Predigt zum 19. Sonntag nach Trinitatis in der Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg (Jakobus 5, 13-16)

Robert Leicht

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 5. Kapitel des Jakobusbriefes, in den Versen 13-16:

LUT James 5:
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. 15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.


Liebe Schwestern und Brüder,

einmal Hand aufs Herz: Wenn es Ihnen schlecht geht, was tun sie dann? Rufen Sie dann den Hauptpastor Adolphsen - oder gehen Sie zum Arzt? Wollen wir mit Öl gesalbt werden - oder erwarten wir, dass uns ein wirksames Medikament verschrieben wird?

Also, was sollen wir tun? Den Arzt rufen - und den Pastor in Ruhe lassen? Lassen wir uns doch erst einmal auf den Text selber ein!

Die frühen Christen, denen dieser Jakobusbrief zuerst verlesen wurde, lebten in einer anderen Welt. Ein naturwissenschaftliches Verständnis unseres Körpers, unserer Krankheiten stand ihnen nicht zur Verfügung. Aber sie erfuhren natürlich Krankheit - und sie erfuhren Heilung. Man starb gewiss nicht an jeder Krankheit, aber man überlebte eben auch nicht jede Krankheit. Dies alles musste aber irgendwie erklärt werden. Immer stand die Frage im Raum: Was denn tun, wenn man krank ist?

Nun sagt ihnen der Autor mit dem Pseudonym Jakobus: In diesem Fall ruft die Ältesten der Gemeinde, dass sie über dem Kranken beten - denn das hilft. Der Herr wird den Kranken, wird die Kranke wieder aufrichten.

Der Text rechnet also mit einer Gemeinde, in der es Personen gibt, deren Amt es ist, sich um die Kranken zu kümmern - so wie andere sich um die Armen oder die Finanzen zu kümmern haben. Und das "Sich-auf-berufene-Weise-um-Kranke-zu-kümmern" vollzieht sich so, dass diese "Amtsträger" (und nicht etwa irgendwelche spontanen, selbst ernannten Wunderheiler oder Wanderprediger) Fürbitte für den Kranken halten. Das soll helfen!

Wir müssen uns das so konkret - und gewissermaßen: so professionell - wie möglich vorstellen. Der Kranke wird wieder aufgerichtet - und das ist nicht einfach so gemeint: irgendwann am jüngsten Tage. Und er wird ganz konkret körperlich wieder aufgerichtet - und nicht etwa einfach nur seelisch.

Und auch nicht etwa dadurch, dass ihm seine Sünden vergeben werden. Wo in unserem Text von Sünde und Sündenvergebung die Rede ist, wird die Sünde gerade nicht als Ursache der Krankheit bezeichnet, schon gar nicht die einzelne Sünde - und folglich auch nicht die Sündenvergebung als Voraussetzung der Heilung.

Wenn wir den Text also beim Wort und wirklich ernst nehmen, ist uns jeder schnelle Ausweg in vorschnelle Spiritualisierung (oder soll ich boshaft sagen: in eilige Frömmelei) verwehrt.

Dann können wir allerdings auch nicht sagen: Wenn einer einfach nicht gesund werden will, dann hat er eben zu viel gesündigt - oder zu wenig für sich selber gebetet und bereut.

Wir müssen also die Krankheit erst einmal als solche ernst nehmen, medizinisch und biologisch. Beim Herzinfarkt sind eben Blutgefäße auf gefährliche, ja oft tödliche Weise verstopft, ganz konkret.

Wer Kranke salbt, Schwerstkranke salbt, Sterbenskranke salbt, der hilft ihnen, lindert ihre Lage - oft auf tief bewegende Weise, und oft: selten genug. Aber wenn der Krebs in dem Kranken wütet, wütet er unterdessen weiter.

Wenn schließlich ein jeder stirbt, dann ist er erst einmal wirklich tot. Hinter diese Erfahrungen kommen auf keine Weise zurück.

Aber genau diese fürchterliche Erfahrung totaler Anfechtung verbindet uns mit den ersten Schreibern und Lesern dieses Briefes! Es ist der fürchterliche Gegensatz zwischen den Kräften des Lebens und den Feinden des Lebens.

Gewiss, mitunter machen wir uns sogar selber zu Handlangern und Helfershelfern der Lebensfeindschaft: Wer an der Kette raucht, braucht sich über seinen Lungenkrebs weniger zu wundern. Manchmal sind Menschen sogar in eigener Person die reinsten Feinde des Lebens - als Quälgeister, als Mörder, bis in unsere Tage als Massenmörder, als Folterknechte und Foltermeister.

Aber davon redet unser Predigtext nicht: Er hat es mit jenen lebensfeindlichen Mächten und Krankheiten zu tun, die über uns kommen, ohne dass wir sie gerufen, ohne dass wir sie provoziert hätten. Was tun mit ihnen - und wenn man krank ist?

Wir dürfen annehmen, dass der Ratschlag des Jakobus - wie jeder gute Ratschlag! - zwei Seiten hat, eine kritische - und eine konstruktive.

Der Briefabschnitt wendet sich also, ohne darüber Worte zu machen, zunächst gegen eine vorhandene Praxis in der Gemeinde - nach dem Motto: Ihr wisst schon, was ich meine!

Es wird wohl in jener Gemeinde seit alters her irgendwelche Leute gegeben haben, denen man sich in Krankheiten anvertraute - Medizinmänner, Quacksalber meinetwegen; ein bisschen mit Erfahrungen ausgestattet und mit Heilmittelchen, aber auch mit mancherlei hilflosem (und nutzlosen) Hokuspokus. Sonst hätte der Briefschreiber und Mahner ja keinen Grund, die Menschen und Christen auf ganz andere Amtsträgern in der Gemeinde zu verweisen.

14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, daß sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.

Da möchten wir Zeitgenossen gerne mit dem Kopf schütteln und uns erhaben dünken: Die hatten ja keine Ahnung von Anatomie, Physiologie, Pharmakologie, Biochemie, Neurologie, Gentechnik und so weiter und so fort. Gegenüber uns und unserer modernen medizinischen Praxis hätte der Herr Jakobus, wer immer sich hinter diesem Namen verbirgt, doch nichts zu melden: Schickt der die Leute doch einfach zum Pastor und Kirchenvorsteher, anstatt zu einem anständigen Arzt...

Niemand wird die Vorzüge unserer zeitgenössischen Medizin verachten wollen. Sie und Sie und ich - wir alle gehen nicht gerne zum Arzt, aber wenn es sein muss: sofort. Freuen wir uns, dass es diese Möglichkeiten gibt, dass zum Beispiel die Kinderlähmung in unseren Breiten besiegt worden ist, dass unsere Kinder keine Pockenschutzimpfung mehr brauchen, dass das Penicillin erfunden wurde, das Insulin hergestellt werden kann (jetzt sogar gentechnisch!) - freuen wir uns und seien wir dankbar.

Aber fragen wir uns doch zugleich: Warum gehen wir eigentlich nicht gerne zum Arzt?

Offenbar empfinden wir bei diesem Gedanken und Gang eben jene kreatürliche Angst vor den lebensfeindlichen Kräften, die uns (und sei es verdrängt im Unterbewusstsein), umgeben - und die uns ebenso leise wie bedrohlich, letztlich tödlich untergraben. Wir ahnen also, dass es lebensfeindlichen Kräfte gibt, gegen die - ganz wörtlich! - kein Kraut gewachsen ist. Lebensfeindliche Kräfte, vor denen eine im oberflächlichen Sinne wissenschaftliche Medizin versagt - eine Medizin also, die unseren Körper und unser Leben als einen mehr oder weniger gut funktionierenden Mechanismus betrachtet, den man gelegentlich ölen, den man zuweilen tüchtig reparieren muss, der sich aber zumeist auch reparieren lässt.
Nein, es gibt Krankheiten - vor denen versagt diese Art von medizinischer Mechanik in der Reparaturwerkstatt. Und wer sich angesichts solcher Erfahrungen enttäuscht abwendet und zu esoterischen Praktiken und allerlei Geheimwissenschaften flüchtet, wird's merken: Auch die Beschwörer und Besprecher können es nicht.

Was können sie nicht?

Diesen Konflikt aus der Welt schaffen, zwischen den lebensfreundlichen und den lebensfeindlichen Kräften. Und zwar deshalb, weil schon dieser Versuch selber regelrecht lebensfremd ist, ja: weltfremd.

Deswegen kann dieser Jakobus seine Gemeinde fragen, deshalb müssen wir uns selber fragen, ob nicht der Versuch, diesen Kampf gegen die lebensfeindlichen Kräfte und Krankheiten selbstherrlich, aus eigener Kraft und mit aller Kraft gewinnen zu wollen, ob dieser Versuch nicht selber zutiefst - krank ist. Ja, ob er uns nicht wirklich krank macht.


Wenn wir uns umschauen: von der Fortpflanzungsmedizin (mit all ihren zum Teil doch krampfhaften Manipulationen), von der Präimplantationsdiagnostik bis zu den unglaublichen Apparaturen, mit denen wir das einsetzende Ende eines menschenwürdigen Lebens - erfolgsbesessen, zuweilen würdelos - hinausziehen, für ein paar Wochen oder wenige Stunden: Gibt es nicht immer wieder einen Punkt, an dem die lebensfreundliche Heilkunst selber unversehens umschlägt in eine lebensfeindliche Unheils-Kunst? Und zwar gerade dort, wo ein und derselbe Arzt sich außerordentlich, ja extrem engagiert, und der Patient samt seiner Familie das eine Extrem fordert - weil sie alle das andere Extrem fürchten: den Tod - als die stärkste lebensfeindliche Kraft...

Wie oft sagen wir im Alltag spöttisch, man dürfe nicht aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen! Eben dies sagt uns unser Text im Ernst: Passt auf, dass Ihr Euch nicht aus Furcht vor den lebensfeindlichen Kräften - genau diesen lebensfeindlichen Kräften in die Arme werft!

Wer sich jedoch darüber hinaus noch erdreistet, er könne den Konflikt zwischen den lebensfreundlichen und den lebensfeindlichen Kräften selbstherrlich und siegreich beenden (etwa nach dem medienreißerischen Motto: Dank der Gentechnik immer gesund und ewig leben...), der gibt sich selber als der Herr des Lebens aus. Er ist aber des Teufels (wie Faust), wenn er nicht gar der Teufel selber ist (wie Mephistopheles).

Auf den, so die weitere Mahnung unseres Textes, auf den fallt nicht herein!

Und an die Ärzte: Vieles könnt Ihr besser als die Pastoren - und das dürfen wir von Euch erwarten! Aber bildet Euch nie ein, Ihr könntet im Einzelfall nebst den Pastoren auch noch den ersetzen, den sie verkünden. Mag sein, dass manche von Euch Doktoren sich aufführen (oder angebetet werden) wie "Halbgötter in Weiß". Aber es gibt keine halben Götter - und der eine Gott, der seid ihr nicht.

Das ist ja keineswegs ohne Grund gesprochen. Wer glaubt, er habe in Kürze nicht nur das menschliche Genom entschlüsselt, sondern das menschliche Leben insgesamt in der Hand, der ist gemeint. Wer so tut, als könne und dürfe er entscheiden (und manipulieren), wer wie mit welchen Eigenschaften (und ohne welche Krankheiten) leben soll, wer sich fortpflanzen darf oder wer besser gleich gar nicht auf dieser Welt erscheint (und wer sie besser beizeiten verlässt) - der will sich an die Stelle des Schöpfers setzen; und tritt in Wahrheit in den Dienst des Teufels.

Sollen wir deshalb medizinisch dumm bleiben und auf die Linderung menschlichen Leids verzichten? Nein, das gewiss nicht. Aber der Text warnt uns in solchen Grenzbereichen vor jeder Selbstherrlichkeit, er ermahnt uns zur Selbstkritik. Und was er uns lehren will, ist sie sorgfältige Unterscheidung zwischen dem, was dem Leben dient, und dem, was dem Leben schadet - und zwar gerade dadurch dem Leben schadet, dass es verspricht, das Leben um jeden Preis zu retten.

Liebe Gemeinde!

Diese alles können wir wohl noch nachvollziehen. Schwerer fällt uns die Annahme des positiven Rates, dieses scheinbar grenzenlosen Vertrauens: Wenn über dem Kranken gebetet wird, wird er wieder gesund. Ich gebe ihnen zu: Mit einer so verstandenen Naivität hätte ich in der Tat meine Schwierigkeiten. Deshalb rufe ich ja auch Krankheitsfalle erst einmal den Arzt und nicht den Pastor. Aber ist das ein Grund, den Text voreilig beiseite zu schieben? Das sei ferne...

Was sagt er denn, genauer besehen? Er sagt zunächst: Über all diese Konflikte und Erfahrungen mit den Feinden des Lebens muss geredet werden, auch und erst recht im Krankheitsfalle und am Krankenbett. Darüber müssen wir reden - und zwar nicht nur unter uns - sondern: mit Gott. Das exakt ist gemeint mit: Gebet.

Aus dem Gespräch über das, was dem Leben (und der Schöpfung dient), können wir doch nicht ausgerechnet - den Schöpfer ausschließen. Es reicht nicht aus, dass wir selber zwischen lebensfreundlichen und lebensfeindlichen Kräften unterscheiden wollen. Und zwar: alleine unterscheiden wollen - so edel das Bestreben uns anmuten mag.

Übrigens auch nicht: alleine zu beten. In unserem Text ist pointiert die Rede von der Fürbitte für andere , sogar von der gemeindlich in Ämtern geordneten Fürbitte für andere. Damit ist also abgewehrt ein allzu egozentrisch und ängstlich nur auch sich selbst bezogenes Gespräch mit Gott - was ja unversehens auch zum reinen Selbstgespräch werden kann.

Wenn wir ganz aufmerksam hinhören, ist die hier empfohlene Gebetsfrömmigkeit also durchaus mit einem kritischen Akzent versehen - mit einem kritischen Akzent gegen das eigenmächtiges Schwärmertum irgendwelcher esoterischen Wunderheiler und mit einem kritischen Akzent gegen ein eigensüchtiges Schwärmertum des Patienten. Es geht um ein verantwortliches Reden mit Gott - um ein Hinhören zuerst, dann um ein Antworten und ein Weiterfragen, ein wirkliches Beten.

Ein kritisches Bewusstsein - eine saubere Unterscheidung also auch hier! Diese Unterscheidung - darum geht es in diesem Text, damals wie heute! - kann nur gelingen, wenn wir in dieses kritische Nachdenken, in das Zweifeln, Verzweifeln ( und Danken!) zu allererst den einbeziehen, dem wir dies alles zu allererst - verdanken. Selbst diesen rätselhaften Widerstreit, diesen ebenso eindeutigen wie zweifelhaften, diesen für uns so unerklärlichen und am Ende tödlichen Konflikt zwischen den Kräften des Lebens - und jenen Kräften der Krankheit, ja der Krankheit zum Tode.

Aber für denjenigen, der diesen tödlichen Konflikt aus eigener Kraft und selbstherrlich (und nur mit den eigenen Worten und in der ihm eigenen Sprache) beheben will, für den bleibt er - tödlich, ewig.

Der Friede Gottes aber, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen