Predigt im Berliner Dom (Lukas 14, 25-33)
Wolfgang Huber
“Es ging eine große Menge mit Jesus; und er wandte sich um und sprach zu ihnen: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen? Damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann’s nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen, über ihn zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann’s nicht ausführen. Oder welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen andern König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit Zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit Zwanzigtausend? Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden. So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.”
(Lukas 14,25-33)
I.
Liebe Gemeinde, Hass muss sein. So ruft Jesus der Menge zu, die ihm nachläuft und nicht von ihm lässt. Hass muss sein; sonst entsteht keine Klarheit.
Wer das hört, muss über den Hass predigen. Aber eine Predigt über den Hass – das gibt es selten in der Kirche. “Ihr Kindlein, liebet euch untereinander”, heißt es doch stattdessen im Neuen Testament. Das Liebesgebot gilt als Kennzeichen des Christentums: “Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte und mit aller deiner Kraft. Und deinen Nächsten wie dich selbst.” In diesem Doppel- oder Dreifachgebot der Liebe – zu Gott, zum Nächsten, zu sich selbst – sieht man mit guten Gründen das Wesen des Christentums. Deswegen ruft man so unerbittlich nach dem Beitrag der Christen zur Wertorientierung – selbst in einer säkularisierten Gesellschaft und unter ziemlich unchristlichen Bedingungen.
“Ihr Kindlein, liebet euch untereinander.” Das akzeptieren auch unsere heutigen Zeitgenossen, wenn auch meistens nicht für sich selber. Denn den meisten gilt diese Haltung als ziemlich unpraktisch. Die meisten verlaufen sich lieber in Berlin, als “Bitte” zu sagen, wenn sie eine Auskunft haben wollen. Und sie schauen lieber weg, als sich um der Nächstenliebe willen einzumischen, wenn andere auf dem S-Bahnhof angepöbelt werden. Um der Liebe willen etwas zu riskieren, das überlässt man lieber den anderen. Je höher Menschen steigen, desto mehr gilt das. Die “Funktionseliten”, sagte mir in diesen Tagen ein Gesprächspartner, der es wissen muss – die “Funktionseliten” richten sich immer nach den Machtverhältnissen; sie gehen immer mit den Herrschenden. In den nächsten Tagen werden wir uns wieder an die wenigen erinnern, die eine Ausnahme waren: die Männer und Frauen des 20. Juli 1944, die zur Verschwörung gegen Hitler bereit waren und dafür ihr Leben aufs Spiel setzten. Aber im allgemeinen gilt: Wenn die Macht nationalsozialistisch geprägt ist, passen sich die Funktionseliten an; auch in einem kommunistischen Regime strecken sie sich nach der Decke. Und in der Demokratie tun sie es nicht anders. Hauptsache, man kommt durch.
Aber zum Glück gibt es ein paar arme Trottel, die sich an das halten, was zu ihnen gesagt ist: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.” Es ist modern geworden, Leute, die sich daran noch halten, “Gutmenschen” zu nennen; der mitleidige Unterton ist kaum zu überhören. Jedesmal, wenn ich mit dem Bundesinnenminister über den Schutz von politisch Verfolgten rede, nennt er mich einen “Gutmenschen”.. Und ich frage ihn dann jedesmal, ob er das als Schimpfwort meint. Ich frage mich auch, ob er mich davon abbringen will, gut zu den Menschen zu sein.
Und nun plötzlich: ein biblischer Text nicht über die Liebe, sondern über den Hass. Eine Einladung dazu, nicht ein Gutmensch zu sein, sondern einer, der sich trennt, ja: der hasst. “Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.”
II.
Hass ist ein wichtiges Thema, nicht nur die Liebe. Wer im Leben weiterkommen will, muss hassen können. Das klingt überraschend und vertraut zugleich. Wer im Leben weiterkommen will, muss hassen können. Ohne Abgrenzung gelingt das Leben nämlich nicht. Wer sich durchsetzen will, muss andere auf der Strecke lassen. Und selbst wenn es Angehörige sind – irgend wann einmal muss man Konsequenzen ziehen.
Wer im Leben weiterkommen will, muss hassen können. Es ist ja nicht zu persönlich gemeint. Aber der Konkurrenzkampf ist nun einmal hart. Mitleid mit dem Konkurrenten, nur weil er in Konkurs geht, wäre zu viel des Guten. So ist nun einmal der Markt. Der Stärkere siegt. Darauf ist unsere Gesellschaft aufgebaut.
Auch die Politik funktioniert so. Wer den anderen nicht bloßstellt oder abschätzig behandelt, hat keine Chance. Wie soll er denn Wahlen gewinnen – am 21. Oktober beispielsweise auch hier in Berlin? Nur in außergewöhnlichen Situationen lässt man erkennen, dass die politischen Gräben nicht unüberbrückbar sind. Ein plötzlicher, schrecklicher, unerwarteter Tod ist eine solche Situation. Auch beim Tod von Hannelore Kohl hat man das gespürt. Dann zählt nicht das Parteibuch. Aber am nächsten Tag wird wieder polarisiert und polemisiert.
Und trotzdem will ich mich damit nicht abfinden. Ich halte es für unangemessen, Menschen mit Hass zu begegnen, geschweige denn das zu einer allgemeinen Regel zu machen. In einem spektakulären Prozess sagte ein Jugendlicher aus, der mit Gesinnungsgenossen in einer brandenburgischen Kleinstadt einen Ghanesen zu Tode gehetzt hatte, dass er den Fremden zwar nicht gekannt, aber dennoch gehasst habe. Allein durch seine Existenz habe der Ausländer ihn von seiner Arbeit abgehalten. Immer wieder habe er an den “Schwarzen” denken müssen; deshalb musste der weg. Hass ist wahrlich keine lebensfördernde Haltung.
Was also hat der Glaube damit zu tun? “Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.” Die emotionale Ablehnung des andern kann damit nicht gemeint sein. Jener Hass, der dem andern das Schlimmste wünscht, wird von Jesus ja ausdrücklich mit dem Töten selbst gleichgesetzt: “Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.” So heißt es ausdrücklich in der Bergpredigt.
Um die Leidenschaft des Hassens kann es also nicht gehen. Wir sollen nicht Hassgefühle gegen die aufbauen, die uns die Nächsten sind. Wo Emotionen dieser Art den Menschen besetzen, kommt er ja gerade vom andern nicht los. Hass bindet mich vielmehr an den andern, macht mich erst recht von ihm abhängig. Jesus aber fordert zur Freiheit auf, nicht zur Abhängigkeit. Er will innere Unabhängigkeit vermitteln, nicht ihr Gegenteil. Was er Hass nennt, ist ein provozierender Ausdruck für diese innere Unabhängigkeit.
Übrigens ist auch das “Lieben” in der Sicht Jesu nicht auf der emotionalen Schiene einzuordnen. Wenn er die Liebe zum Nächsten oder gar zum Feind anspricht, dann will er nicht übertriebene Gefühle der Zuneigung dem gegenüber wecken, mit dem mich gerade keine Gefühle verbinden. Ob ich den andern mag oder nicht, spielt beim Gebot der Nächstenliebe keine Rolle. In seine Schuhe kann ich mich auch dann versetzen, wenn er mir nicht sympathisch ist. Dass ich es auch tue, ist die anstößige Forderung Jesu.
Im einen wie im andern Fall geht es nicht um Gefühle. Es geht um das Erste Gebot. Es geht um die Frage, worin die letzte Bindung meines Lebens besteht. Hängt der letzte und tiefste Sinn meines Lebens an Besitz und Beziehungen, am Familienglück und am Eigentum? Mache ich das, worüber ich verfüge, zum letzten Maßstab? Nach dem Beispiel jenes Mannes, der seiner Familie unbedingt ein eigenes Haus im Grünen verschaffen wollte? Und weil die Grundstücke außerhalb der Stadt billiger waren, baute er das Haus – großenteils mit seiner eigenen Hände Arbeit – in vierzig Kilometern Entfernung von dem Ort, an dem sie wohnten. Jeden Abend, jedes Wochenende widmete er diesem Vorhaben. Die Familie sah er kaum noch; der Sohn war inzwischen schon vier Jahre alt. Hängen wir unser Herz ganz und gar an unseren Besitz und unsere Nächsten, so werden sie für uns zum Gott. Dann können wir Jesus nicht nachfolgen. Dann fehlt uns die Freiheit zum Ersten Gebot: “Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter haben neben mir.”
Die Jünger Jesu haben diese Freiheit zum Ersten Gebot auf besonders radikale Weise vorgelebt. Sie verließen Familie und Beruf; sie zogen mit Jesus in Galiläa umher und wussten den Tag über nicht, wo sie abends einkehren und schlafen würden. Aber zur Jesusbewegung gehörten auch Sympathisanten, Anhängerinnen und Anhänger, die Haus und Hof behielten, weiter mit ihrer Familie zusammenlebten und ihrem Beruf nachgingen. An sie vor allem richtet sich die Forderung, die Kosten der Nachfolge zu überschlagen. Wer einen Turm baut, kalkuliert vorher die Kosten. Wer einen Krieg führen will, fragt sich vorher, ob er genug Soldaten hat. Das ist nicht eine Aufforderung zum Turmbauen oder zum Kriegführen. An diesen drastischen Beispielen wird vielmehr gezeigt, dass vorausschauendes Planen nicht nur zur Geschäftstüchtigkeit, sondern auch zur Glaubenstüchtigkeit gehört.
III.
Die Freiheit zum Ersten Gebot wird uns vor Augen gestellt, nicht eine Geringschätzung der Familie. Das vierte Gebot wird ja nicht aufgehoben: “Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lang lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.” Das sechste Gebot wird nicht außer Kraft gesetzt, das die Ehe unter den besonderen Schutz Gottes stellt: “Du sollst nicht ehebrechen.” Und wenn man auf die heutige Situation schaut, dann ist das Erste Gebot ja nicht dadurch gefährdet, dass die Familienbindungen zu stark sind; eher ist es dadurch gefährdet, dass wir diese Bindungen nicht wichtig genug nehmen. Aber in einer Zeit schnell wechselnder Beziehungen fangen viele an, auch wieder neu nach Treue und Verlässlichkeit zu fragen. Dass wir für unser Leben die verlässliche Nähe anderer Menschen und die Gemeinschaft der Generationen brauchen, wird vielen wieder bewusst. Aber auch heute gilt: Vom Ersten Gebot her wird die Familie an ihren richtigen Ort gestellt. Wenn wir sie dagegen zum Ersatzgott machen, zerstören wir sie selbst.
Die Freiheit zum Ersten Gebot können wir auch in unserem Alltag leben. Jeder Gottesdienst lädt uns dazu ein. In ihm laden wir vor Gott alles ab, was uns fesseln will und bitten: Herr, erbarme dich. In ihm empfangen wir die Freiheit, aus der heraus wir Gott allein die Ehre geben: “Ehre sei Gott in der Höhe”. Darum geht es auch in Jesu anstößiger Aufforderung zum Loslassen. Er will für die entscheidende Bindung unseres Lebens Raum schaffen. Als einmal seine Familie auftaucht und mit ihm reden möchte, fragt er zurück: “Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?” Das klingt sehr verletzend. Er schaut die an, die um ihn herum sitzen und ihm zuhören: “Seht, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.” Amen.