Predigt zum 95. Geburtstag von Jürgen Moltmann in Bad Boll
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Mt 5,38-48
38Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 39Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. 42Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. 43Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. 44Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
Liebe Gemeinde,
wir haben den Termin für die Feier des 95. Geburtstags von Jürgen Moltmann nicht nach dem Evangelium des entsprechenden Sonntags ausgesucht. Ein früherer Termin musste pandemiebedingt verschoben werden. Aber nun sind wir bei einem Sonntag gelandet, bei dem die Perikopenordnung als Evangeliumslesung einen der berühmtesten Texte der Bibel vorsieht. Und dazu noch einen Text aus der Bergpredigt, der wie wenige andere für die Liebe, für die Leidenschaft, für die Sehnsucht, für die Hoffnung steht, die das Lebenswerk Jürgen Moltmanns ausmacht.
Da hat der Heilige Geist uns wieder mal in wunderbarer Weise zusammengebracht. Den Jubilar, die Gemeinschaft der Weggefährtinnen und Weggefährten, die ihn an diesem Wochenende feiern, und diese so wunderbaren Worte aus der Bibel. In diesen Worten verdichten sich all die Fragen, denen sich Jürgen Moltmann in den vielen Jahrzehnten seines Redens, Schreibens und Denkens abgearbeitet hat.
In welchem Verhältnis stehen Realismus und Utopie? Ist die Tatsache, dass die Feindesliebe weithin als Provokation, als kontrafaktische Vision gilt, aber nicht als realistische Beschreibung der Weltwirklichkeit heute, ein Grund, sie als realitätsferne Utopie abzutun? Oder ist die Feindesliebe am Ende der einzig realistische Blick auf die Realität und ihre gangbaren Zukunftsoptionen?
Wie verhalten sich Evangelium und Politik zueinander? Sind die Worte Jesu in der Bergpredigt Zumutungen, die für das persönliche Leben tatsächlich verbindlich sind, für die Politik aber nicht taugen? Oder ist die Feindesliebe gerade für die Politik eine Maßgabe, die, wenn sie zur Wirksamkeit kommt, Millionen von Menschenleben retten würde? Leidenschaftlich wurde darüber jahrhundertelang in der Theologie diskutiert – und Jürgen Moltmann mittenmang dabei.
Am grundsätzlichsten ist vielleicht die mit diesen Worten aus der Bergpredigt verbundene Frage, wie wir eigentlich das Verhältnis von Reich Gottes und gegenwärtiger Welt sehen. Sie hat Jürgen Moltmann sein Leben lang beschäftigt. Und seine Antworten haben viele Menschen, mich eingeschlossen, inspiriert. Sind Worte Jesu wie die über die Feindesliebe Worte, die auf eine Welt zeigen, die irgendwann im Futurum liegt, in einer fernen Zukunft, auf die wir geduldig warten? Oder ist das alles höchst relevant für die Gegenwart?! Ist es ein adventus, ein Hereinbrechen des Reiches Gottes ins Hier und Jetzt? Jesus selbst hat die Antwort gegeben: Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch! (Lk 17,21).
Am vergangenen Wochenende haben wir in der Präsidialversammlung des DEKT die Losung für den Kirchentag 2023 in Nürnberg festgelegt, für den wir in Bayern Gastgeber sein dürfen. Sie spricht genau diese Sprache: „Jetzt ist die Zeit“ (Mk 1,15). Jesus vertröstet nicht auf ein später oder gar auf ein Jenseits nach der Erdenzeit. Jesus teilt die Kraft aus, jetzt neu zu leben, die Welt jetzt neu zu gestalten, die Erde jetzt so zu behandeln, dass auch zukünftige Generationen gut in ihr leben können.
Jürgen Moltmann hat mir das am Tage meiner Wahl zum Bischof vor 10 Jahren selbst mit auf den Weg gegeben, als er mir mit einem Fax zur Wahl gratulierte, in dem u.a. stand: „Achte auf die Zeichen der Zeit und höre auf die Einfälle des Heiligen Geistes und übe Dich in der Phantasie für das Reich Gottes in Bayern.“ Lieber Jürgen, bis heute sind meine Antennen ausgefahren, um nichts Wichtiges zu verpassen, was zur Befolgung dieses Deines Rats helfen könnte.
Das Reich Gottes in Bayern, Württemberg, Baden oder wo immer sonst auf der Welt ist nicht nur oder auch nur zuallererst die Kirche. Der berühmte Satz von Alfred de Loisy: „Jesus verkündigte das Reich Gottes. Was kam, war die Kirche.“ erinnert uns mit seinem kritischen Unterton daran, dass wir beides nie miteinander verwechseln dürfen. Gott – sagt Paulus im zweiten Korintherbrief - hat in Christus „die Welt“ mit sich versöhnt (2. Kor 5). Da steht nicht „die Kirche“. Da steht im griechischen Originaltext das Wort „ton kosmon“. Nicht nur die Kirche hat Gott in Christus versöhnt, sondern den ganzen Kosmos. Jesu Reich-Gottes-Verkündigung ist die Quelle der Inspiration dafür, dass dieser Satz mit Leben gefüllt wird, dass wir auch die säkulare Welt als Raum des Wirkens Gottes sehen, dass es eine Kirche ohne Gemeinwesenarbeit nicht geben kann, dass Kirche immer Kirche für und mit anderen sein muss.
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel“. Es ist eine neue Welt, die sich in diesen Worten öffnet. Die Worte atmen eine messianische Kraft. Und diese messianische Kraft hat nichts zu tun mit naivem Fortschrittsoptimismus, mit frommer Verharmlosung des Bösen, mit der Beschönigung der Abgründigkeit des Leidens, das Menschen in dieser Welt erfahren. Sondern sie hält auch angesichts des Bösen am Menschsein des Menschen fest.
„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Der Mann, der das gesagt hat, der kennt die Schläge. Er kennt die Peitschenschläge auf die Rücken wegen ihres Glaubens verfolgter Menschen im Iran oder in Pakistan. Er kennt die Schläge ins Gesicht von Frauen, die hierzulande häusliche Gewalt erleiden. Er kennt die Schläge mit Polizeiknüppeln gegen verzweifelte Geflüchtete an der bosnisch-kroatischen Grenze, die sie vom Betreten Europas abhalten sollen. Der Mann, der von der Feindesliebe spricht, kennt all das. Er ist selbst mit einem Schrei der Gottverlassenheit als Folteropfer am Kreuz gestorben.
Aber aus dem Dunkel des Todes leuchtet sie schon heraus, die messianische Kraft des menschgewordenen Gottes, der alles neu macht. Eine Kraft, die nicht über das Leiden hinweggeht, sondern aus dem Leiden herauswächst. Eine Kraft, die sich nicht der Macht verdankt, sondern aus der Ohnmacht kommt. Eine Kraft, die nicht aus der Welt herausführt, sondern mitten in die Welt hineinführt. Eine Kraft, die immer wieder in der Geschichte sichtbar wird. In der Bürgerrechtsbewegung in den USA. In der Samtenen Revolution 2018 in Armenien. Und in der gewaltfreien Revolution vor nun über 30 Jahren hier in Deutschland, in der ein bis an die Zähne bewaffneter und von einer perfektionierten Geheimpolizei gesicherter Staat durch die Kraft des Gebets entwaffnet wurde. „Mit allem haben wir gerechnet,“ – so der berühmte Satz des ehemaligen Vorsitzenden des DDR-Ministerrates Horst Sindermann – „nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht."
In den großen Ereignissen der Weltgeschichte leuchtet sie auf, die messianische Kraft der Feindesliebe. Aber sie leuchtet auch auf in den vielen Alltagsgeschichten, die in keinem Geschichtsbuch stehen. In der Zuwendung zur verbitterten Nachbarin, die sie nicht auf ihre Griesgrämigkeit festlegt, sondern durch sie hindurch ihr Menschsein sieht und im Blick behält und der Liebe eine Chance gibt. In dem geduldigen Dialog mit dem Verfasser des Hasskommentars auf Facebook, dem zum erstenmal nicht Hass zurück entgegenschlägt, sondern der merkt, dass er gesehen wird und der frei wird, sein eigenes Menschsein wiederzuentdecken. In dem Streit der innerkirchlichen Gegner, die sich in ihren unterschiedlichen Frömmigkeitsformen so fremd sind und dann der Liebe Christi, von der sie so viel sprechen, in ihrem Herzen wirklich Raum geben und aufeinander zugehen, ihren Zweifel und ihre Verletzlichkeit zeigen und zueinander finden.
In alledem zeigt sich die messianische Kraft der Liebe. Und sie durchwirkt nicht nur die Gegenwart und die Zukunft sondern sie kann sogar Heil in die Vergangenheit bringen. „Der kosmische Christus“ – so hat es Jürgen Moltmann in seinem gerade veröffentlichten Buch über politische Theologie in der modernen Welt gesagt – „erfüllt nicht nur alle Räume der Schöpfung mit seinem Frieden, sondern auch alle Zeiten der Geschöpfe mit seinem ewigen Leben. Nichts geht verloren, nichts wird vergessen, alles, was war, wird wiedergebracht, geheilt, zurechtgebracht und in das Leben der zukünftigen Welt versammelt. Die christliche Auferstehungshoffnung ist die einzige Hoffnung, die eine Zukunft für die Vergangenheit verheißt.“ (251f).
Das neue Buch des 95-jährigen endet mit einem wunderbaren Ausblick: „Es geht nichts von der ersten Schöpfung verloren. Alles, was war und ist und sein wird, ist mit Hoffnung getränkt auf die ‚Auferstehung der Toten und das Leben der zukünftigen Welt‘“ (254).
Das ist die Aussicht, mit der wir leben dürfen, ob wir 95, 65, 25 oder 5 Jahre alt sind. Sie öffnet die Fenster in die Ewigkeit für das Licht der Liebe Gottes, das hineinstrahlt in unser Leben in der Zeit und die unser Leben mit der Ewigkeit verbindet, die es verbindet mit dem Leben all derer, die schon gegangen sind und auf uns warten.
Sie wirkt ein Leben in der Liebe im Hier und Jetzt. Sie macht Feinde zu Mitmenschen. Sie wandelt Verdammung in Barmherzigkeit. Sie findet ihre Erfüllung in der Gerechtigkeit. Sie lässt uns tief in der Seele spüren, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN
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