Predigt im ökumenischen Gottesdienst „60 Jahre entwicklungspolitische Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirchen“ in der Elisabethkirche in Berlin am 18. Mai 2022
Prälat Dr. Martin Dutzmann, Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
Predigttext zu Jesaja 58, 10
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Festgemeinde,
was die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe, die EZE, tut, ja dass es eine solche überhaupt gibt, erfuhr ich erst, als ich 2013 ihr Vorsitzender wurde. Und natürlich hatte ich bis dahin auch keine Ahnung von der Existenz des katholischen Pendants, der KZE. Dass beide außerordentlich wichtige Player in der Entwicklungszusammenarbeit sind, habe ich dann aber sehr schnell begriffen. Was sich hinter den bürokratisch wirkenden Kürzeln EZE und KZE verbirgt, bringen die Namen der beiden großen Hilfswerke, die das vom Staat den Zentralstellen anvertraute Steuergeld ausgeben, auf den Punkt.
„Misereor“ – „Ich erbarme mich.“ Wer denkt da nicht sogleich an den Barmherzigen Samariter im Gleichnis Jesu. Von ihm heißt es, als er den von Räubern ausgeplünderten und schwer verletzten Menschen sieht: „Und als er ihn sah, jammerte es ihn.“ Der Name „Misereor“ erinnert daran, dass christlich grundierte Entwicklungszusammenarbeit mehr ist als einschlägige Kompetenz und Professionalität. Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit hat immer auch die Komponente des Erbarmens. Sie erträgt es nicht, dass Menschen – von Gott zu seinem Bild geschaffen – in ihrer Würde verletzt werden. Sie hält es nicht aus, dass auf diese Weise Gott selbst Schaden leidet.
Der Name des Schwesterwerkes „Brot für die Welt“ setzt einen anderen Akzent. Er erinnert uns an das wichtigste Gebet der Christenheit, in dem es heißt: „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Brot steht hier wie dort für alles, was Menschen brauchen, um in Würde zu leben: ausreichend Nahrung, trinkbares Wasser, Gesundheitsversorgung, Bildung, faire Arbeitsbedingungen, um nur einiges zu nennen. Und der globale Bezug im Namen des Werkes - „für die Welt“ - macht ernst damit, dass wir Christen davon überzeugt sind: Gott ist kein Mensch auf dieser Welt gleichgültig. Nicht einer.
Die Namen der beiden kirchlichen Entwicklungswerke lassen also erkennen, was kirchliche Entwicklungszusammenarbeit ausmacht und in welchem Geist die Zentralstellen arbeiten. Mit Hilfe des Bibelverses, der über diesem Jubiläumsgottesdienst steht, seien noch Aspekte hinzugefügt: „Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“ heißt es im 58. Kapitel des Buches Jesaja in der Übersetzung Martin Luthers.
„Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt“ – Misereor – „und den Elenden sättigst“ – Brot für die Welt. Beides zusammengenommen kennzeichnet kirchliche Entwicklungszusammenarbeit. Aber was ist nötig, damit die auch gelingt? Was braucht es, damit sie Früchte trägt? Geld. Viel Geld. Deshalb sammeln die Entwicklungswerke Spenden und erhalten Kirchensteuern. Hohe Summen aus dem Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung kommen über die Zentralstellen dazu. Seit sechs Jahrzehnten. Dafür sind wir dankbar.
Aber es braucht noch etwas anderes, was mindestens ebenso wichtig ist wie das Geld. In dem schon erwähnten Gleichnis vom Barmherzigen Samariter heißt es: „Als er ihn (den Überfallenen) sah, jammerte es ihn. Das Sehen geht dem Erbarmen und der Hilfe voraus.
Wir sehen fremdes Leid heute schneller und genauer als noch vor einigen Jahrzehnten. Zum Beispiel das Leid der vom Krieg gequälten Menschen in der Ukraine. Noch im Zweiten Weltkrieg erfuhr die Bevölkerung eher wenig vom Fortgang des Krieges und erst recht blieben Informationen über Menschenrechtsverletzungen aus. Das ist heute anders. Die Bilder des dem Erdboden gleich gemachten Mariupol hat die ganze Welt gesehen. Und wer verbindet nicht mit dem Namen Butscha, den bis vor wenigen Wochen kaum jemand kannte, grauenhafte Verbrechen an Frauen, Kindern, alten Menschen? Für Verbrecher ist es schwerer geworden, unerkannt zu bleiben. Gott sei Dank.
Trotzdem ist nicht alles gut. Trotz weltweit und blitzschnell agierender Medien bleibt viel Leid im Dunkeln. Das erinnert an die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht. In der Moritat von Mackie Messer heißt es: „Denn die einen sind im Dunkeln / und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte, / die im Dunkeln sieht man nicht.“
EZE und KZE sind davon überzeugt, dass Gott die im Dunkeln sehr wohl sieht und mit ihnen seufzt. Deshalb kämpfen sie mit den kirchlichen Entwicklungswerken seit 60 Jahren dafür, dass menschliches Leid nicht im Dunkeln bleibt, sondern sichtbar wird.
Was das konkret bedeutet, haben Prälat Jüsten und ich vor einigen Jahren eindrücklich erfahren: Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika waren im Begriff, ein Freihandelsabkommen abzuschließen. TTIP. Es gab Protest, insbesondere von Umwelt- und Verbraucherschützern. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Gabriel berief einen Beirat, dem Vertreterinnen und Vertreter zahlreicher Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen, aber auch von Gewerkschaften und Automobilverbänden angehörten. Und wir als die Vorsitzenden von KZE und EZE. Wir waren in diesem Kreis die einzigen, die beharrlich fragten: Was bedeutet ein so großer Handelsraum eigentlich für den globalen Süden? Wer bezahlt für die Gewinne, die der globale Norden dadurch macht? Werden womöglich die Armen im Süden noch ärmer und ohnehin schon belastende Lebens- und Arbeitsbedingungen noch bedrückender?
Auch angesichts des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine schaut die Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit auf die Auswirkungen, die nicht unmittelbar zu sehen sind. Bekannt ist, dass es in vielen Ländern, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, zu bedrohlichen Engpässen bei der Versorgung mit Getreide kommt. Aber wer kennt schon die Auswirkungen des Krieges zum Beispiel auf die Menschen in der Kirgisischen Republik? Viele von ihnen haben bis vor kurzem in Russland gearbeitet und damit ihre Familien zu Hause ernährt. Als zahlreiche ausländische Firmen auf Grund der Sanktionen gegen Russland das Land verließen, verloren diese Kirgisinnen und Kirgisen ihre Arbeit und kehrten in ihre Heimat zurück. Nun sind sie arbeitslos und können zum Unterhalt ihrer Familien nichts mehr beitragen. In ländlichen Regionen ist die Zahl armer Menschen sprunghaft nach oben geschnellt. Oder wer weiß schon, dass die Republik Kirgisien etwa 60% seiner medizinischen Güter entweder aus der Ukraine oder aus Russland importiert und die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Kürze nicht mehr gewährleistet werden kann? Und wer hat eine Vorstellung von den psychischen Problemen – Depression, Stress, Lethargie – und den sozialen Verwerfungen, die diese Mangelsituation für die Kirgisinnen und Kirgisen mit sich bringt?
Wer den Hungrigen sein Herz finden lassen und den Elenden sättigen will, muss also wie der Barmherzige Samariter zunächst hinsehen, muss dunkle Flecken aufspüren und finstere Ecken ausleuchten. Wir Christen sind dafür in besonderer Weise prädestiniert, denn jede und jeder von uns ist eine Lichtgestalt. „Ihr seid das Licht der Welt!“ sagt Jesus. Wir haben es gerade im Evangelium gehört. „Ihr seid das Licht der Welt, weil ihr wisst, wer diese Welt in seinen Händen hält und von wem diese Welt Heil erwarten kann.“
Kein Mensch stellt sein Licht unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter. Deshalb leuchten Christen das Dunkel aus. Deshalb interessieren sie sich für das, was im Fernsehen weniger zu sehen und in der Zeitung seltener zu lesen ist: etwa für die Arbeitsbedingungen von Menschen am Anfang von Lieferketten oder dafür, ob auch in anderen Teilen der Welt ausreichend lebensrettender Impfstoff gegen das Coronavirus zur Verfügung steht.
Wer „die im Dunkeln“ sichtbar macht, sie sein Herz finden lässt und die Not lindert, dem ist viel versprochen. Bei Jesaja heißt es: „…dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“ In den vergangenen 60 Jahren ist uns manches Licht aufgegangen. Durch unsere Partnerorganisationen haben wir viel auch über uns selbst gelernt. Haben verstanden, wie unser Lebensstil und unsere Konsumgewohnheiten Armut in anderen Teilen der Welt verursachen und verfestigen. Haben erkannt, dass unser Energieverbrauch und unsere Energieverschwendung die Erderhitzung verursachen, die schon heute Menschen in Not bringt. Und wir haben begriffen, dass der Weltfrieden und die globale Gerechtigkeit unlösbar miteinander verbunden sind. Diese Einsichten haben wir gemeinsam mit anderen in unsere Gesellschaft getragen. Auch der Staat hat daran Interesse. Deshalb sind wir Kirchen mit ihm gemeinsam unterwegs. Als Partner. Seit 60 Jahren. Gott sei Dank!
Und der Friede Gottes…
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