Predigt am Ostersonntag im Berliner Dom und in St. Matthäus zu Berlin (Johannes 20, 11-18)
Wolfgang Huber
Es gilt das gesprochene Wort.
I.
Ich erinnere mich noch genau: Es war der erste Ostersonntag hier in Berlin. Ich war auf dem Weg zum Gottesdienst. Die Ampel sprang auf Rot. Vor mir hielt ein Auto. Die Fahrerin stieg aus, kam zu mir ans Autofenster und rief mir zu: Christus ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden. Sprach's, stieg wieder in ihr Auto und fuhr weiter. So hatte ein Ostersonntag zuvor noch nie für mich angefangen.
Aber im vergangenen Jahr war es ähnlich. Wir waren zu Ostern in Indien, zu Gast bei der Evangelisch-Lutherischen Gossner-Kirche, unserer indischen Partnerkirche. In Ranchi, dem Zentrum dieser nordindischen Kirche, waren wir rechtzeitig zum Osterfest angekommen. Das Leben in der Osternacht hielt uns ziemlich in Atem. Von den Dörfern der Umgebung zogen die Menschen herbei; ihr Gesang erfüllte die ganze Nacht. Denn schon um zwei Uhr begann ein erster Ostergottesdienst auf dem Friedhof. Ab drei Uhr sammelten wir uns dann beim Haus des Bischofs. Und der Ruf scholl uns entgegen: "Christus ist auferstanden - Halleluja!" Singend zogen wir miteinander auf den Friedhof. Kerzen wurden auf die Gräber gestellt - ein Meer von vielen tausend Kerzen. Genau während der Predigt ging die Sonne auf und überstrahlte das Licht der Kerzen, die allmählich ausbrannten. So intensiv hatte ich das Auferstehungslicht noch nie erlebt.
Die Botschaft von der Auferstehung Jesu erreicht mich, wenn jemand mir sie zuruft, einfach und überraschend: Christus ist auferstanden. Mitten auf der Straße. Diese Botschaft verwandelt mich, wenn das Licht der Auferstehung mein Herz erreicht - wie in jener Nacht in Indien. Auferstehung geschieht, wenn eine Beziehung in Gang kommt.
Die Ostergeschichte ist eine Liebesgeschichte. Sie handelt von einer Beziehung. Da reicht es nicht zu, wenn jemand zurückfragt: Kannst du es beweisen? Wer so fragt, fragt nicht zu viel, sondern zu wenig. Wir wissen es alle: Wenn bei einer Liebesgeschichte jemand fragt: Kannst du das beweisen? dann ist die schiefe Bahn schon betreten. Er hat dann nicht zu viel, sondern zu wenig gefragt.
II.
Die Geschichte von Jesu Auferstehung ist eine Liebesgeschichte. Nach dem Bericht des Johannesevangeliums ist die erste Zeugin der Auferstehung eine Frau, die Jesus in besonderer Weise nahe stand. Es ist Maria Magdalena, Mirjam aus Migdal bei Tiberias am See Genezareth. Von der Herrschaft dunkler, niederdrückender Mächte hatte Jesus sie befreit. Seitdem hatte sie ihn begleitet, bis nach Jerusalem. Auch unter seinem Kreuz hatte sie gestanden und fassungslos seinen Tod miterlebt. Nun zieht die Trauer um ihren Meister sie zu seinem Grab. Sie will den Toten beweinen. Aber sie findet das Grab geöffnet. Sie eilt zurück zu den Jüngern; Petrus und der Lieblingsjünger Jesu kommen mit ihr ans Grab, sehen es leer, wissen aber nicht zu deuten, was geschehen ist. Sie kehren zurück in die Stadt. Maria aber bleibt. Im Johannesevangelium heißt es dann:
III.
Ich habe ein Bild des niederländischen Malers Rembrandt vor Augen. Der auferstandene Christus und Maria vor einer Gartenkulisse. Denn in einem Garten lag das Grab, das Joseph von Arimathia für die Beisetzung Jesu bereitgestellt hatte. In einen Garten ging Maria, um ihrer Trauer freien Lauf zu lassen. Dort überkam sie das Entsetzen darüber, dass man den Verschlussstein entfernt und den Leichnam offenbar beseitigt, gestohlen oder umgebettet hatte. Ratlos steht sie den beiden Weißgewandeten gegenüber. Ratlos wendet sie sich dem zu, den sie - mit dem Schleier der Tränen vor den Augen - für den Gärtner hält. Doch ein Wort zieht den Schleier weg: "Maria" sagt Jesus zu ihr. "Mein lieber Rabbi" erwidert sie in einem Wort, sinkt zu Boden und will ihn an den Füßen fassen. "Rühre mich nicht an" antwortet er - noli me tangere.
Es ist diese Szene, die Rembrandt ins Bild gefasst hat. "Noli me tangere" heißt sein Titel. Vertrautheit und Entrückung, Zuwendung und Zurücknahme sind in ihm in einer unnachahmlichen Weise miteinander verbunden. Als ein "Bildwunder" hat man es bezeichnet. Welch ein Vorgang, dass die trauernde Maria Jesus lebend findet. Der geliebteste Mensch, den sie bis zu diesem Augenblick für tot halten musste, lebt und ist doch ihrem Begreifen entzogen. Sie weiß sich ihm wieder nahe; und doch ist er für sie unerreichbar. In einen Lichtkranz hat der Maler Jesus gehüllt. Gesicht und Oberkörper wenden sich Maria zu, aber in der Beugung des Körpers entzieht er sich zugleich. Der Auferstandene lässt sich nicht festhalten oder umfangen; niemand - auch Maria nicht - kann ihn für sich behalten. Er bleibt ihr nahe; doch zugleich muss sie seine Entrückung annehmen: "Ich fahre auf zu meinem Vater". Maria versteht: Während die eine Hand sich noch nach Jesus ausstreckt, geht die andere zurück. Und der Blick sagt: Ich bleibe bei dir, auch wenn ich dich nicht halten kann.
Aber nicht das geheimnisvolle "Rühr mich nicht an" ist es, das von dieser Szene als Entscheidendes bleibt. Es bleibt vor allem, wie eine Anrede die Augen und das Herz zugleich öffnet. "Maria" sagt Jesus. Und wir hören alle mit: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." Wie sie diese Anrede hört: "Maria", da wird es für sie Ostern. Das Jesuswort wird zur Wirklichkeit, das derselbe Evangelist überliefert: "Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen." Ostern wird es, wenn wir von Jesus bei unserm Namen gerufen werden. Dann können wir antworten: "Rabbuni", mein lieber Rabbi. Und wir hören alle mit: "Meister meines Lebens, Herr der Welt."
IV.
Niemand soll denken: Diese Liebesgeschichte ist für mich unerreichbar, sie ist mir zu hoch. Besonders schnell ist auch Maria nicht mit dem Verstehen. Besonders einfach erschließt sich das Geschehen auch ihr nicht. Vielmehr ist diese Ostergeschichte voller Missverständnisse und falscher Vermutungen. Kaum dass Maria das Grab leer findet, begibt sie sich alsbald auf die falsche Fährte. Einen Grabraub vermutet sie in ihrem ersten Schrecken. Die beiden Gestalten im Grab selbst kann sie deshalb gar nicht deuten. Dass es Boten Gottes sind, kommt ihr nicht in den Sinn. Ohne zu wissen, wem ihre Klage gilt, sagt sie nur: "Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben." Eine Antwort bekommt sie nicht. So wendet sie sich klagend um und sieht einen Mann, den sie nicht erkennt. Er spricht sie sogar an und fragt sie: "Frau, was weinst du? Wen suchst du?" Aber auch seine Stimme sagt ihr nichts, kein Licht geht ihr auf. Dem Unbekannten unterstellt sie sogar, er könne der Täter sein - ein Gärtner, der in der Dunkelheit der Nacht den Leichnam entfernt hat. So schildert sie ihm gar nicht erst, warum sie weint, sondern konfrontiert ihn gleich mit ihrer Vermutung: "Hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen." Das vermeintliche Opfer - Jesus, von dem sie glaubt, er sei weggetragen worden - wird zum Täter gemacht. Aber sie erkennt ihn nicht, bis er sie mit Namen anredet. Da erst wendet sie sich ihm ganz zu.
Das ist kein einfacher Weg, keine glatte Geschichte. Zögernd, nach einer Fülle von Missverständnissen und Fehldeutungen, nach Vermutungen und Unterstellungen erst öffnet sich Maria für die Wahrheit, die ihr entgegentritt. Schneller als die Jünger ist sie gleichwohl, denn ihre Liebe hat sie am Grab gehalten. Die Regel des jüdischen Rechts, nach der das Zeugnis einer Frau nicht gültig sei, ist durch die Tat widerlegt. Diejenige, die nicht für würdig gehalten wurde, Zeugin eines so großen Geschehens zu sein, wird zur Freudenbotin, zur Botin des Lebens.
Zu unseren Zweifeln, unserem langsamen Verstehen dürfen wir uns getrost bekennen. Denn auch den ersten Zeugen der Auferstehung wurden die Augen erst allmählich geöffnet; sie hatten nicht schon Klarheit auf den ersten Blick. Deshalb brauchen wir uns unserer Zweifel, Mühen und Anfechtungen nicht zu schämen. Jesus schaut nicht nur die an, denen das Osterbekenntnis besonders schnell über die Lippen kommt. Wir brauchen nicht aufzugeben, wenn unser Osterglaube bruchstückhaft und unvollkommen ist. Nicht auf unsere Glaubensstärke kommt es an. Entscheidend ist, dass wir uns anreden lassen - Maria, Wolfgang, wie wir auch heißen. Uns gilt die Anrede des Auferstandenen, uns will er mit auf den Weg nehmen. Er redet uns persönlich an; er meint uns; er gibt uns nicht verloren. Darauf kommt es an. Darauf sollen wir hören. Und antworten.
Wo die Osterbotschaft gehört wird, dort ist die Lebenshoffnung größer als die Todesangst. Wo die Osterbotschaft angenommen wird, hat der Tod keine letzte Macht. Auch nicht der Tod, der Beziehungen zerstört und eigenes oder fremdes Leben missachtet. Nicht aktive Sterbehilfe, sondern aktive Hilfe zum Leben ist dann unser wichtigstes Thema. Der Osterruf wird dann nicht in die Kirche eingesperrt, auch nicht in diesen großen Dom, er dringt nach außen. Auch in Stadt und Land wird er gehört. Er hat seinen Platz auch auf der Straße, am Mittagstisch, in den Flur des Nachbarn hinein: Christus ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden.
Amen.
I.
Ich erinnere mich noch genau: Es war der erste Ostersonntag hier in Berlin. Ich war auf dem Weg zum Gottesdienst. Die Ampel sprang auf Rot. Vor mir hielt ein Auto. Die Fahrerin stieg aus, kam zu mir ans Autofenster und rief mir zu: Christus ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden. Sprach's, stieg wieder in ihr Auto und fuhr weiter. So hatte ein Ostersonntag zuvor noch nie für mich angefangen.
Aber im vergangenen Jahr war es ähnlich. Wir waren zu Ostern in Indien, zu Gast bei der Evangelisch-Lutherischen Gossner-Kirche, unserer indischen Partnerkirche. In Ranchi, dem Zentrum dieser nordindischen Kirche, waren wir rechtzeitig zum Osterfest angekommen. Das Leben in der Osternacht hielt uns ziemlich in Atem. Von den Dörfern der Umgebung zogen die Menschen herbei; ihr Gesang erfüllte die ganze Nacht. Denn schon um zwei Uhr begann ein erster Ostergottesdienst auf dem Friedhof. Ab drei Uhr sammelten wir uns dann beim Haus des Bischofs. Und der Ruf scholl uns entgegen: "Christus ist auferstanden - Halleluja!" Singend zogen wir miteinander auf den Friedhof. Kerzen wurden auf die Gräber gestellt - ein Meer von vielen tausend Kerzen. Genau während der Predigt ging die Sonne auf und überstrahlte das Licht der Kerzen, die allmählich ausbrannten. So intensiv hatte ich das Auferstehungslicht noch nie erlebt.
Die Botschaft von der Auferstehung Jesu erreicht mich, wenn jemand mir sie zuruft, einfach und überraschend: Christus ist auferstanden. Mitten auf der Straße. Diese Botschaft verwandelt mich, wenn das Licht der Auferstehung mein Herz erreicht - wie in jener Nacht in Indien. Auferstehung geschieht, wenn eine Beziehung in Gang kommt.
Die Ostergeschichte ist eine Liebesgeschichte. Sie handelt von einer Beziehung. Da reicht es nicht zu, wenn jemand zurückfragt: Kannst du es beweisen? Wer so fragt, fragt nicht zu viel, sondern zu wenig. Wir wissen es alle: Wenn bei einer Liebesgeschichte jemand fragt: Kannst du das beweisen? dann ist die schiefe Bahn schon betreten. Er hat dann nicht zu viel, sondern zu wenig gefragt.
II.
Die Geschichte von Jesu Auferstehung ist eine Liebesgeschichte. Nach dem Bericht des Johannesevangeliums ist die erste Zeugin der Auferstehung eine Frau, die Jesus in besonderer Weise nahe stand. Es ist Maria Magdalena, Mirjam aus Migdal bei Tiberias am See Genezareth. Von der Herrschaft dunkler, niederdrückender Mächte hatte Jesus sie befreit. Seitdem hatte sie ihn begleitet, bis nach Jerusalem. Auch unter seinem Kreuz hatte sie gestanden und fassungslos seinen Tod miterlebt. Nun zieht die Trauer um ihren Meister sie zu seinem Grab. Sie will den Toten beweinen. Aber sie findet das Grab geöffnet. Sie eilt zurück zu den Jüngern; Petrus und der Lieblingsjünger Jesu kommen mit ihr ans Grab, sehen es leer, wissen aber nicht zu deuten, was geschehen ist. Sie kehren zurück in die Stadt. Maria aber bleibt. Im Johannesevangelium heißt es dann:
"Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch: Rabbuni! Das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinen Gott und zu eurem Gott. Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt." (Johannes 20, 11-18)
III.
Ich habe ein Bild des niederländischen Malers Rembrandt vor Augen. Der auferstandene Christus und Maria vor einer Gartenkulisse. Denn in einem Garten lag das Grab, das Joseph von Arimathia für die Beisetzung Jesu bereitgestellt hatte. In einen Garten ging Maria, um ihrer Trauer freien Lauf zu lassen. Dort überkam sie das Entsetzen darüber, dass man den Verschlussstein entfernt und den Leichnam offenbar beseitigt, gestohlen oder umgebettet hatte. Ratlos steht sie den beiden Weißgewandeten gegenüber. Ratlos wendet sie sich dem zu, den sie - mit dem Schleier der Tränen vor den Augen - für den Gärtner hält. Doch ein Wort zieht den Schleier weg: "Maria" sagt Jesus zu ihr. "Mein lieber Rabbi" erwidert sie in einem Wort, sinkt zu Boden und will ihn an den Füßen fassen. "Rühre mich nicht an" antwortet er - noli me tangere.
Es ist diese Szene, die Rembrandt ins Bild gefasst hat. "Noli me tangere" heißt sein Titel. Vertrautheit und Entrückung, Zuwendung und Zurücknahme sind in ihm in einer unnachahmlichen Weise miteinander verbunden. Als ein "Bildwunder" hat man es bezeichnet. Welch ein Vorgang, dass die trauernde Maria Jesus lebend findet. Der geliebteste Mensch, den sie bis zu diesem Augenblick für tot halten musste, lebt und ist doch ihrem Begreifen entzogen. Sie weiß sich ihm wieder nahe; und doch ist er für sie unerreichbar. In einen Lichtkranz hat der Maler Jesus gehüllt. Gesicht und Oberkörper wenden sich Maria zu, aber in der Beugung des Körpers entzieht er sich zugleich. Der Auferstandene lässt sich nicht festhalten oder umfangen; niemand - auch Maria nicht - kann ihn für sich behalten. Er bleibt ihr nahe; doch zugleich muss sie seine Entrückung annehmen: "Ich fahre auf zu meinem Vater". Maria versteht: Während die eine Hand sich noch nach Jesus ausstreckt, geht die andere zurück. Und der Blick sagt: Ich bleibe bei dir, auch wenn ich dich nicht halten kann.
Aber nicht das geheimnisvolle "Rühr mich nicht an" ist es, das von dieser Szene als Entscheidendes bleibt. Es bleibt vor allem, wie eine Anrede die Augen und das Herz zugleich öffnet. "Maria" sagt Jesus. Und wir hören alle mit: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein." Wie sie diese Anrede hört: "Maria", da wird es für sie Ostern. Das Jesuswort wird zur Wirklichkeit, das derselbe Evangelist überliefert: "Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen." Ostern wird es, wenn wir von Jesus bei unserm Namen gerufen werden. Dann können wir antworten: "Rabbuni", mein lieber Rabbi. Und wir hören alle mit: "Meister meines Lebens, Herr der Welt."
IV.
Niemand soll denken: Diese Liebesgeschichte ist für mich unerreichbar, sie ist mir zu hoch. Besonders schnell ist auch Maria nicht mit dem Verstehen. Besonders einfach erschließt sich das Geschehen auch ihr nicht. Vielmehr ist diese Ostergeschichte voller Missverständnisse und falscher Vermutungen. Kaum dass Maria das Grab leer findet, begibt sie sich alsbald auf die falsche Fährte. Einen Grabraub vermutet sie in ihrem ersten Schrecken. Die beiden Gestalten im Grab selbst kann sie deshalb gar nicht deuten. Dass es Boten Gottes sind, kommt ihr nicht in den Sinn. Ohne zu wissen, wem ihre Klage gilt, sagt sie nur: "Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben." Eine Antwort bekommt sie nicht. So wendet sie sich klagend um und sieht einen Mann, den sie nicht erkennt. Er spricht sie sogar an und fragt sie: "Frau, was weinst du? Wen suchst du?" Aber auch seine Stimme sagt ihr nichts, kein Licht geht ihr auf. Dem Unbekannten unterstellt sie sogar, er könne der Täter sein - ein Gärtner, der in der Dunkelheit der Nacht den Leichnam entfernt hat. So schildert sie ihm gar nicht erst, warum sie weint, sondern konfrontiert ihn gleich mit ihrer Vermutung: "Hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen." Das vermeintliche Opfer - Jesus, von dem sie glaubt, er sei weggetragen worden - wird zum Täter gemacht. Aber sie erkennt ihn nicht, bis er sie mit Namen anredet. Da erst wendet sie sich ihm ganz zu.
Das ist kein einfacher Weg, keine glatte Geschichte. Zögernd, nach einer Fülle von Missverständnissen und Fehldeutungen, nach Vermutungen und Unterstellungen erst öffnet sich Maria für die Wahrheit, die ihr entgegentritt. Schneller als die Jünger ist sie gleichwohl, denn ihre Liebe hat sie am Grab gehalten. Die Regel des jüdischen Rechts, nach der das Zeugnis einer Frau nicht gültig sei, ist durch die Tat widerlegt. Diejenige, die nicht für würdig gehalten wurde, Zeugin eines so großen Geschehens zu sein, wird zur Freudenbotin, zur Botin des Lebens.
Zu unseren Zweifeln, unserem langsamen Verstehen dürfen wir uns getrost bekennen. Denn auch den ersten Zeugen der Auferstehung wurden die Augen erst allmählich geöffnet; sie hatten nicht schon Klarheit auf den ersten Blick. Deshalb brauchen wir uns unserer Zweifel, Mühen und Anfechtungen nicht zu schämen. Jesus schaut nicht nur die an, denen das Osterbekenntnis besonders schnell über die Lippen kommt. Wir brauchen nicht aufzugeben, wenn unser Osterglaube bruchstückhaft und unvollkommen ist. Nicht auf unsere Glaubensstärke kommt es an. Entscheidend ist, dass wir uns anreden lassen - Maria, Wolfgang, wie wir auch heißen. Uns gilt die Anrede des Auferstandenen, uns will er mit auf den Weg nehmen. Er redet uns persönlich an; er meint uns; er gibt uns nicht verloren. Darauf kommt es an. Darauf sollen wir hören. Und antworten.
Wo die Osterbotschaft gehört wird, dort ist die Lebenshoffnung größer als die Todesangst. Wo die Osterbotschaft angenommen wird, hat der Tod keine letzte Macht. Auch nicht der Tod, der Beziehungen zerstört und eigenes oder fremdes Leben missachtet. Nicht aktive Sterbehilfe, sondern aktive Hilfe zum Leben ist dann unser wichtigstes Thema. Der Osterruf wird dann nicht in die Kirche eingesperrt, auch nicht in diesen großen Dom, er dringt nach außen. Auch in Stadt und Land wird er gehört. Er hat seinen Platz auch auf der Straße, am Mittagstisch, in den Flur des Nachbarn hinein: Christus ist auferstanden - er ist wahrhaftig auferstanden.
Amen.