Predigt zum Ostermontag (Johannes 20, 11-18)
Robert Leicht
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen...
Gnade und Friede sei mit Euch von unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für diesen Vespergottesdienst steht im Johannes-Evangelium im 20. Kapitel, Verse 11-18:
John 20:11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab 12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du?
Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. 15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du?
Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.
16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
18 Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
Liebe Gemeinde!
Hinterher ist man klüger! Gott sei Dank! Aber wie ist das mit der Wahrheit? Ist die Wahrheit einfach und selbst-verständlich? Versteht sie sich wirklich von selbst - dergestalt, dass wir ungeduldig werden dürften - mit uns und mit anderen: "Ja, warum kapierst Du denn das einfach nicht?"
Selbst bei bescheideneren Einsichten haben wir es schon erlebt, dass es eine Weile dauerte, bis wir sagen konnten: "Ja, das leuchtet mir ein!" - "Ja, jetzt leuchtet es mir ein!" Diesen Verzögerungseffekt beschreiben wir dann so: Langsam ging ihm ein Licht auf...Langsam! Das sagen wir freilich meist von anderen…
Das Erstaunliche an unserem Predigttext ist dies: Er macht uns Mut, dies immer wieder von uns selbst zu sagen: Langsam geht mir ein Licht auf! Immer wieder - und zwar nicht nur wenn es um die kleinen Weisheiten des Alltags geht, sondern erst recht, wenn es um die schier unglaubliche Wahrheit unseres Lebens geht:
Christ ist erstanden von der Marter alle,
des solln wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein.
Kyrieleis.
Die Geschichte der Maria Magdalena am Ostermorgen - das ist die Geschichte eines ganz langsam, fast in der Zeitlupe aufgehenden Lichtes, eines ganz und gar komplizierten Erkenntnisprozesses - mit all seinen Irrungen und Wirrungen. Unser Predigttext erklärt diesen langwierigen Erkenntnisprozess geradezu für notwendig - und für ganz und gar legitim, mit all seinen Täuschungen und Ent-Täuschungen.
Das gilt auch für uns selber. Der Glaube ist kein Kinderspiel - auch nicht an Ostern. Diese zeitlupenhafte Erkenntnisgeschichte der Maria von Magdala - sie steht zugleich für die tröstliche Einsicht, die wir auch heute immer wieder auf uns wirken lassen dürfen: Theologie kann (und darf!), ja: sie muss geradezu mitunter schwierig sein - gerade auf dem Weg zur alles entscheidenden Wahrheit.
*
Begleiten wir also diese Maria aus dem Ufer-Dorf Magdala am See Genezareth auf ihrem Pfad der Erkenntnis:
Dieser Weg beginnt an diesem Ostermorgen etwas früher, als unser Predigttext einsetzt.
LUT John 20:1 Am ersten Tag der Woche - also am Sonntag nach dem Sabbath - kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster war, zum Grab und sieht, dass der Stein vom Grab weg war. 2 Da läuft sie und kommt zu Simon Petrus und zu dem andern Jünger, den Jesus lieb hatte, und spricht zu ihnen: Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Erstaunlich! Maria Magdalena sieht - und weiß im präzisen Sinne des Wissens - zunächst nur dies eine: Der Stein liegt nicht dort, wo er hingehört. Was im Grab selber der Fall ist, hat sie anders als die beiden Jünger, die sie herbeiruft, gar nicht ermittelt. Sie weiß noch nichts von einem leeren Grab. Aber sie begreift mehr, als sie schon weiß - nämlich, dass etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Und doch erliegt sie, da sie zunächst an das Naheliegende denkt: an einen Grabraub, einem fundamentalen Missverständnis.
Nun aber - die beiden Jünger, die wir für heute ausblenden, sind wieder heimgekehrt - geht die Erkenntnisgeschichte der Maria Magdalena weiter:
John 20:11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, schaute sie in das Grab 12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. 13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du?
Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Die Alarm-Meldung an die Jünger:
Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben...
...diese objektive, wenn auch irrige Information verwandelt sich nun in eine subjektive persönliche Klage:
Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Maria Magdalena, die - nach Lukas - dem Jesus von Nazareth ihre Gesundung von sieben bösen Geistern verdankte, die überdies zu den wenigen Augenzeugen des Kreuzestodes Jesu gehörte - diese Frau steht nun im Tiefpunkt ihrer menschlichen Existenz: Ihr Herr ist ihr, wie es ihr scheint, nun doppelt weggenommen - er ist zum einen nicht mehr unter den Lebenden, er ist - zum anderen - zugleich nicht mehr dort, wo nach ihren (und aller) Erwartungen der Tote an und für sich zu liegen hat; er ist also (welch' ein ihr noch nicht erkenntlicher Doppelsinn!) nicht mehr unter den Toten. <
Die Engel haben ihr nichts zu sagen. Klagend wendet sie sich um - und sieht einen Mann, den sie nicht erkennt; den sie auch nicht erkennt, als er sie fragt: "Frau, was weinst du? Wen suchst du?"
Spätestens hier, so könnte man meine, hätte der Maria Magdalena doch eigentlich langsam ein Licht aufgehen müssen.
Aber nun kommt es darauf an, überaus sorgfältig zu lesen:
Der Evangelist will uns die Verzögerung der Erkenntnis offenbar unmissverständlich deutlich machen. Wie gründlich Maria Magdalena die Situation immer noch missversteht, können wir nämlich an folgendem ablesen: Sie hält diesen unbekannten, unerkannten Mann nicht nur nicht für Jesus. Sie hält ihn überdies noch nicht einmal für einen zufällig die Szene betretenden Menschen, denn dann hätte sie doch auch ihm auf die Frage : "Was weinst du?", die uns schon bekannte Erläuterung geben müssen:
Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Aber nichts dergleichen! Maria hält - auf eine für uns schon fast ironisch missverständliche Weise - diesen Mann für den einzigen, der weiß, was hier wirklich gespielt wird - für den Täter.
Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm:... hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich ihn holen.
Das Opfer wird, in der Verkehrung aller Umstände, zum Täter - erklärt. Und doch ist das Opfer schon längst nicht mehr nur Opfer - sondern zugleich der ultimativ Handelnde. Eine atemraubende Wende!
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16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!
Es lohnt sich noch einmal, sehr genau hinzuhören:
Maria Magdalena erkennt Jesus nicht einfach an der Stimme. Wenn es so wäre, hätte sie ihn schon ein paar Sätze zuvor erkannt. Es ist also nicht die Stimme, die physische Stimme, die zur Erkenntnis führt, sondern erst ein ganz bestimmtes Wort, ein Be-Griff, ein geistiger Zu-Griff, ein Er-Greifen.
Es ist mithin nicht die akustische Ansprache ("Frau, was weinst du? Wen suchst du?" ), die Maria Magdalena aufhorchen macht und sie die Lage, ihre Lage und die der Welt, begreifen lässt. Sondern es ist die existentielle Ansprache: "Maria!" - Wer dächte da nicht an Worte wie jene aus Jesaja 43,1:
"Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!"
Erst auf diese geistige Besitzergreifung reagiert Maria Magdalena tatsächlich - mit einem Bekenntnis: Rabbuni! Meister!
Denn das ist nun ein Ehrentitel, der weiter greift, als das uns vertrautere: Rabbi! Kaum üblich im jüdischen Gebrauch als Anrede unter Menschen, eher schon als Anrede Gottes im Sinne von: "Herr der Welt" - "Herr des Himmels und der Erden" . Maria Magdalena geht also sehr weit - und doch greift sie zugleich - zu kurz. Denn wenn sie geglaubt haben sollte, nun gehe das Leben weiter wie zuvor, also könne sie wieder zu Jesu Füßen sitzen, ihm gar so, wie es bei Matthäus berichtet, die Füße umfassen, so wird sie zunächst zurückgewiesen:
17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater.
Dies muss für Maria Magdalena eine merkwürdig neue Bestimmung des bislang so vertrauten Verhältnisses, der Verhältnisse überhaupt sein. Aber sie lässt es sich ohne weitere Worte, gar Widerworte sagen:
Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
Denn dann heißt es lapidar:
18 Maria von Magdala geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt.
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Wir verlassen sie Szene dieser ersten Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena. Sie selber kehrt zu den Jüngern zurück.
Und wohin kehren wir zurück? Doch offenbar zu der Frage: Welchen komplizierten Erkenntnisprozess haben wir da soeben mitvollzogen?
In der theologischen Auslegungsgeschichte und in der historischen Rekonstruktion der österlichen und nachösterlichen Erscheinungen wird ein großes Gewicht auf die Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena - wahrscheinlich die erste Erscheinung überhaupt! - deshalb gelegt, weil dieser Primat einer Frau galt - und weil es eine Frau war, die zuerst begriffen hatte, wen sie vor sich hat. Und dies, obwohl das Zeugnis von Frauen und Kindern in der damaligen Zeit als völlig wertlos galt. Selbst Martin Luther räsoniert in den "Tischgesprächen" : "Wenn das weibliche Geschlecht anfängt, die christliche Lehre aufzunehmen, dann ist es viel eifriger in Glaubensdingen als Männer. Das erweist sich bei der Auferstehung (Joh. 20, 1 ff), Magdalena war viel beherzter als Petrus." (Ich weiß übrigens nicht, ob diese Bemerkung Luthers nur als Kompliment zu lesen ist...)
Bevor wir aber - aus unserer heutigen Sicht - vorschnell eine frühe Anwandlung des Feminismus in die Urgemeinde projizieren, müssen wir auch mit folgender Lesart rechnen: Möglicherweise war das, was Maria Magdalena nach Irrungen und Wirrungen begriffen hatte, zunächst einmal derart ungeheuerlich, dass man sich einfach nicht vorstellen konnte, so etwas unmittelbar und unvermittelt aus dem Munde von Zeugen zu hören, die sozusagen juristisch prozessfähig waren. Wer weiß, vielleicht wollte der Evangelist sogar seine Leser erst nach und nach an diese umstürzende Wahrheit gewöhnen - also den zeitlupenartigen Erkenntnisprozess, den wir an Maria Magdalena erlebt hatten, regelrecht verlängern, bis Thomas, der Zweifler, seine Finger endlich in die Wundmale Jesu legen konnte?
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Eines jedenfalls lehrt uns dieser Predigttext: Die Erfahrung von Ostern war für die Zeugen von Jesu Hinrichtung (und für die Jünger!) ein mühseliger Erkenntnisprozess - mühseliger, als wir es uns vielleicht vorstellen können. Bei uns kommt seit Jahrtausenden nach Karfreitag mit großer Zuverlässigkeit Ostern - als sei dies eine kalendarische Routine. Aber wenn es um die wirkliche Erkenntnis unserer Lage geht, stehen wir kaum weniger verzweifelt da als Maria Magdalena und die Jünger. Davor kann uns auch keine stramme Orthodoxie, kann uns kein steiles Dogma bewahren. Auch dieser Predigttext will uns davor nicht beschützen, im Gegenteil: Er will uns ermutigen, die Mühen dieser Erkenntniswege zu durchschreiten.
Immerhin: Als dieses Evangelium nach Johannes geschrieben wurde, da gab es schon heilige Lehrsätze und liturgische Formeln (Bekenntnisse also!), zum Beispiel die paulinischen Verse aus dem 1. Korinther-Brief 15, 3 ff:
"Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; 4 und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift…"
Aber die, wenn man so will: Menschenfreundlichkeit des Johannes-Evangeliums erweist sich darin, dass es den Unterschied zwischen Be-Kenntnis und Er-Kenntnis, zwischen dem Ziel und dem Weg dahin gelten lässt - auch für uns; dass es also in größter Einfühlsamkeit - wenn man so will: Toleranz! - die Stufen beschreibt, in denen eine Frau, eine ganze Jüngerschar sich zu dieser Einsicht hindurchfindet. Der Evangelist hat seine Größe und Eindringlichkeit eben gerade nicht darin, dass einem Glaubenswahrheiten (Wahrheiten, gewiss!) nach der Methode - nun, ja: - "Friss oder stirb" um die Ohren gehauen werden.
Es ist eben nicht das leere Grab für sich alleine, das alle wie selbst-verständlich das Richtige glauben lässt. Das leere Grab alleine erklärt nichts - es muss erklärt werden.
Es ist eben nicht der vor ihr stehende Mann, der Maria Magdalena ohne weiteres sagen lässt: "Wie schön, dass Du auferstanden bist!" Das Gesehene erklärt noch nichts - es muss zur Sprache gebracht werden.
Es ist aber nicht einmal die Stimme - sondern es ist (in dieser Geschichte!) allein die direkte besitzergreifende, existentielle, die persönliche Anrede mit unserem eigenen Namen, auf die wir hören, ja: warten sollen - und die alles verändert. Und auf die allein wir antworten können:
Ja, Rabbuni!
Christ ist erstanden von der Marter alle, des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein.
Kyrieleis.