Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst zum Neujahrstag am 1. Januar 2023 in der Frauenkirche in Dresden

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland

Dresdner Frauenkirche im Abendlicht

Dresdner Frauenkirche im Abendlicht

Predigttext: 1. Mose 16, 13

Kanzelgruß

Gnade sei mit euch und Friede
von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Amen.

I.

Selten, liebe Neujahrsgemeinde, habe ich die Sehnsucht nach Gott und das Leiden, das mit dieser Sehnsucht einhergeht, so intensiv gespürt wie in dem Jahr, das gestern zu Ende ging. Vor einer Woche erst, zu Weihnachten, haben wir gefeiert, dass Gottes Sehnsucht nach den Menschen noch größer ist. So groß, dass Gott für sich selbst das Menschsein erwählt – und zwar in seiner zartesten, verletzlichsten, am stärksten auf Hilfe angewiesenen Form eines kleinen Kindes. Gott nimmt alle menschliche Schwachheit auf sich, um uns nah zu sein. In dieser unbegreiflichen göttlichen Sehnsucht liegt unsere Rettung: Das nehme ich als tiefe Gewissheit mit ins neue Jahr. Und diese tiefe Gewissheit brauche ich nötig! Die vielen schriftlichen Weihnachtsgrüße, die Gespräche in der Familie an den Weihnachtstagen zu Hause, die Telefonate mit

Freunden zwischen den Jahren: Sie waren anders als sonst. Erschöpfung klang darin und manche Sorge. Viel Verunsicherung im Blick auf das, was vor uns liegen mag. Bei manchen auch richtige Angst.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“: Dieser Ausruf wird uns im Jahr 2023 als Jahreslosung begleiten. Das klingt, als ob jemand staunt. Und als ob sich in das Staunen etwas wie aufmüpfiger Trotz mischt. Ein trotziges Dennoch gegen alles, was seit fast drei Jahren wie willkürliches, blindes Schicksal pausenlos über uns hereinbricht.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ Es klingt wie ein machtvolles Stoßgebet gegen das ohnmächtige Grundgefühl, das viele aus dem alten ins neue Jahr hinüberschleppen.

II.

Das Stoßgebet kommt aus biblischen Zeiten zu uns, aus dem Mund einer schwangeren Frau namens Hagar. Sie ist auf der Flucht, irrt hoffnungslos in der Wüste umher. Übersetzt man ihren Ausruf ganz wörtlich aus der hebräischen Sprache, so lautet er: „Du bist ein Gott der Erscheinung“, also: „Du bist ein Gott, der sich zeigt.“

Was für ein tiefer und hoffnungsvoller Doppelsinn: Gott, der uns im Blick hat, ist ein Gott, der sich sehen lässt und nicht verborgen bleiben wird! 

Wir sind nicht Hagar, nicht diese schwangere Frau auf der Flucht in der Wüste. Doch in wahrlich wüsten Zeiten leben auch wir: bedroht von allerlei Verwüstungen draußen in der Welt und drinnen in der Seele, drangsaliert von wüsten Kriegsherren und wüsten Viren, gefährdet von Wüstenklima, meteorologisch und gesellschaftlich, von Wüstlingen, die in der Demokratie herumtrampeln, Sand in die Augen der Menschen streuen - und ins gesellschaftliche Getriebe.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Ein Stoßgebet aus Wüstenzeiten in wüsten Zeiten. Mehr noch. Dieses Stoßgebet rebelliert gegen faden Fatalismus, gegen das „Da-kann-man-nichts-machen-auf-mich-kommt-es-ja-nicht-an-was-soll-ich-schon-tun“. Das nämlich ist die große Versuchung: sich unsichtbar machen und sich wegducken. Kleine Kinder halten sich manchmal die Augen zu und rufen: „Such mich!“ Wir lächeln und antworten. „Ich seh‘ dich doch!“. Na klar wissen wir, dass das nicht funktioniert: Du hältst dir die Augen zu, und dadurch wirst du unsichtbar.

Wissen wir´s wirklich? Wenn sich Krise auf Krise türmt, man sich am liebsten die Augen zuhalten möchte und nicht mehr hinschauen mag – dann wird mancher und manche doch wieder zum Kind.

„Du bist ein Gott, der mich sieht!“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“: Diese Gewissheit gibt mir einen anderen Blick, als ich ihn mit meinen eigenen Augen habe. Wenn ich Gottes Augen auf mich gerichtet weiß, dann traue ich mich, meine eigenen Augen weit aufzumachen und wach hinzusehen: ungeschönt, ohne Weichzeichner, und doch zuversichtlich. Ich bin nicht mehr nur Auge in Auge mit der Katastrophe. Mein Horizont weitet sich. Licht bricht ein in meinen elenden Tunnelblick, der schon das nächste Unglück erwartet. Und ich ahne: Gott wird sich sehen lassen.

III.

Die Menschen, die in der Bibel zu Wort kommen, haben übrigens eine faszinierend andere Vorstellung von der Zukunft als wir. Wir sind gewohnt, wie Läufer mit dem Blick nach vorn zu eilen, in die Zukunft hinein, um sie zu gestalten oder zu „meistern“, wie manche sagen. Die Menschen in der Bibel fühlten sich nicht wie Läufer, die das vor ihnen Liegende fest im Blick haben, sondern eher wie beim Rudern, bei dem wir nur das sehen können, was schon hinter uns liegt. Und so, im Rückblick, kommt uns Zukunft anders „vor Augen“: Kein Ablauf von Ereignissen, die sich berechnen lassen und logisch aufeinander folgen. Es gibt ihn nicht, den vorhersehbaren Lauf der Dinge. Wie oft ist Gott in der Vergangenheit in diesen „Lauf“ eingebrochen – und mit ihm das nicht Erwartete, das nicht Geplante!

Das ist ein aufregender Gedanke. Und auch ein tröstlicher. Mir macht er Hoffnung. Und Mut.

Nie ist die Zukunft so gekommen, wie Menschen sie sich ausdachten.

Wir haben so viele blinde Flecken in unseren Zukunftsplanungen. Klar, wir müssen in all den Krisen beharrlich nach Lösungen suchen, und wir müssen auch welche finden. Aber jenseits aller menschlichen Lösungen und weit über sie hinaus können wir mit der unberechenbaren Er-lösung rechnen, die von Gott kommt.

Der Krieg ist zu Ende.
Die Mauer ist gefallen.
Die Katastrophe ist abgewendet.
Der Tyrann ist gestürzt.
Der Krebs ist weg.
Die Liebe erfüllt sich.
Das Kind kommt zur Welt.
Der Gekreuzigte wird auferweckt zu neuem Leben.

Wer hat das gemacht? Gewiss, viele Menschen haben sich gemüht. Aber wäre da nicht Gottes Auge gewesen, das auf uns gerichtet ist und die ungeahnten Möglichkeiten sieht; wäre da nicht die Macht des liebenden göttlichen Blicks gewesen: Es wäre nichts geworden.

IV.

Und auch da, wo Gottes Hilfe und Rettung ausbleiben, ist unser Glaube nicht am Ende. Im Gegenteil: Ausgerechnet in dieser quälenden und notvollen Erfahrung hat er seinen Ursprung und seine Mitte.

Da ist das berühmte Auge Gottes hier in der Frauenkirche. Es wacht über den verzweifelten Jesus in Gethsemane, während seine Jünger schlafen.

Gottes Boten, die Engel, sind da, während Jesus mit seiner Todesangst ringt. Sie tragen das Kreuz – Symbol des christlichen Glaubens – und damit die Botschaft: Da, wo unsere Hoffnung verzweifelt aufgibt und schreit: „Hier ist kein Gott!“, da hat Gott seine größte Macht gezeigt. Hat sich selbst in den Tod begeben – um dem Leben zum Sieg zu verhelfen. Zu allen Zeiten sind Christen für ihren Glauben an einen solchen Gott ausgelacht worden. Wir können es nicht begreifen, warum Gott sieht und doch nicht so eingreift, wie wir´s uns wünschen; warum er sich zeigt, und doch so ganz anders als erwartet.

Aber dass Gott sieht - und dass Gott sich zeigen wird: Das ist gewiss.

Solche Gewissheit hilft, dem Schlimmen und Bösen standzuhalten und es zu überwinden. Sie gibt die Kraft, nicht aufzugeben und Rückschläge auszuhalten; den Mut, alles zu tun, was in unseren eigenen Möglichkeiten liegt.

So gewiss will ich in die Tage dieses Jahres 2023 gehen. Und wenn mich die Aussichtslosigkeit überfällt, dann wird dies mein Stoßgebet sein: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“. Ein lichtes Fenster zum Himmel ist offen. Drückende Enge weitet sich. Alles Gute wird möglich. Wir haben Grund zu hoffen.

Amen.

Friedensgruß
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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