Predigt im ökumenischen Gottesdienst in der Kathedrale von Palma de Mallorca

Margot Käßmann, Botschafterin der evangelischen Kirche für das Reformationsjubiläum

Liebe Gemeinde,

es ist wunderbar, dass wir heute in der so beeindruckenden Kathedrale von Palma einen ökumenischen Gottesdienst aus Anlass des 500jährigen Reformationsjubiläums feiern können. Das ist ein kräftiges Symbol dafür, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten gelernt haben: Uns verbindet mehr, als uns trennt!

Obwohl: Mussten wir das wirklich erst lernen? Der Predigttext aus dem Johannesevangelium, den wir eben in der Lesung gehört haben, macht das ja schon deutlich. Jesus sagt dort: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Joh 15,5)

Eine meiner Töchter wohnt in Rheinland-Pfalz, oberhalb des Rheins inmitten eines Weinanbaugebietes. Vor zwei Wochen hatte ich gerade den Predigttext gelesen, als ich mit meinen Enkeltöchtern einen Spaziergang durch die jetzt so herrlichen Weinberge machte. Die Blätter werden bunt, die Trauben sind langsam reif. Da steht einem beim Gang durch die Weinstöcke dieses Bild, das Jesus als Beispiel nimmt, unmittelbar vor Augen. Die Reben sind so verschieden, schon an einem einzigen Weinstock. Sie können groß und saftig sein oder klein und eher nicht so vielversprechend. An manchen Weinstöcken variieren sogar die Farben der Reben. Aber sie alle gehören an diesen einen Stock, das steht völlig außer Frage. Ohne den Weinstock sind die Reben nicht existent.

Deshalb ist das auch zweitausend Jahre später ein gutes Bild für Verschiedenheit und Gemeinsamkeit der christlichen Konfessionen. Die Verschiedenheit ist nicht das große Problem, meine ich. Unterschiede können ja auch kreativ sein. Ich bin lutherisch aufgewachsen, war lange Jahre Bischöfin einer durch und durch lutherischen Kirche, in dieser Tradition mit ihrer Lehre und Liturgie bin ich beheimatet. Aber mit Interesse kann ich sehen, wie römische Katholiken die Sakramente verstehen, wie bedeutend die Liturgie für die Orthodoxie ist, wie sehr die Reformierten auf das Wort konzentriert sind und dass Mennoniten bis heute für ihren Pazifismus einstehen. Gerade mit Blick auf die anderen lerne ich ja auch meine eigene Identität besser kennen. Zum Reformationsjubiläum hatten wir im Züricher Großmünster eine kleine Predigtreihe zu den Unterschieden zwischen Reformierten und Lutheraner. Die Gemeinde war daran sehr interessiert und es gab intensive Diskussionen dazu.

Ziel der Ökumene ist deshalb für mich keine Einheitskirche. Die wäre genauso langweilig wie eine Einheitspartei. Es geht nicht darum, dass alle kleinen Flüsse wieder in einen großen Fluss fließen, sondern darum, dass alle Flüsse derselben Quelle entspringen: Jesus Christus.

„Ohne mich könnt ihr nichts tun“, heißt es im Johannesevangelium. Ich denke, das bleibt für alle Konfessionen und Kirchen gemeinsam entscheidend. Mir wird das immer wieder deutlich mit Blick auf den Dialog der Religionen, der wohl DIE große Herausforderung für unsere Kirchen heute ist. Gern möchten viele Menschen die Unterschiede überwinden und versuchen dann, gemeinsame, interreligiöse Gebete zu organisieren. Bei solchen Gebeten aber bleibt Jesus Christus notwendigerweise ausgeklammert. Denn ein Jude kann nicht zu Jesus beten, er ist allenfalls ein Rabbi für ihn. Und eine Muslima kann nicht zu Jesus beten, er ist ein Prophet für sie, auf den ein noch größerer Prophet folgen sollte. Das ist nicht schlimm. Wir haben gelernt – Gott sei Dank – dass wir je unsere Wahrheit im Glauben gefunden haben und das heißt nicht, dass andere nicht ihre je eigene Wahrheit über Gott in ihrem Glauben finden. Aber ein Vermischen der Religionen hilft überhaupt nicht weiter.

Für Christinnen und Christen gleich welcher Kirche sie angehören, ist Jesus Christus der Weg zu Gott, die Wahrheit über Gott, die Zusage des Lebens. So wird es im Johannesevangelium formuliert: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Martin Luther unterstreicht das mit seinem „solus Christus“, Christus allein. Und das unterscheidet unsere Religion von allen anderen Religionen. Dass Gott selbst am Kreuz leidet, ja dass Gott stirbt, das ist für andere Religionen völlig unverständlich. Einen empathischen Gott, der mit den Menschen fühlt, ja, den kennen auch Judentum und Islam. Aber das eigene Leiden, die Ohnmacht gegenüber der Gewalt dieser Welt, das ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens.

Für uns als Christen nun ist gerade das besonders wichtig. Denn wir glauben nicht, dass Gott uns Leid und Krieg schickt als Strafe oder aus Willkür. Sondern wir glauben, weil Gott selbst gelitten hat, versteht er unser Leid und schenkt uns die Kraft, mit dem Leid zu leben. Gott gibt dem Tod nicht das letzte Wort – das sagt uns die Geschichte von Jesus Christus und darauf vertrauen wir. Diesen gemeinsamen Glauben teilen wir. Er fügt uns über alle Unterschiede hinweg zusammen. Und von diesem Glauben her, führen wir gemeinsam Gespräche mit Menschen anderer Religion, damit Religion nicht Konflikte schürt, sondern zum Frieden beiträgt in der Welt.

Wir leben in Europa nicht nur in einer Situation, in der wir lernen müssen, mit anderen Religionen im Dialog zu sein. Wir lernen auch, was es heißt in einem säkularen Umfeld unseren christlichen Glauben zu leben. In der Lutherstadt Wittenberg beispielsweise, in der wir dieses Jahr einen ganzen Reformationssommer gestaltet haben, sind lediglich zwölf Prozent der Einwohner Mitglied einer Kirche. Da geht es nicht so sehr darum, unsere Unterschiede zu betonen, sondern gemeinsam von unserem Glauben zu erzählen, diesen Glauben weiter zu geben.

Mich erinnert das daran, dass die ökumenische Bewegung ihren symbolischen Ursprung auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 hatte. Es waren Missionare, die zusammenkamen, weil sie sagten: Es untergräbt unsere Glaubwürdigkeit, wenn wir unsere Differenzen vor uns hertragen. Wir müssen zu einem gemeinsamen Zeugnis finden. Als Beispiel will ich einen Bischof aus dem Pazifik nennen, der mir einmal sagte: Auf unserer Insel machen wir eigentlich alles gemeinsam. Nur am Sonntagmorgen, da trennen wir uns und gehen in die katholische, die lutherische oder in die baptistische Kirche.

Weil das immer mehr Menschen in den Ländern des Südens heute nicht mehr verstehen, gibt es Kirchen, die sich vollkommen loslösen von den dogmatischen Differenzen der europäischen Mutterkirchen. Es gibt inzwischen Schätzungen, dass nahezu die Hälfte aller Christinnen und Christen auf der Welt nicht mehr einer der traditionellen konfessionellen Kirchen – römisch-katholisch, reformatorisch oder orthodox – angehören, sondern einer der großen freien christlichen Bewegungen im Pfingstbereich. Eine chinesische Pastorin sagte mir: Wir sind schlicht post-konfessionell. Die europäischen Differenzen des 16. Jahrhunderts interessieren uns nicht.

Hmmm. Da lässt die traditionelle Konfessionskirche in ihrem Dialog eine neue Wertschätzung erkennen. Denn die Frage: Wie verstehen wir die Kirche, unsere Ämter, das Abendmahl, das ist doch auch interessant. Oft wird gesagt: Ihr da oben, ihr habt Probleme. Wir hier an der Basis haben sie nicht. Und doch spüren auch Menschen an der Basis die Unterschiede. Wie beispielsweise stellen sie sich einen Bischof vor. Das habe ich mich auch gefragt und hatte Bilder im Kopf, die mir als damals jüngere Frau nicht entsprachen. Kann jemand, der nicht Priester ist, das Abendmahl austeilen? Wie verstehen Sie Maria? Was bedeuten Heilige? Das sind Unterschiede. Die müssen nicht trennen und wir hoffen, dass sie uns eines Tages auch nicht mehr trennen am Tisch des Herrn, wenn wir Brot und Wein teilen. Aber wenn wir heute sagen, dass wir in die eine heilige christliche Kirche hinein taufen, die wir glauben – nicht AN die wir glauben, sondern die wir glauben, dass sie existiert unter all unseren Kirchen – dann genügt das für die Ökumene. Die Unterschiede sind dann Teil der Vielfalt. Ein Weinstock, viele Reben. Wie wir das in einer zunehmend säkularen Gesellschaft kommunizieren, das ist die missionarische Herausforderung heute. Und wir können sie nur ökumenisch annehmen wie 1910.

Wir feiern diesen Gottesdienst nun aus Anlass des 500jährigen Jubiläums der Reformation. Und wir feiern ihn mit einer Liturgie, nach Worten, die vom Vatikan und vom Lutherischen Weltbund gemeinsam verantwortet werden. Das ist bewegend. Das war noch vor 50 Jahren, geschweige denn vor 100 Jahren undenkbar. In der Liturgie kommt Dankbarkeit zum Ausdruck für den Weg, den wir miteinander gegangen sind, das haben wir eben erlebt. Aber es wird auch Schmerz bekannt über Versagen und gegenseitige Verletzung, ja die Schuld wird bekannt, dass innerkirchliche Differenzen für viele Menschen Leid und sogar Tod mit sich gebracht haben. Das finde ich gut und notwendig. Wir leugnen die Vergangenheit nicht. Aber wir zeigen uns als lernende Kirchen. Wir lassen Raum für Gottes Geist, dass er wehen möge und uns zeigt, dass es EIN Weinstock ist, zu dem wir gehören.

Die Reformation hat am Ende alle verändert. Die römisch-katholische Kirche ist heute nicht mehr die, mit der Martin Luther so sehr gerungen hat. Der Ablass gegen Geld wurde schon beim Trienter Konzil abgeschafft, die Messe in der Sprache des Volkes – eine zentrale Forderung der Reformation – mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eingeführt. Und 1999 haben sich römisch-katholische Kirche und Lutherischer Weltbund in einem zentralen theologischen Thema geeinigt, das in der Reformationszeit zentrale Bedeutung hatte. Sie haben die Rechtfertigung aus Glauben gemeinsam formuliert und gezeigt, das so, wie wir diese Lehre heute verstehen, wir gegenseitig von den Verwerfungen der Reformationszeit nicht mehr getroffen sind. Kardinal Kaspar hat in Wittenberg im Juni gesagt, dies sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass wir dieses Reformationsjubiläumsjahr ökumenisch feiern können. Ein „Kairos der ökumenischen Bewegung“ sei 2017, sagte Kardinal Kaspar. Dafür können wir dankbar sein, ja das können wir wahrhaftig gemeinsam feiern.

(Der Magdeburger Bischof Dr. Gerhard Feige, Vorsitzender der Ökumene Kommission der Deutschen Bischofskonferenz, hat mit Blick auf 2017 geschrieben: „Insgesamt wäre es entgegen sonst oftmals üblicher Selbstbespiegelungs- oder Profilierungstendenzen für katholische und evangelische Christen auf allen Ebenen sicher entkrampfend, sich gegenseitig noch mehr im Lichte Jesu Christi zu betrachten und neidlos ins Wort zu fassen, was man aneinander schätzt und vielleicht sogar bewundert, worin man spezielle Begabungen erkennt und den Geist Gottes eindrucksvoll am Wirken sieht. Dabei würde bestimmt auch auffallen, was an der evangelischen Kirche katholisch und an der katholischen Kirche evangelisch ist, was man bewahrt, im Gegen- und Miteinander seit der Reformation wiederentdeckt oder von der anderen als Bereicherung empfangen hat.“[1] Das ist ein guter Vorschlag, finde ich, denn er klingt hoffnungsvoll nach vorn gerichtet.

Zuletzt: Nach der Predigt wollen wir uns verpflichten, gemeinsam Zeugnis abzugeben. Und ja, dieses gemeinsame Zeugnis braucht unsere Welt heute. Der Reformator Martin Luther war überzeugt, dass das Leben eines Christenmenschen nicht im Abseits der Welt stattfindet, sondern mitten in der Welt. Da, wo wir leben, Familien gründen, im Beruf, in der Kultur, in der Politik aktiv sind, soll sich unser Glaube bewähren. Hier sind die Christen in Europa und weltweit ganz aktuell gefordert. Wo Nationalismus aus der Mottenkiste der Geschichte geholt wird, geben wir davon Zeugnis, dass unsere Familie der Kinder Gottes nationale Grenzen überschreitet. Denn das ist doch erfreulich: 2017 ist das erste Reformationsjubiläum, das nicht deutsch-national, sondern international und weltoffen gefeiert wird.

Wo Europa sich abschottet gegenüber Menschen auf der Flucht, sehen wir sie als Botschafter des weltweiten Unrechts vor unseren Türen. Wo Kriegsdrohungen unsere Tage erschüttern und Menschen sich an Rüstungsexporten bereichern, rufen wir neu den Satz des Jesus von Nazareth in die Welt: Selig sind, die Frieden stiften. Ja, unser Glaube hat etwas zu sagen mitten in dieser Welt. Und wir können es gemeinsam sagen als Christinnen und Christen, die verschiedenen Kirchen angehören.

Veränderungen werden in diesem Gottesdienst sichtbar, Veränderungen hin zu mehr Gemeinschaft, zu gegenseitigem Respekt und hin zu Versöhnung. Unsere Welt braucht diese Veränderung. Sie braucht das gemeinsame Zeugnis all der Reben, die sich zu dem einen Weinstock, Jesus Christus bekennen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen.

 


[1] Dr. Gerhard Feige, Ökumenische Bereicherung, in: Der Kirchentag. Das Magazin, 01/2014, S. 16f. S. 16.