Lass uns einfältig werden (Psalm 131)

22. Mai 2002

Predigt über Psalm 131 im Künstler-Gottesdienst „Mein Psalm“, Kirche Am Hohenzollernplatz, Berlin

Sie Einfaltspinsel! – Wer unter uns möchte sich so etwas nachsagen lassen? Und doch werden wir gleich ein Hohes Lied auf die Einfalt hören.
Mann, sind sie aber naiv! – Auch das würde niemand unter uns als Kompliment verstehen. Und doch werden wir sogleich ein kurzes, ein großes Loblied auf die Naivität hören.

Einfalt und Naivität, die beiden erscheinen als das Gegenteil all dessen, was wir unter „gekonnt“ verstehen – und unter „Kunst“.
Und doch bezeichnen sie in einem bestimmten Sinne nichts anderes als den höchsten Ausdruck einer Kunst, nämlich: der Lebens-Kunst. Nicht etwa bloßer Lifestyle, sondern eben wahre Lebens- und wie auf der Stelle hinzuzufügen wäre, damit jede Verwechslung (und Verharmlosung) auszuschließen ist: Sterbens-Kunst.
O sancta simplicitas! Wir alle haben diesen ironischen, stöhnenden Stoßseufzer im Ohr. Oh, du heilige Einfalt! Und dabei war das ursprünglich gar nicht abwertend gemeint, sondern ganz im Ernst: Sancta simplicitas. Heilige Einfalt!
Ganz wir in unserem Predigttext, in unserem, in „meinem“ Psalm.

Hören wir also den Psalm 131:

Psalm 131:1 HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.
2 Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.
3 Israel, hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit!

Der Beter dieses Psalms war offenbar kein Kind von Traurigkeit gewesen – und alles andere als ein stilles Wasser. Er hat offenbar einen weiten, einen wilden Lebens-Weg hinter sich:

2 Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden...

Geworden – nicht: schon immer gewesen! Im Gegenteil!!

... wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.

Jetzt erst! Nicht: Damals!!

Da mag nun mancher Spötter denken – und sagen: Im Alter wird man eben kindisch. Wir kennen das ja: Aus ehemals jungen 68ern werden erst alte 68er und dann staatstragende Personen, die mit ihren strengen Reden all das heute verurteilen, was sie früher einmal angestellt haben. Sogar zu recht. Sie dunkeln eben, wie ein berühmter Theologe einmal gesagt hat – sie dunkeln eben alle nach. Und wir mit ihnen.

Aber genau dies ist es eben nicht, was der Psalmist meint: Er beschreibt den Prozess, den er durchlaufen hat, gerade nicht als einen Verfallsprozess, sondern als einen Vorgang des Wachstums – weg vom Verfall. Nicht als einen Prozess des Nachdunkelns. Sondern er spricht von einem Prozess der Erhellung, der Aufklärung. Man kann auch sagen: Der Erleuchtung…

Es ist eben ein himmelweiter Unterschied ob man sagt: Im Alter wird man kindisch
– oder aber: Je länger ich lebe, je mehr ich von dieser Welt erfahre – desto kindlicher, desto naiver, desto einfältiger möchte ich empfinden.

Der alte Konrad Adenauer soll einmal in seinem unnachahmlichen Deutsch gesagt haben: Je einfacher denken, ist oft eine Gabe Gottes! Aber wer über den angeblich so beschränkten Wortschatz dieses alten Fuchses spottete, hat vielleicht nur dessen Fähigkeit verkannt, den Dingen auf jenen Grund zu sehen, an dem sie mit einem Mal so wundersam elementar werden.

Nein, wir werden in diesem Psalm nicht Zeuge eines Nachdunkelns, sondern einer Aufhellung, nicht einer hinfälligen Alterung, sondern einer auffälligen Reifung:

2 Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.

Auch diese Redensart kennen wir – und finden sie so schön: Zufrieden wie ein satter Säugling…

Aber auch dieses meint der Psalmist von sich gerade nicht. Der satte Säugling ist zwar zufrieden – und macht auch brav sein Bäuerchen. Doch über eine kleine Weile plärrt er wieder – und stellt sich an, als hätte er noch nie etwas zu trinken bekommen.

Doch wenn der Psalmist sich selber beschreibt, spricht er nicht von einem satten Säugling, ja: er spricht überhaupt nicht von einem Säugling, sondern – im Gegenteil! – von einem Kind, das gerade entwöhnt ist.

In der Übersetzung dieses Psalms von Martin Buber und Franz Rosenzweig heißt es deshalb auch philologisch etwas genauer:

Habe ich nicht geebnet,
still gemacht meine Seele:
wie ein Entwöhntes an seiner Mutter,
wie das Entwöhnte ist an mir meine Seele.

Der scheinbar unaufhaltsame Kreislauf zwischen Plärren, Trinken, Bäuerchen, zufriedener Stille und neuerlichem Plärren ist also zum Stillstand gekommen.
Nicht das akute Begehren ist auf eine Weile gestillt, sondern das Begehren ist gänzlich zum Stillstand gekommen. Jetzt herrscht wirklich Ruhe. Die Ruhe nach dem Sturm – die Ruhe nach Sturm und Drang. Aber eben nicht die Ruhe mangels Kraft, sondern die Kraft der Ruhe:

… wie ein Entwöhntes an seiner Mutter,
wie das Entwöhnte ist an mir meine Seele.

Und in der Tat: Der Psalmist beschreibt diesen Vorgang nicht – wie das Luthers schöne Übersetzung nahe legen könnte – als das Ergebnis des hinfälligen Schwindens, sondern geradezu als bewusste Lebensleistung:

Habe ich nicht geebnet,
still gemacht meine Seele:…

Da ist jemand bewusst erwachsen geworden, hat sich losgemacht von seinen kindischen Bedürfnissen – Greinen, Saugen, Seufzen, Schlafen, Greinen. Und ist darüber kindlich geworden, naiv, einfältig.

Matthias Claudius besingt diesen Zustand so – und es ist, als hätte er gerade unseren Psalm dabei im Ohr:

Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir  hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.

(EG 482, 5)

Aber – Hand aufs Herz: Wollen wir das denn überhaupt – wie Kinder fromm und fröhlich sein?

Anrührend finden wir das Bild – und das Lied – schon, abends. Aber den Tag über leben wir doch lieber anders.
Wozu haben wir denn das alles gelernt und geübt, was wir nun so herrlich können: das Denken und Schreiben, das Trachten und Dichten, Malen, Komponieren, Darstellen, das Kirchenleiten? Etwa nur, um nun – kaum errungen – alles wieder zu vergessen?

Und was würden erst all unsere Galeristen, Chefredakteure, Intendanten und Generalsuperintendenten sagen, wenn wir ihnen einfach mitteilten: „Ach, wissen Sie, ich habe mich nun ganz entwöhnt – von meinem Können, meiner Kunst, meiner Macht und Verantwortung. Und nun möchte ich einfach mal still im Mutterschoß sitzen!“ Die einzigen, die sich über solch’ einen Entschluss vielleicht noch freuen würden, sind unsere Ehepartner und Kinder (und Lebensabschnittsbegleiter) – wenn es dafür nicht auch schon zu spät ist.

Also: Mit einem solchen  Beschluss würden wir im Zweifel doch auch nur das fromme und fröhliche Kind mit dem Bade ausschütten.
Wer Beethoven spielen will, der muss das schon können – und es deshalb auch tüchtig üben. Wir wissen freilich auch: Auch die perfekteste Fingerfertigkeit, auch die größte Klangraffinesse macht noch keine große Musik. Auch der scharfsinnigste Verstand macht noch keine menschliche Einsicht.

Wir brauchen (und dürfen) also nicht, und schon gar nicht unter Berufung auf diesen Psalm, einem kindischen Dilettantismus das Wort reden. „Gut gemeint“ ist eben oft nur – Kitsch. Und faul. Aber wir können uns von einer Überschätzung dessen fern halten, was man neuhochdeutsch die „instrumentelle Vernunft“ nennt. Nach dem Motto: Was wir können, das tun wir auch. Oder wie das früher einmal spöttisch hieß: Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu betreiben.

Matthias Claudius lässt uns in diesem Sinne singen:

Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel

(EG 482, 4)

Hier wird also unterschieden (und jede Theologie und Lebenskunst lebt von klaren Unterscheidungen) zwischen den vielen Künsten – und dem einen Ziel. Wir können auch sagen: zwischen den vielen Tätigkeiten und der einen Beziehung.

Mit Künsten ist hier gemeint die Vielzahl unserer instrumentellen Fertigkeiten. Der Begriff lebt zum Beispiel weiter in dem Wort „Wasserkunst“. Wer einmal die Wasserkunst in Bautzen besichtigt hat, der hat deutlich vor Augen, was damit gemeint ist: Die raffinierte Ausnutzung physikalischer Gegebenheiten und glänzend angepasster technischer Erfindungen – eben ein Spitzenbeispiel instrumenteller Vernunft. Und die kann ja, wie das Exempel zeigt, durchaus segensreich sein. Aber es gibt eben Dimensionen unseres Lebens, in denen diese instrumentelle Vernunft nicht nur nichts nützt, sondern regelrecht schadet: Wir … suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.

Und das ist dort der Fall, wo eben ernstlich unterschieden werden muss, zwischen unseren vielen Tätigkeiten – und der einen entscheidenden Beziehung. Zwischen dem vielen, was wir tun – und dem einen, was wird sind. In und aus der Beziehung allein zu dem einen, die uns zu dem einen macht, nämlich zu seinem Ebenbild.

Und genau diese Unterscheidung zwischen am aktiven Tun und dem passiven Sein ist es, auf die es dem Psalmisten im 131. Psalm ankommt:

Der entwöhnte Säugling, genauer gesagt: der Mensch, der eben nicht mehr Säugling ist, erfreut sich gewissermaßen interesselos (ja im unmittelbaren Sinne nutzlos, ohne instrumentellen Zweck) der Beziehung zu seiner Mutter – und zu sich selber. Er verlangt nichts von seiner Mutter – und nichts für sich selbst. Das Bedürfnis, das triebhafte Bedürfnis nach Selbsterhaltung,
Selbstbestätigung,
Selbstbetätigung,
Selbstverwirklichung
ist zur Ruhe gekommen.

Und wiederum genauer: Zur Ruhe gebracht worden – durch Reflexion.

Und noch einmal genauer: Nicht durch Selbstreflexion, nicht durch das triebhaft auf sich selbst konzentrierte Reflektieren, sondern durch die Reflexion auf die eine Urbeziehung zu dem einen Ur-Sein und All-Sein, zu Gott.
Und zwar auf jene eine (und einzige) Ur-Beziehung, die frei ist von dem Zwang des Haben-Müssens – und stattdessen frei ist für das schlichte Sein. Für das freie Sein in dieser von allem anderen befreienden Beziehung.
Es ist dies diese freischwebende Zustand, von dem Augustinus in seinen „Confessiones“ spricht: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir.“

Denn dass das Bild von dem entwöhnten Kind im Schoß seiner Mutter für die von instrumentellen Zwecken und eigensüchtigen Interessen freie Beziehung zwischen Gott und Mensch steht, das bedarf ja keiner Hervorhebung mehr. Eher schon der Umstand, dass der Psalmist die Beziehung zwischen einer Frau und ihrem entwöhnten Kind als Rollen-Modell wählt – nur so viel zu unserem patriarchalisch überspannten Gottesbild und der feministisch überspannten Kritik daran.

Der Psalmist beschreibt also seinen Lebensweg hin zu einer ganz unverstellten Gottesbeziehung.

Unverstellt durch kindische Bedürfnisse und lebensgierige Triebe.

Unverstellt durch raffinierte Künste der Selbstverwirklichung und Selbsttäuschung, die uns nur immer tiefer in uns selber verstricken.

Unverstellt durch die Faszinationen der instrumentellen Vernunft, die uns nur immer weiter vom Ziel kommen lassen.

Unverstellt also auch von dem Leistungszwang, für einen Zweck unserer Existenz, für den Sinn unseres Lebens (wie Sterbens) selber aufkommen zu müssen – und zwar so, dass davon am Ende, nach dem Abend unseres irdischen Lebens, mehr übrig bleibt als ein Leichnam und danach etwas Asche, Staub und Erde.

In dieser wahrhaft kindlichen, einfältigen, naiven Gottesbeziehung erst können unsere Künste dann wahrhaft zur Kunst werden, zu einem reinen, ganz reinen – und im Sinne der Reinheit dann auch: raffinierten, also feinem Spiel.
Dann erst wirkt nichts mehr gekünstelt und künstlich, also nur un-echt – sondern echt und gekonnt.

Das Gegenteil jedenfalls können wir Tag für Tag beobachten – um uns herum und in uns selber drinnen: Jenen hektischen Autismus, der immer nach außen drängt, Kommunikation eifrig vortäuscht, und der doch nur eifersüchtig auf uns und in uns zurückweist.

Der Psalmist aber rechnet noch mit dem Kind im Erwachsenen.  „Ich bin doch nur ein alterndes Kind“, sagte Peter Zadek von sich dieser Tage. Welches Glück, dass es diesen heilsamen Unterschied noch gibt!
Nämlich den Unterschied zwischen dem zwanghaften veräußerlichten Rollenspiel, das tief drinnen nur um unsere eigene Rolle kreist – und dem wahrhaft selbstvergessenen Spiel des Kindes im Manne, in der Frau, im Menschen, im Künstler, im Lebens- wie im Sterbenskünstler.

Nun aber genug der Naivität, jedenfalls der gespielten Naivität!

Denn auch unser Psalmist ist nicht so naiv, wie es klingen könnte. Er beginnt sein Gebet mit dem Satz:

Psalm 131:1 HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.

Auf den ersten – und gewiss auch auf den letzten – Blick ist dies ganz ernst gemeint. Aber zwischendrin können wir doch nicht ganz die Ironie übersehen, die in der Situation selber liegt.
Da schwört einer dem stolzen Versuch ab, mit großen Dingen umzugehen, die ihm zu wunderbar sind. Und dann spricht er über seine Beziehung zu Gott.
Aber was könnte größer sein (und wunderbarer) als eine solche zwanglose, freie Beziehung zu Gott – wie sie am besten noch in der Beziehung zwischen einem entwöhnten Säugling und seiner Mutter angedeutet werden kann?

Und was könnte so weit außerhalb unserer eigenmächtigen Reichweite liegen, außerhalb der Reichweite unserer nur instrumentellen Vernunft?

In der Übersetzung von Buber und Rosenzweig lesen wir das so:

Nicht überhebt sich mein Herz,
nicht versteigen sich meine Augen,
nicht gehe ich um mit Großem,
mit mir zu Wunderbarem.

Die Ironie dieser Geschichte, denn es ist ja offenkundig eine hoch-dramatische Vorgeschichte, die in dem Psalmisten zur Ruhe gekommen ist – die Pointe dieser Geschichte liegt darin, dass sich der Beter,

dass sich dieses Gebet

und dass damit auch wir selber,

soweit wir uns auf dieses Gebet einlassen (und einstimmen lassen)…

dass wir alle zu dieser in sich selber ruhenden Gottes-Beziehung genau in dem Augenblick gelangen, in dem es uns nach ihr nicht mehr triebhaft und eigensüchtig verlangt.

Und schon gar nicht nach etwas anderem.

Sondern wo wir aufhören, hektisch nach Ersatzbefriedigungen zu suchen – nach einem Ersatz nämlich für unsere letztlich nie befriedigend gelingende Selbstbestätigung, die doch sehr an den immer wieder aufs Neue plärrenden Säugling erinnert. Satt ist er nur auf Zeit – und also nur zwischendrin.

Es ist eben ein pures Geschenk, ein reines Spiel, eben: eine Gnade, wenn wir, ja: dass wir in diesen Psalm mit all seinen Betern einstimmen können:

Psalm 131:1 HERR, mein Herz ist nicht hoffärtig, und meine Augen sind nicht stolz. Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.
2 Fürwahr, meine Seele ist still und ruhig geworden wie ein kleines Kind bei seiner Mutter; wie ein kleines Kind, so ist meine Seele in mir.
3 Israel, hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit!

Amen.