Predigt im Gottesdienst „Politischer Buß- und Bettag 2021“ am Mittwoch, 17. November, um 18 Uhr im Berliner Dom in Berlin
Prälat Dr. Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Römer 7, 18ff. / Markus 2, 1-12
Gnade sei mit euch und Friede…
Liebe Schwestern und Brüder,
„Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht“, seufzt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer. Gerade hat er einen komplizierten Gedankengang und eine ihn existenziell zutiefst belastende Erfahrung vorgetragen. Gerade hat er beschrieben, wie er, Paulus, immer wieder an den Geboten des jüdischen Gesetzes, der Tora, scheitert, die er „heilig, gerecht und gut“ nennt.
„Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“ Das ist mehr als Selbstkritik. Der Seufzer des Apostels meint mehr als: „Da habe ich mich wohl geirrt.“ Oder: „Da ist wohl etwas schiefgelaufen.“ Paulus ist verzweifelt, zutiefst verzweifelt. Und seine Verzweiflung gipfelt in dem Hilferuf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“
Zwischen seinem Seufzer und seinem verzweifelten Schrei deutet Paulus seine Situation theologisch. Er sieht sich in der Sünde gefangen und versteht unter Sünde eine Macht, die ihn zum Bösen treibt und der er nichts entgegenzusetzen hat. Gleichzeitig spürt er aber, dass er für das Böse, das er tut, voll und ganz verantwortlich ist. Eine schreckliche, eine abgründige Situation!
Liebe Schwestern und Brüder, wenn wir heute Abend an die Menschen in Afghanistan denken und auf den internationalen Einsatz am Hindukusch zurückblicken, dann ist das gewiss ein anderer Sachverhalt als jener, der den Apostel Paulus quälte. Und doch werden viele sich in dem Seufzer wiedererkennen: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“
Gutes haben sie gewollt, die Abgeordneten des Bundestages. Die Welt war entsetzt und zutiefst verunsichert, als Terroristen am 11. September 2001 die Türme des World Trade Centers in New York mit Flugzeugen zum Einsturz brachten. Schnell zeigte sich, dass die Gewalttaten in Afghanistan vorbereitet worden waren. Bundeskanzler Gerhard Schröder sicherte den USA „uneingeschränkte Solidarität“ zu und der Bundestag beschloss, sich mit der Bundeswehr am Kampf gegen den Terror zu beteiligen. 20 Jahre ist das nun her. Inzwischen ist das Land wieder in der Hand der radikalislamischen Taliban. „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“
Gutes wollten auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr und die vielen zivilen Helferinnen und Helfer. Allerdings war ihnen im Unterschied zum Apostel Paulus nicht immer hinreichend klar, worin genau das Gute bestand. 2009 und 2011 war ich in Afghanistan, besuchte dort als evangelischer Militärbischof die Soldatinnen und Soldaten und ihre Seelsorger. Schon 2009 sagten mir manche: „Wir sind uns über das Ziel unseres Einsatzes nicht mehr im Klaren. Dient er der Terrorbekämpfung? Sollen wir einem demokratischen System westlicher Prägung den Weg ebnen? Sollen wir Straßen und Brunnen bauen? Sollen wir die aufständischen Taliban niederringen?“ Die mir das sagten, hatten soeben einen Kameraden im Gefecht verloren. Einen von am Ende 59 deutschen Soldaten, die in diesem Einsatz den Tod fanden. Hunderte wurden an Leib und Seele verletzt. „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“
Selbstverständlich ist in Afghanistan auch Gutes geschehen: Eine ganze Generation von Afghanen und vor allem Afghaninnen hat die Freiheit geschmeckt und Bildung genossen. Insofern stimmt die pauschale Behauptung „Nichts ist gut in Afghanistan!“ selbst heute nicht. Aber ob das reicht?
„Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.“ Ob der Apostel Paulus das, was so viele Menschen in und für Afghanistan dachten, planten, taten, als „Sünde“ bezeichnen würde? Als ein Verhängnis mit großer Eigendynamik, für das die Akteure – Politiker, Soldatinnen, zivile Hilfskräfte – dennoch Verantwortung tragen? Wenn das zutrifft, dann müssen wir noch einmal auf das vorhin gehörte Evangelium von der Heilung des Gelähmten schauen.
Auch hier wird ein großer Aufwand betrieben. Vier vermutlich starke Männer tragen einen gelähmten Menschen zu dem Haus, in dem Jesus sich gerade mit vielen anderen Menschen aufhält. Um ihm das ganze Elend unmittelbar vor die Füße zu legen, decken sie das Dach des Hauses ab und senken den Gelähmten mitsamt seinem Bett in den Wohnraum hinab. Und dann geschieht etwas Merkwürdiges. Jesus stellt den Gelähmten nicht sogleich auf die Füße, sondern bringt ihn zunächst in anderer Weise zurecht: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Als Kind war ich immer enttäuscht über diese Wendung. Ich hätte mir so gewünscht, dass Jesus dem Gelähmten umstandslos auf die Sprünge geholfen und damit auch den Aufwand der Freunde honoriert hätte. Aber: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Da werden seine Gegner unruhig: „Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?“ Sie erkennen, wie radikal Jesus ist, obwohl der Gelähmte noch reglos auf seinem Bett liegt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Du bist frei von der Macht der Sünde. Frei von der Macht, die dich im Innersten lähmt. Frei davon, das Gute zu wollen, es aber nicht vollbringen zu können und daran zu verzweifeln
„Mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben.“ Das bekommen wir in jedem Gottesdienst gesagt und das wird uns heute am Buß- und Bettag in besonderer Weise zugesprochen. Jenen, die Entscheidungen für Afghanistan trafen und jenen, die sich im Land für seine Bewohnerinnen und Bewohner engagierten. Aber auch allen anderen, die Gutes vollbringen wollten und damit gescheitert sind und erst recht denen, die wie der Apostel Paulus verzweifelt schreien: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“
Jesus löst die Lähmung. Erst die innere und dann auch die äußere. Oft genug hängt ja beides zusammen. „Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!“ Erlöst von der Macht der Sünde und erlöst von der physischen Bewegungsunfähigkeit steht der Mann auf, nimmt sein Bett und verlässt das Haus. Was er dann tut, erfahren wir nicht, aber das ist vielleicht auch nicht wichtig. Wichtig ist, was wir tun, die wir ebenfalls durch das lösende Wort Jesu von der lähmenden Macht der Sünde befreit sind. Unsere Situation hat Jochen Klepper in seinem Adventslied treffend beschrieben: „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld, Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld. Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr, von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.“ Uns hält kein Dunkel mehr. Das Dunkel liegt hinter uns. Das ist die Gute Nachricht dieses Buß- und Bettages. Damit sind wir frei, uns umzuwenden und das Dunkel ohne Angst und Schuldgefühle zu betrachten: Warum konnten wir das Gute, das wir wollten, nicht vollbringen? Diese Frage allerdings muss gestellt und, so gut es geht, beantwortet werden. Der Einsatz in Afghanistan hat viele Menschen das Leben oder die Gesundheit gekostet - und darüber hinaus sehr viel Geld. Der Bundestag wird mit Hilfe von Fachleuten untersuchen müssen, warum es trotzdem nicht gelungen ist, Afghanistan und seinen Menschen Frieden zu bringen.
Zum Schluss, liebe Schwestern und Brüder, sei noch einmal dem Apostel Paulus das Wort gegeben. Unmittelbar nach seinem verzweifelten Schrei „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“ bekennt er: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Und der Friede Gottes…
Zur Aufzeichnung des diesjährigen Buß- und Bettagsgottesdienstes im Berliner Dom
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