Predigt im Gedenkgottesdienst am 19. Februar 2023 in der Marienkirche in Hanau
Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland
I.
Den Predigttext für den heutigen Sonntag, liebe Gemeinde, nenne ich einen Zufall im besten Sinne des Wortes: etwas, das uns von Gott her zufällt für diesen Gedenktag. Es ist das große biblische Lied von der Macht der Liebe.
Der Apostel Paulus schreibt:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält allem stand. Die Liebe höret niemals auf, wo doch das prophetische
Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber das Vollkommene kommen wird, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Die Liebe hört niemals auf: Im heutigen Innehalten und Gedenken und Erinnern verstehen wir die tiefe Wahrheit dieses Satzes auf besondere Weise. Wir erkennen, wie wahr er ist, und nichts als wahr. Kein romantischer Satz, den man mit rosa Herzchen ins Poesiealbum schreibt. Die Liebe hört niemals auf: Das ist eingeschrieben in alle Fasern des Körpers, das wird nachbuchstabiert in unaufhörlichem und wiederkehrendem Schmerz. Die Liebe hört niemals auf: So bezeugt es das Herz, das sich zusammenzieht, so belegen es die Eingeweide, die rumoren beim Gedanken an den 19. Februar 2020 und die Tage danach. Hört das denn niemals auf? Nein, das hört niemals auf! Warum? Die Liebe hört niemals auf. Die Liebe zu Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Die Liebe zu diesen einmaligen Menschen hört niemals auf.
Say their names! Es gab Zeiten, in denen man die Namen dieser Menschen voller Fröhlichkeit ausgesprochen hat: mal laut gerufen, mal leise geflüstert, lachend und mit leichter Zunge oder ernst und nachdrücklich, beiläufig oder bestimmt, zufällig oder eindringlich – so wie man eben mit dem Bruder und mit der Tochter spricht, mit dem Geliebten und mit der Freundin, mit dem Sohn oder mit der Kollegin, mitten im Leben. Doch jener Mittwoch im Februar vor drei Jahren war eine „Zeitenwende“. Dieses große Wort ist neuerdings in aller Munde. Es beschreibt, was die Morde an Ihren Liebsten für Ihr Leben bedeuten, verehrte Angehörige. Nie mehr werden Sie die Namen Ihrer Liebsten so unbefangen aussprechen können wie in den Zeiten davor. Das hat für immer aufgehört. Für die ganze Stadt Hanau hat sich seit dem 19. Februar 2020 etwas Grundlegendes verändert.
II.
Die Liebe aber, sie hört niemals auf. Dem Mörder ist es nicht gelungen, die Liebe zu zerschießen – das hätte er wohl gern gehabt. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Liebe zu Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov ist geblieben. Sie ist vielleicht sogar stärker, auf jeden Fall bewusster und öffentlicher geworden. Aber die Liebe hat ihre Leichtigkeit verloren. Sie ist da in der Schwere des Seins, sie lässt sich schmecken im Salz der Tränen, die auch heute fließen, sie ist zu spüren im Pochen hinter den Schläfen, im Schmerz, der sich mal laut und schrill meldet, wenn er an die Oberfläche drängt – und sich dann wieder in die Tiefe zurückzieht, wo er wie ein Tinnitus pfeift und wummert.
Was da in Ihnen trauert und rumort und schmerzt, das ist nichts anderes als Liebe, die nicht aufhört. Und: Sie fühlt sich bei allen ein bisschen anders an. Es gibt nicht die eine Art zu trauern, erst recht nicht die richtige oder die falsche. Einer wird verrückt, wenn er nicht etwas tut. Die andere zieht sich zurück und will für sich sein. Einer will kämpfen, die andere braucht ihre Ruhe. Manche wollen jetzt nur noch nach vorn blicken, andere empfinden eben das als Verrat. Und bisweilen ist man sogar mit sich selbst uneins und im Widerspruch. So ist das, und so darf das sein. Manche, die nicht direkt betroffen sind, wollen die Trauer endlich für abgeschlossen erklären. Irgendwann muss es doch mal wieder gut sein. Aber so wie es war, wird es nicht mehr. Und wenn es tatsächlich wieder gut wird, kann es nur anders gut werden. Und wann etwas gut ist und wann nicht, das können allein die betroffenen Menschen sagen, jeder und jede für sich.
Trauer braucht Zeit. Viel Zeit. Wie eine schwere, tief blutende Wunde irgendwann zuheilt, aber als juckende Narbe bleibt, so ist es auch mit der Trauer. Sie verändert sich, doch sie bleibt. Sie bleibt, weil die Liebe so groß ist. Diese Liebe ehren und würdigen wir jetzt hier in der Hanauer Marienkirche und überall, wo wir zusammenkommen und an die Getöteten denken. Diese Liebe bezeugen wir in jedem Bild, in jedem Wort, in jeder Kerze, mit jeder Blume, die wir heute an den Anschlagorten niederlegen.
III.
Wenn ich allen Glauben hätte und damit Berge versetzen könnte, schreibt Paulus, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Erst die Liebe macht den Glauben wirklich zum Glauben. Ein Glaube ohne Liebe ist hohl. Ein Mensch ohne Liebe ist hohl. Es ist die Liebe, die unsere Religionen erfüllt und die unsere unterschiedlichen Weisen, Gott zu ehren, tief miteinander verbindet. Es ist die Liebe, in der wir eins sind. Es ist die Liebe, in der wir Gott erfahren und seine Nähe spüren. Gott ist Liebe, spitzt die Bibel das an anderer Stelle zu.
Niemand kann einem anderen Menschen die Trauer abnehmen. Das wäre auch gar nicht gut, denn es wäre, als würde man dem anderen seine Liebe, sein Leben abnehmen, die ja gerade im Schmerz lebendig und fühlbar bleiben. Was wir aber können: Trauer miteinander ertragen und tragen. Das gibt Kraft. Das ist Liebe, die die Liebe vermehrt. Darum wohl behauptet Paulus von ihr: sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält allem stand. Die Liebe lässt uns über uns selbst hinauswachsen – hin zum Mitmenschen. Sie verbindet uns mit Gott. Sie hebt das einsame und verzweifelte Ich auf in ein Wir, das zusammensteht.
IV.
Die Liebe sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie hält allem stand.
Wenn jetzt alle, die gerade in dieser Kirche sitzen, erzählen würden, wann und wie sich diese Worte mit Leben gefüllt haben: Es wären wunderbare Geschichten voller Taten und Initiativen, voller Gespräche und Begegnungen, voll gemeinsamen Lernens. Geschichten von Bitternis, die überwunden wird. Geschichten von Bösem, dem mit Gutem Paroli geboten wird. Geschichten von Projekten, die das Zusammenleben gerechter machen. Geschichte von unermüdlicher Suche nach der Wahrheit.
Die Angehörigen der Ermordeten und alle, die sie unterstützen, haben es mit Geduld und Zorn und Beharrlichkeit erreicht, dass ein Untersuchungsausschuss bis heute nach der Wahrheit sucht. Die Betroffenen mussten Druck machen und dafür sorgen, dass zustande kam, was ohne sie liegengeblieben wäre. Das kann und das muss man beklagen, ja. Vor allem aber bewundere ich Sie als Angehörige dafür. Und ich danke Ihnen, dass Sie nicht locker gelassen haben. Auch diese Beharrlichkeit ist ein Ausdruck von tatkräftiger Liebe.
„Tenderness is, what love feels in private. Justice is what love looks like in public.” Übersetzt: “Zärtlichkeit ist, wie Liebe sich im Privaten anfühlt. Gerechtigkeit ist ihr Gesicht in der Öffentlichkeit.“ Diesen Satz hat der Bürgerrechtler Cornel West in seinem Kampf gegen Rassismus gesagt. Die Liebe erträgt alles und glaubt alles, schreibt der Apostel. Damit meint er nicht, sie findet sich mit allem ab und deckt es mit dem sprichwörtlichen Mantel der Liebe zu. Im Gegenteil: Die Liebe rebelliert gegen Ungerechtigkeit. Den dumpfbackigen Parolen, die Hass verbreiten, glaubt sie nicht. Sie reißt die Masken der Feigheit ab.
V.
Die Liebe hört niemals auf. Übersetzt ins öffentliche, gesellschaftliche Leben bedeutet das: Der Einsatz für Gerechtigkeit, der Protest gegen Rassismus, der Widerstand gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit hören niemals auf. Ich muss ja nur auf mich selbst blicken, um zu merken: Auch ich vergesse die Liebe. Auch ich rede mich heraus und winde mich, warum ich gerade gar nichts tun kann. Auch ich verwechsle meine Vorurteile mit einer persönlichen Meinung. Auch ich habe Angst vor der Veränderung. Ja, ich bin anfällig und keineswegs gefeit. Deshalb sind Orte wie diese Kirche und Zeiten wie dieser Sonntagvormittag so wichtig für mich. Deshalb stelle ich mich den Erinnerungen und suche Begegnungen. Deshalb helfen mir Symbole und Zeichenhandlungen. Sie rütteln mich auf und verhindern, dass ich vergesse.
Es wird nie den Augenblick geben, in dem wir sagen können: „Jetzt sind wir fertig damit.“ Dem Hass entgegenzutreten, das bleibt eine tägliche Aufgabe für jeden einzelnen und jede einzelne von uns. Und zwar nicht erst dann, wenn sich der Rassismus besonders aufdringlich und spektakulär aufbläst. Es geht viel früher los, in ganz kleinen Alltagssituationen. Da braucht es oft gar nicht so viel Mut, aber eben doch Mut, um eine verächtliche Bemerkung zu kontern oder einer populistischen Parole zu widersprechen.
Jedes Widersprechen hat Wirkung. Man kann etwas gegen Rassismus tun. Viel sogar. Da helfen zum Beispiel möglichst viele Begegnungen, möglichst viel Menschenliebe.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses bekannte Gebot kann man auch so übersetzen: Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du. Liebe bedeutet: vor aller Unterschiedlichkeit der Menschen ihre Gleichheit zu erkennen. Dann kann ich dem anderen mit der Haltung entgegentreten: Ich will, dass du bist. Und ich unterstütze dich dabei, du zu sein, so gut ich kann.
VI.
Die Liebe glaubt alles, sie hofft alles. Mich hat die Aktion „Klage und Hoffnung für Hanau“ berührt. Viele Menschen haben vor einem Jahr auf dem Hanauer Marktplatz ihren Kummer aufgeschrieben und ihrer Wut und Bitterkeit Luft verschafft. Und: Sie haben neben die Kummerkarten hoffnungsvolle Gedanken an eine Pinnwand geheftet. Am Ende waren es doppelt so viele Hoffnungsbotschaften wie Kummerkarten. Der Schmerz bleibt, aber die Liebe ist größer. Ihre Kraft ist nicht kleinzukriegen. Sie hofft alles.
Heute haben Sie hier in der Kirche Scherben abgelegt. Die Scherben stehen für die Hoffnungen, die am 19. Februar 2020 zertrümmert wurden. Die Scherben stehen für die Herzen, die zerbrochen sind, und für die Träume vom Leben, die zerstört wurden. Der Apostel Paulus nimmt in seinem großen Lied von der Liebe ebenfalls solche Bruchstücke in die Hand und betrachtet sie. Und schreibt dazu:
Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber das Vollkommene kommen wird, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Die Morde vor drei Jahren haben vielen Menschen in Hanau und weit über Hanau hinaus ihr Urvertrauen in die Welt geraubt und ihr Leben in Stücke gehauen. Paulus kennt diese Erfahrung. Doch er hält trotzig an der Hoffnung fest: Das, was wir jetzt und hier erleben, ist nicht das Letzte. Es kommt der Tag, da werden wir Gott und seine Gerechtigkeit sehen, und Gott wird uns ansehen. Dann wird Gott zusammenfügen und vollenden, was jetzt in losen Bruchstücken vor uns liegt – und uns die Augen öffnen. Wir werden verstehen, was uns jetzt noch dunkel bleibt. Wir werden erkennen und erkannt werden. Und es wird gut sein.
Der Tag ist noch nicht da. Doch er ist uns fest verheißen, und wir erwarten ihn. Wir warten nicht mit leeren Händen. Uns bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Amen.