Predigt zum 19. Sonntag nach Trinitatis in der Auferstehungskirche Hannover-Döhren (Jakobus 5, 13-16)
Hermann Barth
Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl im Namen des Herrn. Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Liebe Gemeinde!
Vor 14 Tagen erlitt ich während eines kurzen Urlaubs in der Pfalz einen Bänderriss am linken Fuß. Der Knöchel schwoll an, ein mächtiger Bluterguss breitete sich im ganzen Fuß aus, das Gehen wurde beschwerlich. Was tun? Sollte ich die Ältesten unserer Auferstehungsgemeinde anrufen - Herrn Siggelkow beispielsweise oder Herrn Pastor Keller-Denecke - und ihre Hilfe erbitten? Sollte ich mich, um es einfacher zu machen, an den Pfarrer und das Presbyterium der örtlichen pfälzischen Gemeinde wenden, damit sie an mein Krankenlager träten, mit mir beteten und mich im Namen Gottes mit Öl salbten? Nichts von alledem. Nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich an eine solche Möglichkeit. Ich ließ mich vielmehr zum nächstgelegenen Krankenhaus bringen und wandte mich an die chirurgische Ambulanz. Dort wurde der Fuß geröntgt, mit Voltaren statt mit Salböl eingeschmiert, fachmännisch bandagiert, und dann wurde ich mit medizinischen Verhaltensmaßregeln entlassen.
Der heutige Predigttext nötigt zu solchen Kontrasten und Konfrontationen. Zur Zeit des Jakobusbriefes gab es keine Medizin im heutigen Sinne. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und Heilkunst war ein sehr anderes als in der Gegenwart. Es würde in die Irre und zu unsinnigen Schlussfolgerungen führen, wenn wir den Predigttext und die heutige medizinische Praxis als Alternativen verstünden: also Gebet statt ärztliche Kunst. Niemand würde uns auf diesem Wege folgen, außer vielleicht ein paar religiöse Eiferer, die sogar wagen, ihren Kindern lebenswichtige Operationen vorzuenthalten. Eben mit der Begründung, in der Bibel stehe, Gott ist dein Arzt und: "Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten".
Gebet statt ärztliche Kunst - diese Alternative ist falsch. Freilich ebenso die andere: ärztliche Kunst statt Gebet. Die bedeutenden Erfolge der modernen Medizin dürfen nicht hochmütig machen. Sie dürfen nicht dazu führen, sich über ein Verständnis von Heilung und von Gesundheit und Krankheit wie im heutigen Predigttext erhaben zu fühlen - nach dem Muster: Das ist doch alles überholt, veraltet, nur noch lächerlich.
In vier Hinsichten, nämlich an vier Aussagen des Predigttextes möchte ich zeigen, wie auch im Zeitalter der modernen Medizin mit ihren großartigen Apparaten, Medikamenten und Operationen die Gedanken der Bibel zu Krankheit und Heilung gültig bleiben - gültig, das heißt: wie sie den Kern der Sache treffen und praktische Lebenshilfe geben.
1. Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Das will sagen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde und entsprechend zwischen Heilung und Sündenvergebung. Darum ging es ja bereits im Sonntags-Evangelium, in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten, dem Jesus die Sünden vergibt und dazu hilft, dass er wieder mit gesunden Beinen umhergehen kann.
Das Auftreten einer Krankheit erlaubt nicht automatisch den Rückschluss auf eine zugrundeliegende Sünde. Jesus hat das ausdrücklich abgewiesen. "Meister" - so fragten ihn einmal seine Jünger, als sie einem Blinden begegneten - , "wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm" (Joh 9,2 f.). Wäre es anders, so würde Krankheit zu Makel, würden Kranke stigmatisiert, würde ihnen über ihr körperliches Leid hinaus das Gewissen belastet. Nein, es geht um die Aufdeckung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Krankheit und falschem Leben.
Sünde ist ein Wort, das heute von Missverständnissen nur so umstellt ist. Sünde ist eben nicht gleichzusetzen mit einem moralischen Verstoß, vorzugsweise auf sexuellem Gebiet. Sünde meint vielmehr, dass Menschen verstrickt sind im verkehrten Leben, selbstverschuldet und immer auch nicht selbstverschuldet. Wir finden uns immer schon vor in Verhältnissen, die uns für ein verkehrtes Leben disponieren. Und entsprechend ist Sündenvergebung nicht gleichzusetzen mit einem "Schwamm drüber", "vergiss es". Sündenvergebung meint mehr als das, meint eine Lebenswende, Umkehr und neuen Anfang. Wir haben es doch auch heute wieder - wie in jedem Abendmahlsgottesdienst - im Zuspruch der Sündenvergebung gehört: "Der allmächtige, barmherzige Gott hat sich unser erbarmt und vergibt uns durch Jesu Christus alle unsere Sünden. Er hat uns in seine Gemeinschaft zurückgeholt. Darum sind wir frei zu einem neuen Anfang mit Gott und den Menschen und uns selbst."
Dass bei vielen Krankheiten ein Zusammenhang besteht zwischen körperlichen Störungen und einem verkehrten Leben, ist eine Einsicht, die im Zeitalter der modernen Medizin immer wieder neu errungen werden muss. Die meisten Menschen verstehen ihren Körper als eine Maschine, die funktionieren muss, und Krankheit als einen Defekt dieser Maschine, der bloß aufgespürt und behoben werden muss. Darum verlangen sie beim Arzt am allermeisten und am allerliebsten nach einer Verordnung, die wie ein Schmiermittel beim Auto die Maschine des Körpers wieder schnurren lässt. Die Frage nach den möglichen Zusammenhängen zwischen der Krankheit und einem verkehrten Leben spielt in der ärztlichen Sprechstunde - von löblichen Ausnahmen abgesehen - eine untergeordnete Rolle. So etwas wird ja auch von den Krankenkassen wenig honoriert!
"Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet." Heilung setzt in vielen Fällen eine neue Orientierung des Lebens voraus. Diese neue Orientierung wirklich zu vollziehen, also das verkehrte Leben tatsächlich und anhaltend zu verändern kostet viel Kraft, und dafür gibt es keine Medikamente.
2. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie ... ihn salben mit Öl im Namen des Herrn. Dieser Vers ist die wichtigste biblische Grundlage für die Krankensalbung, die einige Kirchen, gerade auch die katholische, bis heute praktizieren. Lange Zeit wurde die Krankensalbung bei den Katholiken als Letzte Ölung verstanden, als Vorbereitung aufs Sterben. Man rief nach dem Priester und begehrte die Letzte Ölung, wenn es mit dem Leben absehbar zu Ende ging. Seit dem II. Vatikanischen Konzil ist die Krankensalbung aber wieder erneuert in ihrem ursprünglichen Sinn als eine Hilfe für Kranke, die sie aufrichten und stärken soll. Sie wirkt nicht aus sich heraus wie ein Zaubermittel, sondern sie ist ein fühlbares, leibliches Zeichen für die Erwartung, dass Gott seine Hilfe nicht versagen wird.
Ich bin froh darüber, dass es Kirchen gibt, die einen Sinn bewahrt haben für die sichtbaren, körperlich fühlbaren Zeichenhandlungen, in denen nicht alles reduziert wird aufs Wort und auf die Blässe des Gedankens, in denen das geistliche Leben nicht verkopft, sondern gerade verleiblicht ist. Wir evangelischen Christen kennen das ja durchaus auch: bei der Taufe, beim Abendmahl, beim Knien zum Empfang des Abendmahls, beim Anzünden der Taufkerze, beim Erheben der Hände zum Segnen. Aber wir sind in dieser Hinsicht sparsamer - oder besser: ärmer - als unsere katholischen Mitchristen.
Selbstverständlich könnte man die Krankensalbung in unserer evangelischen Kirche nicht von heute auf morgen wieder einführen. Das würde auch das Missverständnis nähren, es handelte sich um eine Art Medikament, das aus sich heraus wirkt. Eine Zeichenhandlung braucht die lange Gewohnheit und Praxis, damit zusammen mit dem äußerlichen Geschehen das Verständnis ihrer Bedeutung wachsen kann. Klar ist auch, dass die Krankensalbung nicht notwendig ist für das Heil der Menschen. Aber für viele Menschen ist sie eine wohltuende und hilfreiche Geste.
3. Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten. Meine Frau hat mir eine Geschichte erzählt, die dazu passt. In den letzten Wochen hat sie viele Besuche bei ihrer Schwester im Krankenhaus gemacht. Im Zimmer meiner Schwägerin lag für einige Zeit eine Mitpatientin, die sehr unruhig und gesprächsbedürftig war und ständig nach Zuwendung verlangte. Da hat meine Frau, so erzählt sie, sich ans Bett dieser Patientin gestellt und ihr die Strophen eines unserer schönsten Gesangbuchlieder vorgesprochen:
Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.
Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen bezeufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.
Und so weiter durch das ganze Lied hindurch bis zur letzten Strophe:
Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird der bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht.
Und als sie langsam die sieben Strophen sprach und betete, da ereignete es sich, dass die Patientin ruhig wurde: Sie wurde getröstet, sie wurde "aufgerichtet"! Das muss nicht so eintreten. Wir haben's nicht in der Hand. Im Predigttext heißt es ausdrücklich: "Und der Herr wird den Kranken aufrichten".
Schade, dass heute nicht Herr Pastor Zabel oder Frau Pastorin Jäkel die Predigt halten. Sie könnten aus ihren reichen Erfahrungen in der Krankenhausseelsorge sicher manches zu diesem Thema beitragen. Seelsorge am Kranken ist im übrigen nicht nur eine Sache von Pastoren, sondern ebenso von Ärzten, Schwestern, Pflegern, ehrenamtlichen Helfern, ja, von allen Christenmenschen. Das Gebet am Krankenbett wird nicht immer in die Situation passen. Man muss ein Gespür für den rechten Augenblick entwickeln. Das Gebet ist auch keine Äußerungsform, die allen gleichermaßen vertraut und lieb ist. Man muss also auch ein Gespür dafür entwickeln, was zu einem Menschen passt und was ihm gut tut. Aber zugleich ist das Gebet etwas sehr Elementares. Man braucht es im gewissem Sinne nicht zu lernen. Schon ein "Ach Gott" oder ein "Gott sei Dank" ist ein Gebet im Kleinen. Darum soll man keine Scheu haben, zu fragen: Darf ich für Sie, darf ich mit Ihnen beten?
4. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. Dieser Schlussvers des Predigttextes führt über die Situation der Krankheit weit hinaus. Das Gebet vermag viel: Das ist eine kräftige Einladung und eine kräftige Ermutigung zum Beten.
Es heißt: Das Gebet vermag viel. Es heißt nicht: Das Gebet vermag alles. Das Gebet ist keine Wunscherfüllungsmaschine. Das ist auch gemeint mit dem Zusatz: "wenn es ernstlich ist". Mit dem Gebet ist es anders als mit den drei Wünschen, die in vielen Märchen freigestellt werden. Was heißt "ernstlich"? Dafür orientiert man sich am besten am Vaterunser: "Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe". Wer sein Beten daran ausrichtet, der betet ernstlich. Ich muss allerdings eine Erläuterung hinzufügen, und zwar zu der Bitte "dein Wille geschehe". Viele Menschen verstehen das in einem fatalistischen Sinn: Das, was faktisch passiert, ist Gottes Wille. Nein und nochmals nein. Jesus hat uns nicht dazu anleiten wollen, alles, was geschieht, mit dem Gefühl der Schicksalsergebenheit hinzunehmen. Diese Bitte ist vielmehr ein dringendes Verlangen danach, dass Gottes gnädiger Wille, dass seine guten und heilvollen Gedanken sich in der Welt und in meinem Leben durchsetzen. Eine letzte Grenze können wir Menschen freilich nicht überschreiten, nämlich zu erkennen und zu wissen, was uns wirklich letztendlich zum Besten dient. Darum hat Jesus im Garten Gethsemane gebetet: "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Aber das Bewusstsein dieser Grenze soll unser Gebet nicht übervorsichtig und kleinlaut machen. Jesus hat uns die Freiheit gegeben, im Beten unverschämt zu werden und unser Herz vor Gott auszuschütten - unter dem Vorzeichen:
Dein ewge Treu und Gnade, o Vater, weiß und sieht, was gut sei oder schade dem sterblichen Geblüt; und was du dann erlesen, das treibst du, starker Held, und bringst zu Stand und Wesen, was deinem Rat gefällt.
Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst, wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.
Amen