Predigt im Gottesdienst mit der Aufführung der Komposition "Glossolalie" von Dieter Schnebel in der Philipp-Melanchthon-Kirche Berlin-Neukölln

Wolfgang Huber

"Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit."
(2. Kor. 3,17)

I.
Glossolalie: Unvergesslich ist mir ein Gottesdienst in der südkoreanischen Stadt Inchon. Tausende von Menschen waren versammelt, um für die Wiedervereinigung des geteilten Korea zu beten. Auf eine leise Aufforderung hin hob das Gebet an; alle Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes waren an ihm beteiligt. Leise begann es. Aber dann schwoll es an wie ein Sturm. Es bewegte sich in Geräuschwellen, die durch das Kirchenschiff wogten. Einzelne Stimmen traten hervor und nahmen sich wieder zurück. Ich weiß nicht, wie lange das dauerte. Wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin wurde es leiser, um schließlich ganz zu verstummen. Alle hatten sie mit Gott geredet; nun sahen sie sich wieder an. Glossolalie, Reden in Zungen.

Glossolalie - so heißt die Komposition von Dieter Schnebel, die in ihren drei Teilen den heutigen Gottesdienst bestimmt und seine äußere wie innere Gestalt prägt. Das Verhältnis von Sprache und Musik steht auf dem Spiel. Dass die Sprache des Glaubens, die weithin kraftlos geworden ist, in der Musik wieder aufersteht, ist die Hoffnung, die in Dieter Schnebels Musik mitklingt. Doch eine Musik, in der das möglich ist, kann gerade nicht eine Musik des Triumphs - nein, sie kann nur eine Musik des Kreuzes sein, musica crucis.

Die Verbindung von Sprache und Musik bestimmt diese Komposition. Sie zeigt aber nicht nur das Gelingen. Nein, die Verbindung von Sprache und Musik kann auch scheitern. Die Sprache wird zerhackt; die Musik verstummt. Und die Musik kann das Hohle an unserem Sprechen aufdecken, das Leere an unseren Phrasen, die Anmaßung unserer Parolen.

II.
Glossolalie, Zungenrede: Das Misslingen gehört zu ihr ebenso wie das Gelingen. Die biblische Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2) ist und bleibt das Urbild gelingender Glossolalie. Die Apostel werden vom heiligen Geist erfüllt und reden in Zungen. Aber in der bunten, multikulturellen Gesellschaft, die sich um die Geisterfüllten versammelt, meint jeder, seine eigene Sprache zu hören. Die Vielfalt der Sprachen, die plötzlich laut werden, stört das Verstehen nicht, sondern macht es möglich.

Dieses Pfingstfest ist eine Demonstration eigener Art, unangemeldet dazu. Seine biblische Beschreibung ist ein unmittelbares Gegenprogramm gegen den Rassismus, dem heute ein Demonstrationszug zum Brandenburger Tor gewidmet ist. Die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, die in unserem Lande herrscht, gibt auch einer Demonstration Raum, die der gleichen Freiheit aller Menschen ins Gesicht schlägt und Uniformität statt Freiheit fordert. Vor vierzig Jahren hat Dieter Schnebel seine "Glossolalie" komponiert. Aber den Ungeist, der heute auf das Brandenburger Tor zumarschiert, hat er schon damals dargestellt. Wie sehr wünschte man sich, dass dies Geschichte und nicht traurige Gegenwart wäre.

Der Pfingstgeist ist das Gegenteil geistloser Uniformität. Die Vielfalt der Menschen wird akzeptiert; in ihrer Unterschiedlichkeit werden sie wahrgenommen und erreicht. Verständigung gelingt gerade deshalb, weil die Verschiedenheit der Menschen anerkannt und gewürdigt wird. Ich hoffe, dass die andere Kundgebung am Brandenburger Tor, die heute angekündigt ist, dass diese Kundgebung für ein "Europa ohne Rassismus" ein Zeichen für eine Art der Verständigung setzen wird, die das Fremde nicht abwertet und gerade dadurch auch das Eigene nicht zerstört.

Die Pfingstgeschichte ist dafür ein Modell: Der Geist öffnet Menschen so für die Wahrheit Gottes, dass sie auch aufeinander hören können. Schon im Alten Testament, in der Hebräischen Bibel weht dieser pfingstliche Geist. Die alttestamentliche Pfingstgeschichte findet sich beim Propheten Joel; sie heißt so (Joel 3):

"Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen. Auch will ich zur selben Zeit über Knechte und Mägde meinen Geist ausgießen. Und ich will Wunderzeichen geben am Himmel und auf Erden: Blut, Feuer und Rauchdampf. Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Und es soll geschehen: wer des Herrn Namen anrufen wird, der soll errettet werden. Denn auf dem Berge Zion und zu Jerusalem wird Errettung sein, wie der Herr verheißen hat, und bei den Entronnenen, die der Herr berufen wird."

Dass Söhne und Töchter, Alte und Junge, Knechte und Mägde zu Trägerinnen und Trägern des göttlichen Geistes erklärt werden, zeigt dessen soziale Kraft. Hier gibt es keine Spiritualisierung des Geistes; er ist eine soziale Wirklichkeit. Er hebt gewohnte Rollenzuweisungen auf, er bestimmt das Verhältnis von Frauen und Männern, von Jungen und Alten neu. Er ist ein befreiender Geist; er schafft Freiheit.

III.
Glossolalie, Zungenrede: Wir kennen auch den Fall misslingender Zungenrede. Dass Menschen aneinander vorbeireden, ist uns allen vertraut. Ja, das Aneinandervorbeireden ist inzwischen zum beliebtesten Gesellschaftsspiel geworden. Es trägt den Namen Talkshow. Noch nie habe ich jemanden getroffen, der an einer Talkwhow teilnahm, weil er einen anderen verstehen wollte. Sich selbst ins rechte Licht zu rücken - darum allein geht es. Ein Talkshow erreicht bekanntlich immer dann ihren Höhepunkt, wenn alle Beteiligten gleichzeitig reden - und das Publikum biegt sich vor Lachen. Es kann dieselbe Sprache verwendet werden - und man versteht sich nicht. Der Grund ist leicht zu erkennen: Verständigung ist gar nicht erstrebt; worum es geht, ist Selbstdarstellung, Seinwollen wie Gott. Wo die Sprache zur Selbstdarstellung eingesetzt wird, erstirbt das Verstehen. Wo Menschen die Selbstdarstellung, die Selbstpräsentation zum eigentlichen Sinn ihres Lebens machen, ist das Missverstehen nicht ein vermeidbarer Unglücksfall; es ist die zwangsläufige Folge.

Auch dafür gibt es ein biblisches Urbild: die Geschichte vom babylonischen Turm (1. Mose 11). Sie zeichnet das Bild einer Menschenwelt, die von wechselseitigem Verstehen geprägt war - ein ideales Bild, ein in die Anfangszeit projiziertes Urbild: "Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache." Woran scheitert dieses umfassende Verstehen, diese Gemeinschaft zwangloser Kommunikation? Es scheitert an dem Entschluss, Selbstpräsentation zum entscheidenden Maßstab menschlichen Handelns zu machen. Der menschliche Entschluss heißt: "Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen". Wenn alles um den eigenen Namen kreist, wenn alles Handeln in der eigenen Selbstdarstellung seinen Sinn hat, dann ist Sprachverwirrung die Folge. Deshalb heißt die göttliche Antwort: "Lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verwirre."

Auch in einer christlichen Gemeinde kann sich Sprachverwirrung ausbreiten. Glossolalie kann misslingen. Mit einer solchen Sprachverwirrung war Paulus in der jungen Christengemeinde in Korinth konfrontiert (vgl. 1. Korinther 14). Die Fähigkeit, "in Zungen zu reden", wurde dort als ein besonders wertvoller Erweis des Geistes angesehen. Entsprechend wurde er überschätzt. Diejenigen, die sich einbildeten, über diese Gabe zu verfügen, wurden überheblich und dachten, sie hätten von Gottes Geist eine größere Portion abbekommen. Diejenigen, die nicht anders konnten, als sich verständlich auszudrücken, kamen sich armselig vor; sie meinten, zu den "Armen im Geist" zu gehören und deshalb auch als Christen nicht allererste Sahne, sondern nur minderwertiges Fußvolk zu sein.

Der Geist aber, so hält Paulus dem entgegen, ist keine Qualität des Menschen, sondern eine Gabe Gottes. Niemand kann sich über den anderen erheben, weil er denkt, er habe vom Geist eine größere Portion zur Verfügung. Denn der Geist gehört Gott. Genauer: in ihm ist Christus gegenwärtig. Er aber erhebt sich nicht über die anderen, sondern wird ihr Knecht. Er beherrscht nicht die anderen durch seine Geistesgaben, sondern liefert sich ihnen aus. Er nimmt für sich nicht eine besondere Sprache in Anspruch, die den direkten Zugang zu Gott eröffnet; sondern er redet so mit Gott, dass auch die anderen Menschen das verstehen. Deshalb, so folgert Paulus, ist die prophetische Rede wichtiger als die Zungenrede, das prophetische Wort größer als die Glossolalie. Wer in Zungen redet, redet für sich selbst; wer prophetisch redet, redet für die anderen. Wer in Zungen redet, erbaut sich selbst, wer prophetisch redet, erbaut die Gemeinde. Die Liebe ist der Maßstab, an dem alles zu messen ist, was mit dem Geist zu tun hat. Denn der Herr ist der Geist; dann aber kann es sich nur um einen Geist der Liebe handeln.

IV.
Glossolalie, das Reden mit Zungen, kann misslingen. Der Geist der Freiheit kann verfehlt werden. Selbstdarstellung, Selbstpräsentation, das Interesse an eigener Machtentfaltung können auch die Kirche bestimmen. Heute, an diesem Sonntag Invokavit, dem ersten Sonntag der Passionszeit spricht Papst Johannes Paul II. in Namen der römisch-katholischen Kirche im Gottesdienst in St. Peter zu Rom eine große Vergebungsbitte aus. Er bittet um Vergebung für die Schuld, die "Söhne und Töchter der Kirche" im kirchlichen Namen auf sich geladen haben: in der Spaltung der Christenheit, in der Abwendung vom Volk Israel, dem Jesus entstammte, in der Missachtung anderer Religionen, in der Geringschätzung des Fremden zumal. Das ist eine eindrucksvolle und respektgebietende Geste. Für den Papst gehört diese Vergebungsbitte zum Heiligen Jahr, zum Jahr 2000. Doch diese Bitte gehört genauso zum gesamten Weg der Christenheit. Sie lässt sich nicht auf ein Heiliges Jahr und auch nicht auf eine Kirche begrenzen. Sie gehört in jedes Jahr, an jeden Ort, in jede Kirche. Sie wird laut, wenn die Evangelische Kirche im Jahr 1945 ihr Stuttgarter Schuldbekenntnis spricht. Sie wird laut, wenn wir in diesem Gottesdienst um Vergebung dafür bitten, dass die Kirche immer wieder stärker an der Selbstdarstellung ausgerichtet war als am Geist der Freiheit, der zugleich ein Geist der Liebe ist.

Gewiss brauchen wir für diesen Geist heute eine neue Sprache. Wir dürfen ihn nicht einsperren in das Gefängnis einer kirchlich verkrusteten Sprache; der Geist der Freiheit muss auch in der Freiheit unserer Sprache zum Ausdruck kommen. Wir brauchen den Mut, weltlich von Gott zu reden. Aber wir dürfen den Geist der Freiheit auch nicht der seichten Beliebigkeit eines Redens ausliefern, dem nichts mehr heilig ist. Deshalb brauchen wir auch den Mut, dem Heiligen mitten in unserer Welt Raum zu geben.

Ich glaube, dass Dieter Schnebels Musik nach beiden Seiten hin eine Bahn brechen will. Es ist säkulare Musik, die sich den Herausforderungen unserer Zeit aussetzt. Aber es ist zugleich musikalische Theologie, in der man auf das Geheimnis des Glaubens hören kann. Die Weltlichkeit unserer Sprache - auch unserer musikalischen Sprache - und das Geheimnis des Glaubens gehören hier zusammen.

Kein Theologe hat stärker in dieser Richtung gewiesen als Dietrich Bonhoeffer. Kein Theologe spielt deshalb auch für Dieter Schnebel eine wichtigere Rolle als er. Wie der Geist der Freiheit uns verwandeln kann, hat keiner eindrücklicher beschrieben als Bonhoeffer. Im Tegeler Gefängnis war es, wo er im August 1944 die Zeilen niederschrieb:

"Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,
nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,
nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens
nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen,
und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen."

Amen