Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

"Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.

Liebe Schwestern und Brüder, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen. Im Gesetz steht geschrieben: ‚Ich will in andern Zungen und mit andern Lippen reden zu diesem Volk, und sie werden mich auch so nicht hören, spricht der Herr.' Darum ist die Zungenrede ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen; die prophetische Rede aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen. Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn sie aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist." (1.Korinther 14,1-3.20-25)
I.
Unsere Marienkirche ist ins Gerede gekommen. Ich begrüße das. Mir ist es recht, wenn man hier in der Stadt diese älteste mittelalterliche Kirche, die noch erhalten ist, ernst nimmt, diese Gemeindekirche seit 700 Jahren, in der die berlin-brandenburgischen Bischöfe seit Otto Dibelius, soweit es ihnen erlaubt war, regelmäßig Predigtdienst getan haben. Mir ist es recht, wenn die Öffentlichkeit wahrnimmt: Es ist eine gemeinsame Aufgabe, dieses Bauwerk zu erhalten. Jeder, der Augen hat, sieht, dass dafür große Anstrengungen nötig sind. Aber manche haben es erst gemerkt, als der Turm verhängt wurde, um auf diese Weise zu Geld zu kommen. Nun soll die Werbung an einem andern Ort angebracht werden; der Erlös soll gleichwohl den Arbeiten an Marien zu Gute kommen. Mir ist das recht. Noch wichtiger aber ist es, wenn Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt sich dem Vorhaben anschließen und etwas für die Renovierung dieser Kirche tun. Ich würde es gern als Bischof noch erleben, dass nicht nur die Orgel neu erklingt, sondern auch das Gebäude in seiner ursprünglichen Schönheit erstrahlt.

Missverständnisse möchte ich gern ausschließen. Es darf nicht dahin kommen, dass unsere Kirchengebäude zu Werbeträgern werden. Dass Gerüste, die für Bauarbeiten errichtet werden und ohnehin verhängt werden müssen, auch mit angemessener Werbung behängt werden können, haben wir auch schon an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erlebt. Aber das ist nur für die Zeit von notwendigen Bauarbeiten zu befürworten. Sonst gerät die Bestimmung des Kirchengebäudes ins Zwielicht. Uns aber ist und bleibt die Eindeutigkeit unseres Zeugnisses, die Eindeutigkeit unseres Auftrags wichtig. Auch wenn ein Kirchengebäude ins Gerede kommt - noch wichtiger ist, was in diesem Kirchengebäude geredet wird. Klarheit und Eindeutigkeit sind dann das, was zählt. Denn nur was verständlich ist, baut auf. Nur was verstehbar ist, dient der Liebe.
II.
Klarheit und Eindeutigkeit der Rede, Verständlichkeit und Verstehbarkeit um der Liebe willen: das ist auch der Maßstab, an dem der Apostel Paulus sich ausrichtet. An diesem Maßstab misst er zwei Arten zu reden, von denen ihm aus der korinthischen Gemeinde berichtet wird: die Zungenrede und die prophetische Rede. Doch betrifft uns das? Ist uns das eine nicht so fern wie das andere? Zungenrede, Glossolalie, Reden in fremden Zungen - in unseren Gemeinden begegnet das kaum. Und prophetische Rede, die Konfrontation mit der Sprache des Gerichts, die Ankündigung göttlichen Eingreifens - wo findet das denn statt? Das Problem, mit dem Paulus sich auseinandersetzt, scheint wirklich nicht unser Problem zu sein.

Zungenrede, Glossolalie: Unvergesslich ist mir ein Gottesdienst in der südkoreanischen Stadt Inchon. Tausende von Menschen waren versammelt, um für die Wiedervereinigung des geteilten Korea zu beten. Auf eine leise Aufforderung hin hob das Gebet an; alle Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes waren an ihm beteiligt. Leise begann es. Aber dann schwoll es an wie ein Sturm. Es bewegte sich in Geräuschwellen, die durch das Kirchenschiff wogten. Einzelne Stimmen traten hervor und nahmen sich wieder zurück. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin wurde es leiser, um schließlich ganz zu verstummen. Alle hatten sie mit Gott geredet; nun sahen sie sich wieder an. Glossolalie, Reden in Zungen.

Das Misslingen gehört zur Zungenrede ebenso wie das Gelingen. Die biblische Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2) bleibt das Urbild gelingender Glossolaloie. Die Apostel werden vom heiligen Geist erfüllt und reden in Zungen. Aber in der bunten, multikulturellen Gesellschaft, die sich um die Geisterfüllten versammelt, meint jeder, seine eigene Sprache zu hören. Die Vielfalt der Sprachen, die plötzlich laut werden, stört das Verstehen nicht, sondern macht es möglich. Der Geist öffnet Menschen so für die Wahrheit Gottes, dass sie aufeinander hören können.

Aber es gibt ebenso den Fall misslingender Zungenrede. Dass Menschen aneinander vorbeireden, ist uns allen vertraut. Ja, das Aneinandervorbeireden ist inzwischen zu einem beliebten Gesellschaftsspiel geworden. Es trägt den Namen Talkshow. Noch nie habe ich jemanden getroffen, der an einer Talkshow teilnahm, weil er einen andern verstehen wollte. Sich selbst ins rechte Licht zu rücken - darum allein geht es. Eine Talkshow erreicht ja immer dann ihren Höhepunkt, wenn alle Beteiligten gleichzeitig reden - und das Publikum biegt sich vor Lachen. Es kann dieselbe Sprache verwendet werden - und man versteht sich nicht. Der Grund ist leicht zu erkennen: Verständigung ist gar nicht erstrebt; worum es geht, ist Selbstdarstellung, Seinwollen wie Gott. Wo die Sprache zur Selbstdarstellung eingesetzt wird, erstirbt das Verstehen. Wo Menschen die Selbstdarstellung zum eigentlichen Sinn ihres Lebens machen, ist das Missverstehen nicht ein vermeidbarer Unglücksfall; es ist eine zwangsläufige Folge.

Auch dafür gibt es ein biblisches Urbild: die Geschichte vom babylonischen Turm (1. Mose 11). Sie zeichnet das Bild einer Menschenwelt, die von wechselseitigem Verstehen geprägt war - ein ideales Bild, ein in die Anfangszeit projiziertes Urbild: "Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache." Woran scheitert dieses umfassende Verstehen, diese Gemeinschaft zwangloser Kommunikation? Es scheitert an dem Entschluss, Selbstdarstellung zum entscheidenden Maßstab menschlichen Handelns zu machen. Der menschliche Entschluss heißt: Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen." Wenn alles um den eigenen Namen kreist, wenn alles Handeln in der eigenen Selbstdarstellung seinen Sinn hat, dann ist Sprachverwirrung die Folge. Deshalb heißt die göttliche Antwort: "Lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe."

Auch in einer christlichen Gemeinde kann sich Sprachverwirrung ausbreiten. Zungenrede, Glossolalie kann misslingen. Mit einer solchen Sprachverwirrung setzt sich Paulus in der korinthischen Gemeinde auseinander. Die Fähigkeit, "in Zungen zu reden", wird dort als ein besonders wertvoller Erweis des Geistes angesehen. Entsprechend wird diese Fähigkeit überschätzt. Diejenigen, die sich einbilden, über diese Gabe zu verfügen, werden überheblich und denken, sie hätten von Gottes Geist eine größere Portion abbekommen. Diejenigen, die nicht anders können, als sich normal auszudrücken, kommen sich im Vergleich dazu armselig vor.

Die Formen, in denen Überheblichkeit sich ausdrückt, mögen sich gewandelt haben. Aber unbekannt ist sie auch uns nicht. Deshalb gilt der Einspruch des Apostels auch uns: Der Geist, auf den es ankommt, ist keine Qualität des Menschen, sondern eine Gabe Gottes. Niemand kann sich über den andern erheben, weil er denkt, er habe vom Geist eine größere Portion zur Verfügung. Denn der Geist gehört Gott. Wir gebrauchen ihn dann richtig, wenn wir den andern zum Verstehen verhelfen, wenn aufbaut, was wir aus dem Geist tun, wenn es im Geist der Liebe geschieht. Wenn einer unverständlich redet, findet sich hoffentlich ein anderer, der es übersetzt. Sonst hätte er besser geschwiegen. So einfach ist das.
III.
Es gibt eine andere Art zu reden, die dem Apostel ungleich wichtiger ist, die prophetische Rede. Sie ist klar, verständlich, unzweideutig, aufbauend auch dort, wo sie die Gestalt schneidender Kritik annimmt. Dass die Zungenrede als ein Problem erscheint, das uns nicht unmittelbar berührt, mag ja hinnehmbar sein. Aber wenn die prophetische Rede zu etwas wird, was wir nicht mehr kennen, dann ist Gefahr im Verzug. Paulus hat die prophetische Rede noch gekannt. Er wusste, dass die Prophetie nicht nur ins Alte Testament gehörte. Dass Johannes der Täufer, ja auch Jesus in dieser Tradition standen, war eindeutig. Für Paulus waren die Propheten neben den Aposteln und den Lehrern ein anerkannter, fester Stand in der frühen christlichen Gemeinde. Über das Besondere ihrer Verkündigung konnte es auch keinen Zweifel geben: Eindeutig auf die Christusbotschaft wie auf die Schrift des Alten Testaments musste sie bezogen sein, der Ermahnung und dem Trost der Gemeinde musste sie dienen; Schuld deckte sie auf; und sie verwies auf das, was kommen wird.

Später hat man in der Christenheit gedacht, diese Aufgabe prophetischen Redens falle einfach mit der Predigt zusammen. Vor allem die Reformation hat das so gesehen. In der Tat sind das Aufgaben jeder Predigt: hinzuweisen auf die Christusbotschaft und die heilige Schrift Alten wie Neuen Testaments, die Gemeinde zu erbauen und zu trösten, Schuld aufzudecken und auf das zu verweisen, was kommen wird. Wenn unsere Predigten nur diesem Maßstab entsprechen! Jedenfalls haben wir uns immer wieder neu an ihm zu orientieren.
IV.
Brauchen wir heute die prophetische Rede? Ich glaube, sie ist gerade dann besonders nötig, wenn Menschen sich selbst zu Herren über das Leben aufschwingen, wenn der Unterschied eingeebnet wird zwischen Gott und Mensch, wenn wir Menschen selbst unsere Endlichkeit überspringen und unsere Sterblichkeit ignorieren wollen. Davon allerdings muss gerade heute die Rede sein - nach der Woche, in der die Entschlüsselung des menschlichen Genoms als großer Triumph verkündet worden ist.

"Die Aussicht auf annähernde Unsterblichkeit treibt uns voran". So hat der amerikanische Wissenschaftler Bill Joy die Wünsche und Sehnsüchte derer beschrieben, die heute in den Bereichen von Gentechnik und Robotik, von Nanotechnologie und Nanomedizin von Fortschritt zu Fortschritt eilen.

In der vergangenen Woche wurde wieder ein solcher Fortschritt verkündet. Der Bauplan des menschlichen Erbguts wurde in einer Vollständigkeit entschlüsselt, die unlängst noch in unerreichbarer Ferne lag. Die Konkurrenz zwischen privatwirtschaftlicher und öffentlich geförderter Forschung hat zur Beschleunigung beigetragen. Von der Euphorie wurde auch der amerikanische Präsident Clinton ergriffen: "Heute lernen wir die Sprache, in der Gott Leben geschaffen hat."

Das zu lernen, hat die Forschung immer versucht. Und sie konnte sich dafür auf den christlichen Schöpfungsglauben berufen. Denn er unterscheidet Gott den Schöpfer von seiner Schöpfung. Deshalb ist die Schöpfung selbst nicht göttlich, sondern weltlich. Sie ist nicht unerklärlich, sondern unseren Erklärungsversuchen zugänglich. Das gilt auch für die Baugesetze der menschlichen Erbanlagen. Es ist Grund sich zu freuen, wenn man sie besser und vollständiger versteht.

Doch dieser Entdeckergeist muss sich mit Bescheidenheit, ja mit Demut verbinden. Auch jetzt liegt es nicht in der Hand des Menschen, für die eigene Unsterblichkeit zu sorgen. Niemand kann die Möglichkeiten überschauen, die sich aus den neuen Entdeckungen ergeben. Aber in ihrem Gebrauch muss der Respekt vor der Ehre Gottes wie vor der Würde des Menschen gewahrt bleiben. Heilen heißt deshalb das Ziel ihres Gebrauchs, nicht züchten.

Was wäre mehr zu begrüßen als die Aussicht, so schreckliche Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder AIDS heilen zu können? Aber auch wenn dieser Durchbruch gelingt, wird das Leiden nicht aus der Welt geschafft sein. Auch wenn der genetische Bauplan des Menschen immer genauer erkannt wird, bleibt der Mensch doch ein Geheimnis. Keiner von uns ist mit seiner genetischen Zusammensetzung gleichzusetzen. Unser Leben wird durch vielfältige Erfahrungen geprägt. Jede Einengung dieses Lebens auf seinen biologischen Input oder seinen wirtschaftlichen Output ist unannehmbar. Ob einer menschlich ist, hängt nicht nur von seinen Erbanlagen ab. Es hängt davon ab, ob wir unser Leben in Offenheit gegenüber Gott und in Zuwendung zu unseren Mitmenschen führen. Darauf kommt es an.

Prophetische Rede hat immer zur Demut gemahnt. Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Die Klarheit der prophetischen Rede ist auch heute nötig.

Amen