Predigt Motettengottesdienst
Zum 14. Sonntag nach Trinitatis am 05.09.2021
1. Thessalonicher 5, 16-18
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Gemeinde,
neulich schickte mir jemand ein Foto von der Martin-Luther-Kirche in Bad Neuenahr und schrieb dazu: „Das interessiert Sie vielleicht. Sie waren doch Mitglied der rheinischen Landessynode, die jedes Jahr in dieser Kirche eröffnet wird.“ Ja, das interessierte mich, denn ich erinnere mich gern an jene Zeit und besonders an besagte Eröffnungsgottesdienste. Jedes Jahr am ersten oder zweiten Sonntag im Januar trafen sich mehr als 200 Synodale in dieser Kirche. Die Freude über das Wiedersehen war groß, Spannung lag in der Luft, vor allem wenn Wahlen in Leitungsämter auf der Tagesordnung der Synode standen und in meiner Erinnerung sangen wir jedes Mal aus voller Kehle den Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“. Ich habe dort auch manche bewegende Predigt gehört.
Ich betrachte das Bild der Martin-Luther-Kirche genauer. Das Gebäude liegt unmittelbar an der Ahr, und das Foto ist vom gegenüberliegenden Ufer aus aufgenommen. Da müsste doch eigentlich die Brücke sein, über die man von der Kirche zum Kurhaus gelangt. Diese Brücke ist weg. Nicht nur eingestürzt, sondern weg. Weggeschwemmt von den Fluten der Ahr nach mehrtägigem Starkregen Mitte Juli. Um die Kirche herum liegen Trümmer.
Das Foto steht für die verheerenden Folgen der Flut, die vor gut sieben Wochen den Westen Deutschlands heimsuchte. Fast 200 Menschen fanden in den schlammigen Wassermassen den Tod. Ungezählte Menschen verloren im wörtlichen wie im übertragenen Sinn den Boden unter den Füßen. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis die Wunden verheilen.
Ich betrachte, liebe Gemeinde, das Foto von der Martin-Luther-Kirche und denke auch an die vielen anderen Menschen, die in den letzten Wochen Schlimmes erlebten: an die Opfer des Erdbebens und des anschließenden Tropensturms auf Haiti; an jene, die in Kalifornien und im Süden Europas ihr Hab und Gut oder gar geliebte Menschen in den Flammen verheerender Brände verloren; und an Tausende von Menschen, die nicht aus Afghanistan evakuiert werden konnten und nun um ihr Leben fürchten.
Diese Gedanken kann und will ich nicht verscheuchen und ich vermute, das geht nicht nur mir so. Das aber macht, dass mir die Texte und Lieder, die für den Gottesdienst an diesem Sonntag vorgeschlagen sind, zu einer Zumutung werden. Da ist der Wochenspruch aus Psalm 103, mit dem ich Sie begrüßt habe: „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ Dann haben wir im Wechsel mit dem Motettenchor gesungen: „Danket dem Herrn, wir danken dem Herrn! Lobet den Herrn, ja, lobet den Herrn!“ Auch das Evangelium handelte von der Dankbarkeit. Und der für heute vorgeschlagene Predigttext aus dem 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher, Kapitel 5, setzt dem Ganzen die Krone auf. Mitten in dem Textabschnitt, den ich jetzt nicht ganz vorlese, heißt es: „Seid allezeit fröhlich, (…) seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.“
Wer, liebe Schwestern und Brüder, kann denn eigentlich allezeit fröhlich und in allen Dingen dankbar sein?! Niemand kann das! Nicht nur die Menschen, die unlängst von großem Unglück heimgesucht wurden. Jede und jeder von uns kennt neben Zeiten der Fröhlichkeit und des Dankens Zeiten der Traurigkeit und der Klage. Es ist doch so, wie im Alten Testament der Prediger Salomo sagt: „Ein jegliches hat seine Zeit. (…) Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.“ Auch der Apostel Paulus kannte diese Weisheitssätze seiner Bibel. Vor allem aber kannte er, der hier zu allzeitiger Fröhlichkeit aufruft, selbst große Verzweiflung. Verzweiflung bis hin zur Todessehnsucht.
Was also lässt den Apostel seine Gemeinde in Thessalonich ermahnen, allezeit fröhlich und in allen Dingen dankbar zu sein?
Ich fange mit dem zweiten Appell an: „Seid dankbar in allen Dingen!“ Und beim neuerlichen Hinschauen fällt mir etwas auf. Paulus schreibt nicht: „Seid dankbar für alle Dinge!“ Das wäre in höchstem Maße zynisch. Man kann einem Menschen, dessen Existenz soeben von einer verheerenden Flut weggeschwemmt wurde, nicht zur Dankbarkeit für diese Katastrophe mahnen. Paulus schreibt: „Seid dankbar in allen Dingen.“ Aber was heißt das? Was bedeutet es, dankbar in allen Dingen, also auch mitten im tiefsten Elend, zu sein? Da fällt mir ein, dass ich eine Woche nach der Flutkatastrophe eine Mail von einer Bekannten aus Trier bekam. Darin heißt es: „Ich selbst war kaum betroffen von der Flut, da ich am Hang wohne, aber mein Bruder und meine Schwägerin, und am schlimmsten Schwester und Schwager an der Ahr, die aber Gott sei Dank überlebt haben. Hier in Trier Ehrang haben wir keine Toten, auch das ist viel wert. Am wertvollsten aber ist die überwältigende Hilfsbereitschaft und Solidarität von nah und fern. Wie Balsam auf die wunden Seelen…“ Die Bekannte lässt sich von den schrecklichen Ereignissen weder in Zynismus noch in Verzweiflung treiben. Vermutlich hat das damit zu tun, dass sie fest im christlichen Glauben verwurzelt ist. Mir scheint, dass es diese Haltung ist, die Paulus meint, wenn er den Thessalonichern schreibt: „Seid dankbar in allen Dingen!“
Wenn das so ist, dann wird auch klar, woran Paulus denkt, wenn er zuvor schreibt: „Seid allezeit fröhlich!“ Der Apostel denkt nicht an ausgelassene Karnevalsstimmung, die alle Trauer und alle Klage unter sich begräbt. Die Fröhlichkeit, die die Thessalonicher allezeit erfüllen soll, ist vielmehr jene Fröhlichkeit, die ihren Grund in der Auferstehung Jesu von den Toten hat. „Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit“, heißt es in einem bekannten Osterlied. Diese Fröhlichkeit blendet das Leid nicht aus, überlässt ihm aber nicht das letzte Wort.
Und wie kann man allezeit fröhlich sein – auch in Zeiten der Trauer und des Entsetzens?
Meine Frau und ich fahren seit über dreißig Jahren nach Dänemark in den Sommerurlaub. In dieser langen Zeit haben wir nicht nur dänische Freunde gewonnen, sondern auch Bräuche kennengelernt, von denen man als Tourist sonst eher kaum erfährt. In diesem Jahr haben wir aus gegebenem Anlass mit unseren Freunden über dänische Trauerkultur gesprochen. Fast immer werden die Toten in unserem Nachbarland in einen weißen Sarg gelegt, was bei uns nur vorkommt, wenn ein Kind begraben werden muss. Der Sarg steht in der Kirche vor dem Altar, und der Weg dorthin ist mit Blumen gesäumt, so wie wir es von Hochzeiten kennen. Besonders aber hat mich folgendes beeindruckt: Vor jeder Kirche weht in Dänemark die dänische Flagge, der Dannebrog. Wenn eine Trauergemeinde an der Kirche eintrifft, ist die Fahne auf Halbmast gesetzt. In der Trauerfeier wird dann des Verstorbenen gedacht und der Trauer Raum gegeben, aber auch die Osterbotschaft verkündigt. Die Botschaft, dass der Tod auch über diesen Verstorbenen nicht das letzte Wort sprechen wird. Und wenn die Gemeinde dann die Kirche verlässt, sieht sie den Dannebrog ganz oben am Mast wehen. „Seid allezeit fröhlich!“ schreibt der Apostel Paulus.
Eine Zumutung seien mir die Texte und Lieder dieses Gottesdienstes, habe ich vorhin gesagt. Eine Zumutung angesichts des Leids, das so viele Menschen in den letzten Wochen getroffen hat. Für die Mahnungen des Apostels Paulus kann ich nach genauerer Betrachtung sagen: Sie sind eine Zu-mutung in dem Sinne, dass sie Mut machen. Mut, auf den lebendigen Gott zu vertrauen und im Leid weder zu verzweifeln noch zynisch zu werden, sondern fröhlich zu sein und dankbar in allen Dingen.
Und der Friede Gottes…