass es sich wohl um einen Schüler des Paulus handelt. Er möchte sich mit dem Namen des bekannten Apostels mehr Autorität verschaffen. Das verstand man damals nicht als Betrug, sondern als eine Ehre für den großen Lehrer. Tun wir ihm die Liebe, nennen wir ihn also auch Paulus.

Welch eine Überschwänglichkeit, mit der dieser Paulus Christus und das Christsein lobt! So viel tiefe Überzeugung. So viel energischer Schwung. Das beeindruckt mich. Und: Das macht mich beinahe schwindelig. Ich kann diese großen Worte nicht lesen ohne leise Skepsis.

Warum eigentlich? Warum kann ich nicht hemmungs- und bedenkenlos mit ins Volle gehen? Nicht einmal zu Weihnachten, obwohl es doch das Fest der Schätze und der Fülle ist. Ich könnte nicht so predigen wie Paulus schreibt: Christus sei aller Weisheit Maß und aller Erkenntnis letzter Schluss. Angenommen, ich würde - so wie er - Ihren festen Glauben preisen, liebe Gemeinde; angenommen, ich würde Sie auffordern, „verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben“ zu sein „und voller Dankbarkeit“. Angenommen, ich würde Sie ermahnen: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen“. Die meisten von Ihnen würden das wohl als unangenehm und übergriffig empfinden.

Wir haben zweitausend Jahre Kirchengeschichte nach der Geburt Christi im Kopf, die beides waren: Voller Heil und voller Unheil. Frieden stiftend und Krieg anzettelnd. Befreiend und inquisitorisch. Diese zweitausend Jahre lehren uns zu Recht, behutsam und selbstkritisch zu sein in unserer Rede. Und dennoch stachelt mich dieser Paulus an zu der Frage, ob wir Christen die Butter nicht etwas dicker aufs Brot streichen sollten als wir es gegenwärtig tun. Geben wir den Menschen das geistliche Brot womöglich etwas zu trocken, so dass wir uns nicht wundern müssen, wenn sie keinen Appetit darauf haben? Spreche ich selbst genug davon, welch eine tragende Lebenskraft der Glaube an Christus ist? Strahle ich aus, wie nötig ich diese Kraft zum Leben brauche? Traue ich den Menschen, die ich anspreche, genug zu? Oder halte ich sie klein mit läppischen Geschichten, die sie sich besser selbst erzählen können? Gebe ich mich damit zufrieden, wenn sie alles ganz nett finden und gern wiederkommen, statt mich mit ernsthaft mit ihnen zusammen auf die Suche zu machen und gemeinsam darum zu ringen, verwurzelt und gegründet zu sein in Christus – und fest im Glauben?

IV.

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit.“

Wenn ich genau hinhöre, bringen diese Worte eine tiefe Sehnsucht in mir zum Klingen. Verwurzelt, gegründet, dankbar – wenn uns das Weihnachtsfest dazu helfen würde: welch ein Schatz! Festen Stand haben und starken Halt, Mut zum Leben, wie immer es darin kommen mag. Und dankbar sein, trotz all der elenden Krisen, trotz mancher Verluste. So stelle ich mir den tiefen Schatz des Glaubens vor, zumal in Zeiten voller Angst und Verunsicherung. Dieser Schatz ist es, nach dem so viele suchen, wenn sie Weihnachten feiern. Auch wenn sie den Ursprung und den Sinn des Festes längst vergessen haben.

Die letzten Jahre haben Entwurzelungen ausgelöst, wie wir sie nicht für möglich gehalten haben. Und sie haben entwurzelte Menschen in Millionenzahl in unser Land und unsere Nachbarschaften getrieben. Enorm viele Menschen haben ihren Halt verloren oder drohen ihn zu verlieren, materiell und existenziell. Kinder verlieren ihre Lebensrhythmen und haben es schwer, Wurzeln zu schlagen in der Welt. Die Systeme unserer Daseinsvorsorge wanken bedrohlich, manche sind kurz davor zusammenzubrechen. Die Entwurzelung wird spürbar in ganz banalen Alltagssituationen. Zum Beispiel fahre ich kaum noch ohne leise Anspannung über eine Autobahnbrücke. Gäbe es Messgeräte, um den Pegel des Vertrauens in unserer Gesellschaft zu messen, er wäre mindestens so besorgniserregend wie der Stand des Grundwassers im letzten Sommer.

Es gibt eine geistliche Entwurzelung, die wir nicht unterschätzen dürfen. Kirchliche und und religiöse Bindungen lösen sich dramatisch auf. Ich ahne: Die gegenwärtige, teils aggressive Abwendung von Kirche und christlichem Glauben ist auch Ausdruck von Verzweiflung. Und es ist nicht allein die Verzweiflung der Katholiken und auch mancher Protestanten über die Reformunwilligkeit der Kirchen.

Es ist auch eine Unfähigkeit, überhaupt glauben zu können und zu wollen, eine resignierte Abgefundenheit mit dem Hier und Jetzt, ein Aufgeben von Hoffnung, die auf Größeres vertraut als den vorfindlichen Augenschein. Diese trostlose Lebenshaltung bedrückt mich viel mehr als die reine Zahl der Kirchenaustritte. Wir dürfen ihr um Gottes und der Menschen willen keinen freien Lauf lassen.

V.

Doch zurück zu Paulus. Er hätte zu seinen Zeiten allen Grund gehabt, sich in Verzweiflung zu stürzen. Stattdessen stürzt er sich Hals über Kopf in den Glauben an Christus, seinen Retter. Er preist den als Schatz aller Weisheit, der die geistlich Armen selig pries. Er preist ihn, den ohnmächtig Gekreuzigten, als Haupt aller Mächte und Gewalten. Und er tut es ohne Einschränkungen. Ohne Wenn und Aber, ohne Vielleicht und „Könnte sein“. Gegen allen Augenschein. Zu Zeiten, in denen alle Macht und alle Gewalt in Rom saß. Zu Zeiten, in denen die verquaste gnostische Philosophie den Menschen empfahl, allen weltlichen Freuden zu entsagen und nach dem Jenseits zu streben. Zu Zeiten, in denen die Jesusanhänger als Esel ausgelacht wurden. Das muss man wissen, wenn man den Predigttext hört: Der so genannte Paulus und die Gemeinde, die zuhörte, als sein Brief verlesen wurde – sie hatten damals keinen Deut mehr als wir Anlass dazu, verwurzelt und gegründet in Chriustus zu sein, fest im Glauben und dankbar. 

Eine Hoffnungsgemeinschaft zu sein: Das, liebe Weihnachtsgemeinde, ist unsere Aufgabe. Menschen mitzunehmen in das Kraftfeld eines Schatzes, der weder unter dem Weihnachtsbaum versteckt noch in Kisten vergraben ist, sondern der unserem Leben Halt und Ziel gibt.

Gott wird ein Kind: Was für ein unbegreiflicher, geheimnisvoller Schatz!

Gott hat das Menschsein erwählt, und das in seiner wehrlosesten, zartesten, hilfsbedürftigsten Form eines Säuglings. Wir haben also allen Grund, unübertreffbar hoch vom Menschen zu denken und zu reden. Auch und gerade von den schwachen, kleinen, gern übersehenen Menschen in unserer Gesellschaft.  Kein einziger Mensch darf uns gleichgültig sein.

Hoffnungsgemeinschaft lasst uns sein. Füreinander und für andere da, miteinander und mit anderen unterwegs. Was spricht dagegen, diesen Paulus mit all seinem verrückten, mit seinem großartigen Hoffnungsmaximalismus über den garstigen Graben von zweitausend Jahre Christentum zu heben? Nichts. Alles spricht dafür, heute, zu Weihnachten 2022, die Glocken für ihn zu läuten, ihm ein Mikrophon in die Hand zu geben, ihn zu uns sprechen zu lassen – und ihn beim Wort zu nehmen:

In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.

Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe.

Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist.

Ein gesegnetes Christfest!

Amen.