Predigt für den Reformationstag in Augsburg
Manfred Kock
Die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche
Die ökumenische Dimension der Reformation
Es bewegt mich sehr, in diesem Jahr am Reformationsfest gerade in Augsburg zu sprechen. Im vorigen Jahr wurde die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" feierlich unterzeichnet.
Augsburg, das ist der Ort, an dem 1530 das Glaubenszeugnis der Reformation in Gestalt der Confessio Augustana veröffentlicht wurde.
Dieses Bekenntnis war nicht als eine Trennungserklärung gedacht, nach der fortan zwei Kirchen bestehen sollten. Es war vielmehr der Ausdruck einer ökumenischen Gesinnung, die das Bekenntnis des Glaubens aus dem Ursprung der Heiligen Schrift entwickelte, um zur Erneuerung der damals geistlich verwüsteten, römischen Kirche aus der Kraft des Wortes Gottes einzuladen.
So spreche ich heute über Reformation als ökumenisches Ereignis.
Das Ziel der Bekenntnisformulierungen im 16. Jahrhundert war nicht der Beginn einer neuen Kirche, sondern die Erneuerung der einen apostolischen und katholischen Kirche, die sich in ihrer reformatorischen Gestalt als eine Fortwirkung der Verheißung des ersten Pfingstfestes versteht.
1. Kapitel
Reformation bedeutet nicht Spaltung, sondern Sammlung der in vielerlei Hinsicht gespaltenen und zerrissenen Christenheit unter Wort und Sakrament.
Unter den in der Ökumene Aktiven gibt es immer wieder Stimmen, die meinen, die Feier des Reformationstages sei heutzutage ökumenisch hinderlich. Man solle doch heute alte Gräben nicht wieder aufreißen. Der Reformationstag betone zu sehr die Unterschiede (zur römisch-katholischen Kirche), wo wir doch die Gemeinsamkeiten suchen sollten.
Die ökumenische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts schien die Auffassung zu bestätigen. Wenn denn schon eine Feier am 31. Oktober stattfände, dann sollte nicht des reformatorischen Durchbruchs gedacht werden, sondern eher der ökumenischen Erneuerung, die seither stattgefunden hat.
Also: Wäre es richtiger, heute die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zu feiern, die vor einem Jahr hier in Augsburg stattfand?
Es gibt aber auch die gegenteiligen Stimmen, die sich besonders jetzt, nach dem Erscheinen der Schrift der römischen Glaubenskongregation mit dem Titel "Dominus Iesus", wieder melden. Sie fordern ein schärferes protestantisches Profil und meinen damit eine stärkere inhaltliche Abgrenzung von der römisch-katholischen Kirche.
Bischof Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, spricht heute zur gleichen Zeit bei der zentralen Reformationsveranstaltung in Essen. Im Vorfeld gab es vereinzelte Stimmen, die auch in der regionalen Presse zu lesen waren, mit der Aufforderung, Bischof Lehmann wieder auszuladen. Er sei Protestanten nach der römischen Erklärung nicht zuzumuten. Das ist eine der protestantischen Peinlichkeiten, deren ich mich schäme. Solche Einstellung ist ebenso unsinnig wie das andere Extrem, gar keine Reformationsfeier mehr abzuhalten.
Zugespitzt: Beide Einstellungen gehen davon aus, dass Reformation ein Synonym für Trennung ist. Während die einen die Wiedergewinnung der Einheit für das Gebot der Stunde halten, beharren die andern trotzig in protestantischer Gesinnung und geben der Einheit keine Chance. Auch der häufig gebrauchte Begriff von "Rückkehr-ökumene" geht in gewisser Weise davon aus, dass die Vorreformationszeit eine Zeit der kirchlichen Einheit gewesen sei. Das ist falsch. Die Reformation war eine ökumenische Aktion, ein Versuch, die schon zu damaliger Zeit in vielerlei Hinsicht zerrissene Christenheit unter dem Evangelium, durch Wort und Sakrament zu erneuern, zu sammeln und zu einen.
Der Kirchenhistoriker Gottfried Seebaß hat darauf hingewiesen, dass diese Sicht auch von katholischen Stimmen bestätigt wird.
1.1 Die Zerrissenheit der westlichen Kirche im Mittelalter
Abgesehen von der Trennung zwischen den orientalischen und orthodoxen Kirchen des Ostens und der römischen Westkirche war auch die letztere selbst für die Zeitgenossen keine Einheit. Neben den Hussiten in Böhmen, den Waldensern in Italien und anderen vorreformatorischen Bewegungen gab es eine Fülle anderer Spannungen und Differenzen. Es gab tiefe Gräben zwischen Klerus und Laien. Die Privilegien des Klerus, z.B. in steuerlicher Hinsicht und bei der Erfüllung von Pflichten für das Gemeinwesen, wurden als unerträglich empfunden. Es gab eine deutlich antiklerikale Stimmung. Dazu kam die Spaltung zwischen Welt- und Ordensklerus. Es gab heftig untereinander konkurrierende Orden, von denen Erasmus in seinem "Lob der Torheit" sagte, dass es Mönchen offenbar weniger darauf ankomme, Christus zu gleichen, als sich voneinander zu unterscheiden. Der Begriff der Sekte wurde in der Reformationszeit von protestantischer Seite für die verschiedenen Orden gebraucht. "Sie wurden als Zerreißung des einen Leibes Christi empfunden."
1.2. Die reformatorische Sehnsucht nach Einheit
Insbesondere zu Beginn der Reformation gab es eine große Hoffnung darauf, dass man diese Zerrissenheit nun überwinden könne. Ein Gebet von Albrecht Dürer, in dem er um den auf der Rückreise von Worms verschwundenen Luther klagt, lässt diese Sehnsucht besonders deutlich werden:
"Ach Gott vom Himmel, erbarm dich unser. O Herr Jesus Christe, bitt für dein Volk, erlös uns zur rechten Zeit, erhalt in uns den rechten wahren christlichen Glauben, versammele deine weits zertrennte Schaf durch dein Stimm, in der Schrift dein göttlich Wort genannt, hilf uns, dass wir dieselb dein Stimm kennen und keinem andern Schwiegeln (Locken) der Menschen Wahn nachfolgen, auf dass wir, Herr Jesus Christe, nit von dir weichen. Ruf den Schafen deiner Weide, deren noch ein Teils in der römischen Kirchen erfunden werden, mitsamt den Indianern (Indern), Moscabitern (Moskowitern), Reussen (Russen), Krichen (Griechen) wieder zusammen, die durch Beschwerung und Geiz der Päbst durch heiligen falschen Schein zertrennet worden sind.
...Und so wir diesen Mann (Luther) verlieren, der do klärer geschrieben hat dann nie keiner in 140 Jahrn gelebt, den du ein solchen evangelischen Geist geben hast, bitten wir dich, o himmlischer Vater, dass du deinen heiligen Geist wiederum gebest einem andern, der do dein heilige christliche Kirch allenthalben wieder versammel, auf dass wir all rein und christlich wieder leben werden, dass aus unsern guten Werken alle Unglaubige, als Türken, Heiden, Kalacuten (Inder), zu uns selbst bekehren und christlichen Glauben annehmen... Ach Herr, gib uns danach das neu geziert Jerusalem, das vom Himmel herabsteigt, davon Apocalypsis schreibt, das heilig klar Evangelium, das da nit mit menschlicher Lehr verdunkelt sei."
Dieser Text zeigt nicht nur, "dass man dem Papsttum die Schuld an den Spaltungen in der Christenheit gab," sondern wie man hoffte, dass eine erneuerte Christenheit "eine geradezu endzeitliche Attraktivität auch auf die nichtchristlichen Völker ausüben sollte."
Dass dies nicht die überspannten Erwartungen eines Einzelnen waren, macht das Augsburgische Bekenntnis deutlich. Im Artikel 7 wurde die Kirche an dem Verbindenden orientiert. "Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige christliche Kirche sein und bleiben muss, welche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden."
Manche betrachten diese Beschreibung der Kirche als ökumenisch wenig hilfreich. Sie sehen darin den Versuch, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Bischof Lehmann sagte zur Eröffnung der diesjährigen Herbst-Vollversammlung der Bischofskonferenz: "Es gibt eine Ökumene, die ich nicht fördern möchte. Es ist die Gemeinsamkeit auf dem kleinsten und geringsten Nenner. Unter solchen Voraussetzungen können wir nur alle gemeinsam ärmer werden."
Aber dieser Artikel ist eben anders zu verstehen. Das Evangelium kann man nicht hoch genug schätzen. Allein daran hängt die Einheit der Kirche: an der rechten Verkündigung und an den "dem Einsetzungssinn entsprechenden Umgang mit den Sakramenten".
Ich fasse diesen ersten Teil noch einmal zusammen:
Das auch heute noch gängige Geschichtsbild von der einheitlichen Kirche, die durch die Reformation ihre Spaltung erfuhr, wurde von vielen Menschen zur Zeit der Reformation nicht geteilt. Sie erhofften sich von der Reformation die Überwindung der Spaltungen und hofften, durch die Konzentration auf die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament zur neuen Einheit zu finden. Die ökumenische Dimension der Reformation ist ein Pfund, mit dem wir nach wie vor wuchern können. Eine Reformationsfeier, die sich in der Abgrenzung gefällt, verfehlt dieses Ziel der Reformation.
Sicher ist es schwer, der Versuchung der Abgrenzung zu widerstehen, solange die römische Doktrin die Kirchen der Reformation nur als kirchliche Gemeinschaften bezeichnet, während sie - die Glaubenkongregation sagt sogar: nur! - die eigene Kirche als die Subsistenz, als die Verwirklichung der einen Kirche Jesu Christi versteht. Aber allein schon wegen des ökumenischen Gedankens der Reformation dürfen wir diese Einschätzung nicht akzeptieren und müssen es unsererseits unterlassen, ausschließlich das Trennende zu betonen. Statt dessen sollten wir uns auf die gemeinsame Basis der reformatorischen, orthodoxen und römisch-katholischen Kirchen besinnen.
2. Kapitel
Das gemeinsame Bekenntnis: Die eine heilige katholische und apostolische Kirche
Evangelische Kirchengeschichte beginnt nicht mit der Reformationszeit, sondern zwischen Karfreitag und Pfingsten - mit den ersten christlichen Gemeinden.
Wir haben eine gemeinsame Geschichte mit den orthodoxen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche. Unsere gemeinsame Basis ist das alte Glaubenbekenntnis, das sogenannte Nizäno-Konstantinopolitanum. Die Textgrundlage dieses Bekenntnisses entstand auf dem Ersten Ökumenischen Konzil in Nizäa 325, als über das göttliche Wesen Jesu Christi beraten wurde. Weiterentwickelt wurde das Bekenntnis auf dem Zweiten Ökumenischen Konzil 381 in Konstantinopel. In dieser Fassung steht es in unseren Gesangbüchern. Dort heißt es zur Kirche: "Wir glauben an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche."
Obwohl dies unser gemeinsames Bekenntnis ist, zeigt gerade die Diskussion um das Papier "Dominus Iesus", wie stark insbesondere die Begriffe "katholisch" und "apostolisch" römisch-katholisch besetzt sind. Aber wir Evangelischen können weder auf Katholizität noch auf Apostolizität im Hinblick auf unsere Kirchen verzichten.
Wir begehen den Reformationstag ökumenisch, wenn wir uns auf die gemeinsamen Bekenntnisse und die uns gemeinsame Grundlage der Heiligen Schrift besinnen. Deshalb werde ich im Folgenden auf die Begriffe "Einheit", "Katholizität" und "Apostolizität" näher eingehen.
Bei dieser Betonung des Gemeinsamen wird dann freilich auch deutlich, dass wir die Abweichungen und die von unserer Erkenntnis nicht mitvollziehbaren Ansprüche der römischen Kirche abzuweisen haben.
2.1. Einheit
"Die Kirchen der Reformation gehen aus von der Einheit der Kirche Christi. Es kann nur eine Kirche auf Erden geben. Und diese eine Kirche ist allein die wahre, von Jesus Christus gestiftete Kirche. Kirchenspaltung bedeutet Kirchenabfall, Untreue gegen die wahre Kirche Christi. Die in der Reformation erfolgte Kirchenspaltung kann nur als ein Kampf um die rechte Einheit der Kirchen verstanden werden. Darum verstehen sich die Reformationskirchen selbst als die Eine Kirche auf Erden, nicht aber als Absplitterungen einzelner, von ihrem persönlichen Gewissen getriebener Christen von der einen Kirche, auch nicht als individuelle Ausprägungen der einen Kirche. Es ging in der Reformation um die eine, allgemeine, heilige Kirche Jesu Christi auf Erden."
Mit diesen Worten hat Dietrich Bonhoeffer darauf hingewiesen, dass die Kirchen der Reformation die Einheit nicht aufgegeben haben, sondern um diese Einheit kämpften.
Wie versteht der Protestantismus aber die Einheit?
Man kann sie ja nicht nur in der unsichtbaren Kirche suchen. Die Kirche ist nicht eine Idee, sondern Leib Christi. Bonhoeffer konnte sagen, dass eine Kirche, die unsichtbar bleiben will, nicht nachfolgen will. Übertragen auf die Frage der Einheit heißt das, wer nur die unsichtbare Einheit behauptet, will sie in Wirklichkeit gar nicht.
Die Einheit muss sichtbar sein.
Nun kann sie aber nicht nur dadurch entstehen, dass wir alle Kirchentümer zu einem einzigen zusammenschweißen. Die Frage wird anders gelöst:
Die eine wahre Kirche ist die, in der Jesus Christus als einziger Heilsgrund verkündigt wird. Mit ihm steht und fällt die Kircheneinheit. Die Einheit der Kirche ist also vorgegeben. Ein Grund ist gelegt: Christus.
Die Kirche ist ein Geschöpf des göttlichen Wortes. Sie lässt sich nicht mit einer vorfindlichen Kirche gleichsetzen, sie lässt sich aber auch nicht von einer vorfindlichen Kirche trennen, sofern sie sich einzig auf Jesus Christus gründet.
Damit ist klar, wie Einheit nicht entsteht:
Sie wird nicht hergestellt, indem wir unsere Bekenntnisse addieren. Sie entsteht auch nicht dadurch, dass jede Kirche auf einen Teil ihres Bekenntnisses verzichtet, bis ein Minimum dabei herauskommt, das für alle gilt. Einzig dieses ist der Weg: "Wird Christus als der einzige Heilsgrund von zwei Kirchen festgehalten, so sind sie eins.
Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass ein ökumenisches Klima im Laufe der Geschichte lange Zeit nicht vorhanden war. Selbst innerhalb der verschiedenen reformatorischen Strömungen gab es Phasen heftiger Kämpfe, und gewalttätige Auseinandersetzungen. Es gab bei den einzelnen reformierten Kirchen dogmatische Festlegungen, bei denen sich die verschiedenen Seiten nichts geschenkt haben.
Glücklicherweise sind die Gegensätze zwischen den reformatorischen Kirchen bei uns überwunden. Wir haben innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland volle Gemeinschaft.
Auch zwischen evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche gibt es inzwischen in vielen Gemeinden eine so gute Atmosphäre, dass man sich die alten Kämpfe gar nicht mehr vorstellen kann. Aber in der römischen Kirche gab es Dogmenbildungen, die das Miteinander erschwerten und die auch heute noch große Hindernisse auf dem Weg zur Einheit darstellen: die als heilsnotwendig zu glaubenden Dogmen von der unbefleckten Empfängnis, der Sündlosigkeit (1854) und der leiblichen Himmelfahrt Mariens (1950) und die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes (1870).
Neben dem christologischen Zentrum sind hier Glaubensformeln entwickelt, die wir wegen des freundlichen Klimas heutiger ökumenischer Bemühungen meistens aus unseren Gesprächen ausklammern, die aber immer wieder als sperrige Positionen zwischen uns stehen.
Der Protestantismus versteht das Ziel der sichtbaren Einheit der Kirche im Sinne des Konzepts der Kirchengemeinschaft und der Einheit in versöhnter Verschiedenheit.
Die Kirche hat in ihrer Geschichte immer im Plural existiert. Man kann diese Vielfalt zurückverfolgen bis zu den Gemeinden, die hinter den einzelnen biblischen Büchern stehen. Im evangelischen Konzept für die Kirche gehören Einheit und Vielfalt konstitutiv zusammen.
Daraus könnte der Vorwurf entstehen, ob die Evangelischen hier einfach aus der Not (eine Einheit ist nicht zu erreichen) eine Tugend (Vielfalt ist doch auch schön) machen. Bischof Lehmann sagte in seinem Eröffnungsvortrag bei der Vollversammlung der römisch-katholischen Bischofskonferenz, die Begriffe "Kirchengemeinschaft" sowie das Modell einer "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" seien "auf den Punkt gebrachte Aporien".
Dieser Vorwurf mutet sowohl dem einzelnen Christen als auch der einzelnen Kirche zu viel zu. Weil wir Menschen Grenzen haben, wird unser Zeugnis immer Stückwerk sein. Aber weil es Jesus Christus ist, der uns ruft, ist jedes Bruchstück dennoch ein Hinweis auf die eine Kirche Jesu Christi.
Die "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" entlässt aus sich eine bereichernde Vielfalt, das ist die Chance der verschiedenen Konfessionen.
Paolo Ricca, der italienische Waldenserchrist, hat darauf hingewiesen, dass diese Vielfalt eine besondere "Perle" des Protestantismus sei. Die dürfen wir nicht aufgeben, allein schon um des biblischen Zeugnisses willen. Ricca: "Der Papst hat neulich die Sünden gegen die Einheit der Kirche bekannt. Das ist selbstverständlich gut und heilsam, es gibt eine Menge davon. Man sollte aber auch die Sünden gegen die Verschiedenheit bekennen. Sie sind ebenso viele und ebenso schlimm."
Selbstverständlich kennen wir die Gefahren des Konfessionalismus. Er hat zu einer Vielzahl von Spaltungen, Verwerfungen und zur Entstehung kleinster unabhängiger Kirchen geführt, vor allem in der orthodoxen und in der reformatorischen Konfessionsfamilie. Mit der Mission wurde diese teilweise verwirrende Vielfalt - der Phantasie sind auch in bezug auf Trennung keine Grenzen gesetzt - sozusagen exportiert. In Korea beispielsweise soll es ungefähr 90 presbyterianische Kirchen nebeneinander geben.
Aber wir brauchen nicht in der Ferne zu suchen. Auch bei uns finden sich genügend Beispiele für das Nebeneinander und Gegeneinander. Konstruktiv ist es meistens nicht. Der Mitgliederverlust unserer Kirche (der in erster Linie demographisch begründet ist - es werden weniger Menschen getauft als kirchlich bestattet -, dieser Mitgliederverlust) wird bisweilen mit der Wirrnis in unseren evangelischen Landeskirchen erklärt. Diese Erklärung ist unzutreffend. Denn zum einen hat auch die katholische Kirche Austrittsverluste und keinen nennenswerten Wanderungsgewinn durch ehemals evangelische Christen.
Zum andern ist auch bei den evangelischen Freikirchen kein nennenswerter Anstieg zu verzeichnen. Die meisten von ihnen haben vielmehr selbst auch demographische Verluste. Sofern sie diese ein wenig ausgleichen können, dann nicht durch Mission, sondern dadurch, dass sie in verhältnismäßig geringem Maße Unzufriedene aus den Landeskirchen anziehen.
Uns Evangelischen ist unsere Unüberschaubarkeit immer wieder schmerzlich bewusst. Darum haben sich die evangelischen Kirchen sehr deutlich für die ökumenische Bewegung der Neuzeit eingesetzt. Bezogen auf die Gegenwart und auf die Gesamtheit der Christen, kann man sogar sagen - wie Paolo Ricca es formuliert -, dass der Protestantismus "der Vater des Ökumenismus" ist. Ein wesentlicher Beitrag des Protestantismus zur Ökumene wird darum das Bemühen um die eigene Einheit sein. Sie hat in der Leuenberger Kirchengemeinschaft schon zu beeindruckenden Ergebnissen geführt, durch die der europäische Protestantismus deutlich Gestalt gewinnt.
2.2. Katholizität
Der Begriff "katholisch" heißt umfassend, allgemein. Er bezeichnet die Universalität des in Jesus Christus erschienen Heils. Es kann für das Heil und damit für die Gemeinden keine nationalen, rassischen, geographischen, soziologischen, biologischen Schranken geben. Auch wenn der Begriff im Neuen Testament selbst wörtlich so nicht gebraucht wird, ist er dort doch der Sache nach angelegt: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus" (Gal 3, 28).
Diese Katholizität ist für unser Kirchenverständnis unverzichtbar. Wo sie aus dem Blick gerät, wird unsere Kirche provinziell, da richtet sie Schranken auf. Sie kann noch so deutlich die Einzigkeit des Heils in Christus verkündigen, sie verdunkelt es durch ihre Schranken.
Die 1. These der Barmer Theologischen Erklärung bekennt, dass "... Jesus Christus, wie er in der Heiligen Schrift bezeugt wird, das eine Wort Gottes (ist) ..." Diese Erklärung ist eine Abgrenzung gegen jede Weltanschauung, die meint, der Offenbarung Jesu Christi andere Offenbarungen hinzufügen zu müssen, oder die Christusoffenbarung durch andere ersetzen zu können. Die nationalsozialistische Ideologie bestand auf einer Einschränkung der Katholizität der Kirche dadurch, dass sie den Arierparagraphen im Raum der Kirche einzuführen begann und das Alte Testament als überholte jüdische Tradition ausscheiden wollte.
Wo die Einzigkeit des Heils in Jesus Christus bezeugt wird, muss gleichzeitig die Katholizität der Kirche bezeugt werden.
In der Schrift der römischen Glaubenskongregation "Dominus Iesus" wird in deutlicher Weise die Einzigartigkeit und Universalität Jesu Christi bezeugt. Darin ist sie wahrhaftig "katholisch" und formuliert, was wir Evangelischen entsprechend lehren. Doch das Attribut "katholisch" wird ausschließlich für die römische Kirche in Anspruch genommen und darum konfessionalistisch verengt.
Das ist nicht erst durch "Dominus Iesus" so behauptet und ist auch nicht nur Ausdruck römischer Selbsteinschätzung. Wir Evangelischen selber haben den Begriff "katholisch" der römischen Kirche überlassen und uns selbst weggenommen.
Der ursprünglich (universale) Charakter des Begriffs der "Katholizität" ging verloren und wurde nach und nach zu einem Instrument der Abgrenzung.
Das begann schon im 3. Jahrhundert, als die "Katholikos" mehr und mehr zu einem polemischen Begriff wurde und zur Unterscheidung zwischen rechtgläubiger und häretischer Kirche diente.
Mit katholischer Kirche wurde die rechtgläubige Reichskirche gemeint. Die Katholizität wurde im Westen später allein mit dem Papsttum verbunden. Innozenz nennt "katholisch" die Fülle der Macht des Papstes.
Beim ersten Vatikanischen Konzil ist katholische Kirche die um den Stuhl Petri versammelte sichtbare Gemeinschaft der Bischöfe.
Im Zweiten Vatikanischen Konzil wird diese stark konfessionalistische Sicht ein wenig zurückgenommen. Katholizität heißt allgemein "... Vielfalt, Universalität und Einheit des Gotteswillens (LG 22). Die Universalität ist Gabe des Herrn selbst (LG 13). ... Ziel der Katholizität ist die ganze Menschheit."
In diesem Verständnis von Katholizität ist auch Raum für andere Kirchen und Gemeinschaften, das ist, was das Ökumeneverständnis angeht, die besondere Entwicklung, die das Zweite Vatikanische Konzil unter Johannes XXIII (Paulus VI) erreicht hat.
Martin Luther sagte: "Ich glaub, dass da sei auf Erden, soweit die Welt ist, nicht mehr denn eine heilige gemeine Christliche Kirche (WA 7,219,1)". Er bestreitet der vom Papst geleiteten Kirche nicht, wahre Kirche zu sein. Aber er widerspricht dem Papsttum, weil es die Vielheit der Kirchen ausgeschlossen hat. "Katholisch" und "römisch" sind für Luther zwei einander ausschließende Begriffe. Katholizität kommt jeder Kirche zu, in der das Evangelium unverfälscht gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden.
Katholizität sichert den Bezug zu den altkirchlichen Bekenntnissen. In diesem Sinne haben auch die anderen Reformatoren die Katholizität der Kirche verstanden.
Es ist das Katholizitätsprinzip, das die Vielfalt sich wandelnder Ausdrucksformen des Glaubens ermöglicht und fordert.
Damit ist zugleich die Herausforderung für uns evangelische Christen und Kirchen bezeichnet: Wir vergessen nur zu oft, dass wir "katholisch" sind. Daher ist Provinzialität ein besonders häufiges protestantisches Übel.
Es wäre unaufrichtig, in allem wohlbegründeten Ärger über die Note aus Rom zum Thema "Schwesterkirchen" zu unterschlagen, dass es natürlich auch protestantische Christinnen und Christen gibt, die für ihre Kirche den Anspruch erheben, die einzig wahre zu sein. Viele konfessionelle Gegensätze verlaufen eben nicht entlang den Grenzen der Kirchen, sondern mitten durch die Kirchen hindurch.
2.3. Apostolizität
Apostolisch ist das, was zu den Aposteln gehört bzw. von ihnen stammt. Der Begriff "apostolisch" bezeichnet die Legitimität der Kirche, insofern sie sich auf ihre Herkunft aus dem Zeugnis der Apostel bezieht. Die Bezeichnung meint zunächst den Zwölferkreis der Jünger, der nach dem Ausscheiden des Judas wieder ergänzt wird. Sie repräsentieren das neue Volk Gottes in dieser Zahl Zwölf entsprechend der Zahl der zwölf Stämme Israels. Dann weitet sich der Begriff aus und kennzeichnet die Zeugen der Auferstehung. Paulus beansprucht aus diesem Grund seine Legitimation als Apostel, obwohl er dem Zwölferkreis nicht angehört. An die Zeugen der Auferstehung richtet sich die ursprüngliche Offenbarung, und durch den Dienst der Weitergabe der Botschaft richtet sie sich an uns.
Die römische Theologie sichert diesen Zusammenhang in der apostolischen Sukzession, d.h. in der vorgeblich historisch nicht unterbrochenen Folge der Bischöfe.
Das Zweite Vatikanische Konzil sagt: "Christus, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat (Joh. 10, 36), hat durch seine Apostel, deren Nachfolger, die Bischöfe, seiner eigenen Weihe und Sendung teilhaftig gemacht." Die Apostolizität der Kirche wird mit der Sukzession im Amt begründet.
Gegen dieses statische und historische Verständnis wandten sich die Reformatoren. Luther schrieb in seiner Vorrede zum Jakobusbrief sehr polemisch: "... Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus oder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleiych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett" (WA DN 7, 384, 29-32). Das Prinzip, die Schrift nach dem zu beurteilen, was Christum treibt, wird bei Luther im Blick auf die Apostel durchgehalten.
Apostolische Sukzession kann nicht in der (historisch nicht verifizierbaren) Kette von Handauflegungen aufgehen, sondern muss sich in einer Übereinstimmung mit der apostolischen Lehre erweisen. Das Wort Christi im Blick auf Petrus (Math. 16): ‚Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen', bezieht sich nicht auf die Person des Petrus als solche, sondern auf das Bekenntnis, das er gesagt hat: "Du bist der Christus." Apostolische Autorität ist begrenzt, sie ist nicht absolute, sondern relative, nicht frei verfügbare, sondern geliehene Autorität und erlischt in dem Augenblick, wo sie mit der Vollmacht Christi und seines Geistes in Konkurrenz treten wollte. Von sich selbst kann Paulus nur sagen :"Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin..." (1. Kor. 15,10)
Ist aber denn nicht an die Stelle des Papstes und des kirchlichen Lehramtes ein papierener Papst, nämlich die Schrift getreten? Eine Buchstabengläubigkeit ebenso radikal und fundamental wie das Vertrauen in die Institution Kirche auf der anderen Seite?
Es ist nicht die Schrift selbst, sondern das Zeugnis der Schrift, auf das wir uns berufen. "Die Schrift, die das apostolische Zeugnis bewahrt und weitergibt, hat Anteil an der Hoheit und Niedrigkeit, die wir bei den Aposteln fanden. So wie die Autorität des Apostels nicht seine eigene ist, sondern die des ihn berufenden und legitimierenden Herrn, so ist auch die Autorität der Schrift die des in ihr ergehenden auftragsgemäßen Zeugnisses." Das Wort Gottes kann man weder durch das Lehramt noch durch den Buchstaben der Schrift in den Griff bekommen.
Apostolisch ist die Kirche durch die ständige Weitergabe des Evangeliums an alle Menschen und Völker in Gottesdienst und Unterweisung und durch Dienst in der Welt. Die Kirche ist insofern apostolisch, als sie dem Glauben und der Sendung der Apostel treu bleibt.
Ich komme noch einmal auf die Augsburgische Konfession zurück. Hier ist die Frage nach der Struktur der Kirche und nach dem Amt nicht zum Kriterium für die Einheit erhoben. Auch das Papstamt war nicht das Problem. Apostolizität legt die Kirche nicht auf eine bestimmte Leitungsstruktur ihrer Organisation fest. Im Neuen Testament gibt es eine Vielfalt der Theologien, die an die Vielfalt unserer Konfessionen erinnert (und sie wahrscheinlich auch mit begründet) und die sich in unterschiedlichen Kirchentypen bis heute durchhalten. Es gibt auch verschiedenartige Leitungsstrukturen.
Die Differenz zwischen römisch-katholischem und protestantischem Verständnis ist deutlich geworden. Wir stehen hier vor einem der größten Probleme im Miteinander mit der römisch-katholischen Kirche, der Frage des Amtes. Der katholische Theologe Heinz Schütte schrieb im Rheinischen Merkur: "... Solange die Frage der apostolischen Sukzession nicht gelöst ist, kann Rom nicht die anderen Kirchen anerkennen, ohne sein Selbstverständnis zu leugnen." In der Sprache von Kardinal Ratzinger hieß dies: "... zufällige historische Bildungen kann man nicht im gleichen Sinne als Kirche ansehen, wie wir glauben, dass die auf der Nachfolge der Apostel im Bischofsamt beruhende katholische Kirche Kirche ist."
Ratzinger machte in seinem Interview in der FAZ deutlich, dass er nicht verstehe, warum die "lutherischen Freunde" über die Abqualifizierung der evangelischen Kirche erbost seien. Es sei nun einmal ein unterschiedliches Kirchenverständnis vorhanden. Die evangelische Kirche wolle ja auch nicht im Sinne der römisch-katholischen Kirche Kirche sein.
Das trifft zu. Gleichwohl würde man sich vom Kardinal wünschen, dass er, wenn er denn sagen will, evangelische und römische Kirche seien nicht in gleichem Sinne Kirchen, eben dieses auch so formuliert, statt die verletzende Abqualifizierung vorzunehmen, die reformatorischen Kirchen seien keine Kirchen im eigentlichen Sinn. Und man wünsche sich auch, dass er zugleich ein wenig erkennen ließe, dass die Wunde der Trennung auch eine Wunde der römischen Kirche ist. Selbst wenn aus seiner Sicht die eigentliche Kirche die römische sein sollte: Sie leidet doch auch an sich selbst, was die ausstehende Einheit angeht.
Zusammenfassung
Einheit, Katholizität und Apostolizität sind unverzichtbare Kennzeichen des protestantischen Kirchenverständnisses. Den Schatz, der uns mit diesen Begriffen gegeben ist, müssen wir ins Bewusstsein heben.
3. Kapitel
Die ökumenische Dimension und die Kultur
Die Konzentration auf Wort und Sakrament hat nicht nur Auswirkungen auf die Gestaltung der Kirche gehabt, sondern hat tief bis in die Gesellschaft hinein gewirkt. Deshalb muss neben der Bedeutung der Reformation für das kirchliche Miteinander auch an die Bedeutung für die europäische Gesellschaft und die von ihr geprägten Kultruregionen (USA) erinnert werden.
Das gilt für die Sprachentwicklung. Die Bedeutung von Luther für die Entwicklung und Sprache in Deutschland ist bekannt. In anderen, auch außereuropäischen Ländern sind durch die Reformation Katechismen und Bibelübersetzungen in ähnlicher Weise prägend gewesen. "Sprache ist das Innerste einer Nationalkultur."
Hier ist der Aufbau bzw. die Reform von Universitäten zu nennen. Luther wusste die Regierenden an ihre Verantwortung zu erinnern.
In der Kunst hat die protestantische Kultur in Musik und Malerei ebenso stilbildend gewirkt. (Cranach/Dürer/Bach)
Auch in politischer Hinsicht ist die Reformation nicht ohne Einwirkung auf die europäische Kultur geblieben. Wilhelm Hüffmeier hat dargestellt, wie vom reformierten Genf Einflüsse auf ganz Europa wirksam wurden, "die mit Stichworten wie Gewissensfreiheit, Toleranz, Demokratie und Kultur der Freiheit und Menschenrechte bezeichnet werden." Die prägende Kraft des Protestantismus für die Kultur, die weit über das Kirchliche hinaus geht, kann hier nur angedeutet werden. Hüffmeier weist darauf hin, dass diese Entwicklung protestantischer Kulturbildung in Teilen Europas mit der Gegenreformation wieder ins Stocken geriet, aber nicht zum Erliegen kam.
Der ökumenischen Dimension im kirchlichen Bereich entsprach also auch eine kulturelle Dimension, die vor den Landesgrenzen nicht halt macht. Es ist keine Frage, dass wir bei der Gestaltung Europas aus dieser Tradition schöpfen können.
4. Kapitel
Ausblick: Unsere Zukunft wird ökumenisch sein
4.1. Die ökumenische Dimension bewahren
Die Arroganz der römischen Schrift "Dominus Iesus" hat viele Menschen beider Konfessionen, die sich in der Ökumene engagieren, enttäuscht. Aber man sollte nicht nur jetzt eine Momentaufnahme machen, sondern in der Gesamtperspektive auf dem Hintergrund jahrhundertelanger Geschichte ökumenischer Feindseligkeiten das Erreichte nicht aus dem Auge verlieren: Der ökumenische Gedanke ist in beiden Kirchen fest verwurzelt. Uns verbindet weit mehr, als uns trennt. Im Gottesdienst und im Alltag werden beglückende Erfahrungen gemacht. Die säkularisierte Gesellschaft mit ihrem Verlust des Gottesbezuges und damit der sie verbindenden Werte ist eine Herausforderung für beide Kirchen gemeinsam. Darum nehmen wir viele theologische und ethische Aufgabenstellungen gemeinsam in Angriff. Die Kirchen werden oft als ein einheitliches Gegenüber gesehen: Wir tragen Stärken und Schwächen gemeinsam.
4.2. Was können wir tun
4.2.1. Das gemeinsame Abendmahl - Einladung nicht erzwingen durch das Schaffen von Fakten
Alle blicken gespannt auf Berlin und fragen, ob es bei dem für das Jahr 2003 geplanten gemeinsamen Kirchentrag ein gemeinsames Abendmahl geben wird.
Wir Evangelischen werden unsere Einladung zum Abendmahl an alle Getauften aufrecht erhalten, weil sie notwendig zu unserem Abendmahlsverständnis gehört. Aber wir können die Tischgemeinschaft nicht erzwingen.
Zugespitzt: Selbst wenn wir es könnten, dürften wir es nicht, auch wenn viele Menschen in der römisch-katholischen Kirche sich danach sehnen. "Dominus Iesus", die römische Schrift, hat noch einmal die Grenzen aufgezeigt, die der römisch-katholischen Kirche von ihrem Selbstverständnis gegeben sind.
In der Diskussion um das gemeinsame Abendmahl muss bedacht werden - auch im Blick auf unsere Erwartungen für 2003 -, dass durch einen zu großen Druck auf die römische Kirche Freiheiten, die es jetzt noch gibt, zunichte gemacht werden können.
Noch eins hat uns die Schrift "Dominus Iesus" deutlich vor Augen gestellt: Wir haben die schwierigsten Fragen zwischen unseren Kirchen lange vor uns hergeschoben. Darum müssen wir sie sorgfältig angehen. Die Ungeduld von vielen Gläubigen ist verständlich - gerade nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung vor einem Jahr.
Aber es gehört auch zur ökumenischen Liebe und zum Respekt vor dem andern, das, was man selber kann, vom andern nicht zu verlangen, wenn er es nicht oder noch nicht kann.
Was wir wohl können - ‚Dominus Iesus' zeigt das auch -, wir können gemeinsam den Christus als das Heil bezeugen. Darin sollten wir nicht müde werden. Darum können wir in vielen wichtigen Fragen unserer Zeit auch mit einer Stimme sprechen. Themen und Beispiele gibt es. Auf dem Kirchentag schon 2001 in Frankfurt und erst recht in Berlin 2003 sollten wir diesen Themen und Beispielen nachgehen.
4.2.2. Die Bibel lesen
Als die Schwierigkeiten um die Interpretation der Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre aufbrachen, war ein Fazit, das aus den Differenzen gezogen wurde: Wir müssen weiter zusammen die Bibel lesen. In seiner Eröffnungsrede für die Herbstkonferenz der römisch-katholischen Bischöfe gab Bischof Lehmann die gleiche Richtung vor, als er die Differenzen im Abendmahlsverständnis ansprach. Das ist ein Vorschlag, der der Tradition der Reformation entspricht. Aus aufrichtigem Studium der Schrift wird das Handeln folgen.
Schluss
Wir bleiben auf dem Weg. Ein Weg, auf dem sich keine Kirche zu wichtig nehmen sollte. Kirchen gibt es immer nur auf Zeit. Das Ziel ist Gottes Reich. Katholizität und Apostolizität unserer Kirche reißen den Horizont immer weit auf, so dass auch tiefe Gräben ihre Schrecken verlieren. Unser Land braucht das gemeinsame Zeugnis der Kirchen nötiger denn je. Lasst uns darin nicht müde werden!