Predigt im Festgottesdienst zum 325. Todestag von Paul Gerhardt in der St. Nicolai-Kirche zu Berlin

Wolfgang Huber

I.

“Verzeiht, dass ich Euch Sorgen mache, aber ich glaube, daran bin diesmal weniger ich, als ein widriges Schicksal schuld. Dagegen ist es gut, Paul Gerhardt Lieder zu lesen und auswendig zu lernen, wie ich es jetzt tue.” So heißt es in dem ersten Lebenszeichen Dietrich Bonhoeffers an seine Eltern aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel nach seiner Verhaftung im April 1943. Und von da an zieht sich der Bezug auf Paul Gerhardt durch diese Briefe hindurch wie ein Basso continuo durch eine barocke Sonate. “In den ersten 12 Tagen, in denen ich hier als Schwerverbrecher abgesondert und behandelt wurde – meine Nachbarzellen sind bis heute fast nur mit gefesselten Todeskandidaten belegt – hat sich Paul Gerhardt in ungeahnter Weise bewährt, dazu die Psalmen und die Apokalypse. Ich bin in diesen Tagen vor allen schweren Anfechtungen bewahrt worden.” Auch anderen wollte Bonhoeffer an dieser Erfahrung mit den Versen Paul Gerhardts Anteil geben; deshalb fügte er seinen Gebeten für Mitgefangene am liebsten solche Verse bei: “Unverzagt und ohne Grauen / soll ein Christ, wo er ist, / stets sich lassen schauen. Wollt ihn auch der Tod aufreiben, / soll der Mut dennoch gut / und fein stille bleiben.” Und am entscheidenden Wendepunkt, nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944, heißt es gleich im ersten Brief – in dem der Verzweiflung abgerungenen Brief vom 21. Juli 1944: Es kommen “Stunden, in denen man sich mit den unreflektierten Lebens- und Glaubensvorgängen genügen läßt. Dann freut man sich ganz einfach an den Losungen des Tages ... und man kehrt zu den schönen Paul Gerhardtliedern zurück und ist froh über diesen Besitz.”

Dietrich Bonhoeffer steht mit dieser Erfahrung nicht allein. Viele andere können sie bestätigen. Über die Generationen und Jahrhunderte hinweg ist Paul Gerhardt für viele Menschen – nicht nur für Menschen deutscher Zunge – zum sprachmächtigen Interpreten der elementarsten Glaubenserfahrungen geworden. Und er hat sich zugleich einen unverlierbaren Platz im Kanon der deutschen Literatur erworben. Ein Literaturwissenschaftler urteilt, Paul Gerhardts Lieder gehörten “neben Grimms Märchen und noch vor Luthers Bibelübersetzung und Dichtung zu den bekanntesten poetischen Texten überhaupt”.

26 Lieder aus seiner Feder enthält das Evangelische Gesangbuch unserer Tage. Nur Martin Luther läuft ihm mit 31 Texten den Rang ab – gewiss kein geringer Konkurrent; aber bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass es sich bei Luther zu erheblichen Teilen um Übertragungen und Bearbeitungen handelt. Paul Gerhardt kann bis zum heutigen Tag als der fruchtbarste und schöpferischste Dichter geistlicher Lieder in deutscher Sprache gelten.

Es mag ein edler Wettstreit darüber entbrennen, welches von Paul Gerhardts Liedern dem einen oder der andern das liebste und kostbarste ist. “Geh aus mein Herz und suche Freud” werden viele nennen; aber es bleibt eben an die “schöne Sommerzeit gebunden. “Ich steh an deiner Krippen hier” wird manchen in den Sinn kommen; aber es muss auch an der Krippe gesungen werden. Den Weg durch das Kirchenjahr kann man von Anfang bis Ende mit Liedern Paul Gerhardts gestalten. Vom Weg durch den Tag gilt das Gleiche. Den ganzen Tageslauf kann man mit Paul Gerhardt besingen – von “Die güldne Sonne voll Freud und Wonne ...” bis zu “Nun ruhen alle Wälder ...”. Nicht zu vergessen sind schließlich die Lieder, die das Singen selbst besingen: “Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön ...”; “Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust ...”; “Sollt ich meinem Gott nicht singen, sollt ich ihm nicht dankbar sein?”

Es mag ein edler Wettstreit darüber entbrennen, welches von Paul Gerhardts Liedern dem einen oder der andern das liebste und kostbarste ist. Aber für viele ist es doch so, dass ihre persönliche Frömmigkeit und das gemeinsame Innehalten an wichtigen Wendepunkten des Lebens zwischen Geburt und Tod sich immer wieder an einem Lied von Paul Gerhardt ausrichtet: “Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.”

Wir singen von diesem Lied die ersten vier Strophen.

II.

“So ein ‚Befiehl du deine Wege‘ zum Exempel, das man in der Jugend in Fällen, wo es nicht so war, wie’s sein sollte, oft und andächtig mit der Mutter gesungen hat, ist wie ein alter Freund im Hause, dem man vertraut und bei dem man in ähnlichen Fällen Rat und Trost sucht.” Matthias Claudius hat so über dieses Lied geurteilt. Es gibt einer elementaren Glaubenserfahrung Gestalt: “Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn. Er wird’s wohl machen.” So heißt es im 37. Psalm. Martin Luther hat diesen Psalmvers einmal spontan so wiedergegeben: “Befiehl dem Herren deinen Weg: / Schweig, leid, meid und vertrag, / dein Not niemand klag, / an Gott nicht verzag, / dein Glück kommt alle Tag.” 

Paul Gerhardt hat ein ungleich umfangreichere Dichtung aus diesem einen Psalmvers von dreizehn Wörtern entwickelt. Er macht Gebrauch von der Kunstform des Akrostichons und lässt die zwölf Strophen des Lieds der Reihe nach mit den einzelnen Worten des Psalmverses beginnen – nur die beiden Worte “dem Herren” lässt er als Beginn der zweiten Strophe zusammen stehen. Diese kunstvolle Liedform ist zugleich besonders einprägsam. Viele haben deshalb das ganze Lied in ihrer Schulzeit gelernt; weil man den Anfang jeder Strophe leicht erinnern kann, merkt sich auch das Ganze leichter. Viele haben deshalb alle zwölf Strophen bis ins Alter behalten. Man wünschte sich, dass das Lernen solcher Lieder auch heute wieder erlaubt – und nicht als mechanisches Auswendiglernen verpönt – wird.

Aber auch denen, die das Lied nicht im Ganzen behalten, prägen sich die dichtesten Sprachbilder aus ihm wie von selber ein: “Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.” Welche sprachliche Meisterschaft zeigt sich in den beiden Gruppen von jeweils drei Substantiven – Wolken, Luft und Winde; Wege, Lauf und Bahn. Aber die künstlerische Leichtigkeit ist kein Selbstzweck.. Ein Vertrauen zu Gottes Güte wird vermittelt, das an der Kränkung, die jedes menschliche Herz erfährt, nicht zerschellt.

Kein menschliches Schicksal ist von Enttäuschungen frei; uns allen widerfährt, was mit unseren Vorstellungen von uns selbst und vom gelingenden Leben nicht zusammenpasst. Die größte Enttäuschung ist der unzeitige Tod. Paul Gerhardt hat ihn an vier seiner fünf Kinder und an der eigenen Ehefrau schmerzlich erlebt. Sein Gottvertrauen ist aus der Tiefe eigener Leiderfahrung geboren. Das spürt man seinem Lied an. “Mit Sorgen und mit Grämen / und mit selbsteigner Pein / lässt Gott sich gar nichts nehmen, / es muss erbeten sein.”

Solches Gottvertrauen weckt natürlich Widerspruch. Kein Geringerer als Bertolt Brecht hat den Versuch unternommen, in einer Imitation von Paul Gerhardts Sprachform dessen Gottvertrauen durch das Vertrauen des Menschen auf sich selbst zu überbieten. Eine der drei Strophen seines “Lobgesangs” heißt so: “Es kann dir nichts geschehen / Solang du nicht entfliehst / Im Guten wie im Wehen / Den gleichen Himmel siehst / Und Wolken, Luft und Winden / Hast du ja nichts getan / Es wird sich niemand finden / Der dich verstoßen kann.”

Der Glaube an die Unangreifbarkeit des Menschen tritt hier der Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit entgegen. Das Bild eines Menschen, der auf Gott nicht angewiesen ist, wird trotzig dem Vertrauen entgegengestellt, dass allein Gottes Güte unser Leben in Segen verwandelt.

Aber noch einmal: Ein oberflächliches Vertrauen ist das nicht. Es ist widrigen Erfahrungen abgerungen.

Wir singen die Strophen 6 bis 8.


III.

Keinen geeigneteren Ort gibt es in Berlin, um an Paul Gerhardt zu erinnern, als diese Kirche St. Nicolai. Von Wittenberg kam Gerhardt vermutlich 1643 in unsere Stadt; seine ersten Gedichte zeichnete er noch als “Student der Theologie”.. Sein Brot verdiente er mutmaßlich als Hauslehrer beim Kammergerichtsadvokaten Berthold, dessen jüngste Tochter  später Gerhardts Frau wurde. Schon auf diese Zeit geht die Verbindung zu dem Kantor von St. Nicolai, Johann Crüger, zurück, dessen 400. Geburtstag wir vor drei Jahren hier gefeiert haben. Crüger wird mit guten Gründen als der “Entdecker” Paul Gerhardts bezeichnet. In Crügers Gesangbuch wurden Gerhardts Texte veröffentlicht, oft mit Melodien des Nicolaikantors.

1653 verließ Paul Gerhardt Berlin wieder, um Pfarrer und Propst in Mittenwalde zu werden. Zuvor war er, wie üblich, auf die lutherischen Bekenntnisschriften verpflichtet worden. Die Zeit in Mittenwalde war fruchtbar, aber auch von Konflikten durchzogen. Schon nach vier Jahren, im Jahr 1657, kehrte Gerhardt nach Berlin zurück, nun als Pfarrer hier an Nicolai.

Die große Resonanz auf sein Wirken und die Beteiligung am Berliner Kirchenstreit jener Zeit kontrastieren auf eigentümliche Weise. Der Große Kurfürst, selbst reformierten Bekenntnisses, wollte der Unleidlichkeit zwischen der lutherischen Mehrheit und der reformierten Minderheit ein Ende machen – insbesondere was die Pfarrerschaft betraf. Paul Gerhardt gehörte zu denen, die sich der aufgezwungenen Toleranz nicht fügen wollten; dafür berief er sich auf seine Ordinationsverpflichtung, die ihn an die lutherischen Bekenntnisschriften band, ebenso wie auf die Freiheit seines Gewissens. Die Amtsenthebung nahm er dafür in Kauf. In Lübben fand er nur deshalb Zuflucht, weil der Spreewald damals zu Sachsen gehörte. Dort ging sein Leben zu Ende – “im Sieb des Satans gerüttelt und geprüft”, wie die Unterschrift unter seinem Lübbener Bildnis mitteilt.

Von den siebzig Lebensjahren Paul Gerhardts waren dreißig von Kriegsgeschrei erfüllt. Todeserfahrungen bestimmten seinen Lebensweg; im engsten Familienkreis hielt der Tod eine reichliche Ernte. Dem Konflikt um seines Bekenntnisses willen wich er nicht aus; den Verlust des Predigtamts hier in Nicolai nahm er dafür in Kauf. Doch in seinem Testament dankt er Gott “zuvörderst für alle seine Güte und Treue, die er mir von meiner Mutter Leibe an bis auf jetzige Stunde an Leib und Seele und an allem, was er mir gegeben, erwiesen hat.” Aus dieser Dankbarkeit heraus bittet er Gott, “er wolle mir, wenn mein Stündlein kommt, eine fröhliche Abfahrt verleihen (und) meine Seele in seine väterlichen Hände nehmen.” Aus dieser Erfahrung und mit dieser Zuversicht ermahnt er seinen einzig überlebenden Sohn: “Bete fleißig, studiere was Ehrliches, lebe friedlich, diene redlich und bleibe in deinem Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst du einmal auch sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich und seliglich.”

Die Sehnsucht nach einer derart klaren Gestalt des eigenen Lebens gibt es auch heute. Und es bleibt möglich, dem eigenen Leben eine derart klare Gestalt zu geben. Paul Gerhardts Ermutigung dazu ist auch 325 Jahre nach seinem Tod noch aktuell: “Wohl dir, du Kind der Treue, / du hast und trägst davon / mit Ruhm und Dankgeschreie den Sieg und Ehrenkron; / Gott gibt dir selbst die Palme / in deine rechte Hand, / und du singst Freudenpsalmen / dem, der dein Leid gewandt.” Amen

Wir hören Ernst Peppings Choralbearbeitung und singen dann die Strophen 11 und 12 von “Befiehl du deine Wege”.