Predigt zum Reformationstag in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin (Galater 5, 1 - 6)
Wolfgang Huber
"Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.."
I.
"Zur Freiheit hat uns Christus befreit." Man kann in diesem Satz des Paulus einen entscheidenden Baustein des christlichen Menschenbilds sehen. Ließe er sich nicht auch als Kern einer "europäischen Leitkultur" bezeichnen? Der Streit über diese Leitkultur sähe anders aus, wenn man sich an diesen Kern erinnern würde. Hier geht es um ein Bild der menschlichen Person, das durch Freiheit und aufrechten Gang bestimmt ist. Aber diese Freiheit ist nicht etwas, was man sich selbst beliebig erwerben, was man nach Belieben selbst herstellen, was man durch sein eigenes Handeln erst erwirken kann. Im letzten hat nämlich niemand von uns sein Leben selbst in der Hand. Wer es total in den Griff bekommen will, wird es ebenso total verspielen. Wer es als Geschenk annimmt, hat die Chance, mit ihm verantwortlich umzugehen. Wer im Glauben die Freiheit annimmt, die er Christus verdankt, kann auch in der Liebe tätig werden; wer nicht alles für sich selbst haben will, kann auch dem Nächsten das Seine zukommen lassen. Die Liebe zum Nächsten ist die Antwort auf die Zusage der Freiheit.
Würden wir uns an diesen Grundzug des christlichen Menschenbilds erinnern, dann würde anders darüber gesprochen, ob es eine "europäische Leitkultur" überhaupt gibt. Würden wir uns darüber verständigen, dass diese Einheit von Freiheit und Verantwortung, von Einsicht in unsere Endlichkeit und tätigem Glauben auch heute tragfähige Grundlagen des gemeinsamen Lebens sind, würde sich mancher Disput der letzten Tage als hohl erweisen. Wie wir andere in diese Form gelingenden Lebens einbeziehen, wäre dann die Frage - und nicht, wie wir sie ausgrenzen. Wie eine Praxis der Menschenwürde aussähe, würde dann gefragt - und nicht, wie wir zu einer Abstufung der Menschen kommen, die dieser Leitkultur näher oder ferner stehen. Der Reformationstag 2000 ist ein Anlass, dieses Grundelement eines christlichen Menschenbilds zur Geltung zu bringen.
"Tempi passati", werden Sie einwenden. "Die Zeiten sind vorbei." "Früher gab es mal eine europäische Leitkultur", hat Josef Joffe gestern in einem Zeitungsbeitrag eingewandt, "früher gab es eine Leitkultur entlang der 4-R-Linie Rom, Reformation, Renaissance, Revolution. ... Ach ja, früher war das wirklich einigende Band, das Klassen und Nationen verknüpfte, die Bibel - vorbei, vorbei."
Den Reformationstag freilich begehen wir nicht, um uns nostalgisch vergangener Zeiten zu erinnern und ihnen hinterherzurufen: "Vorbei, vorbei." Den Reformationstag begehen wir, um die Zukunftskraft eines Lebensentwurfs zu erkunden, der die geschenkte Freiheit und die wahrgenommene Verantwortung zusammenhält, eines Lebensentwurfs, der bekennt: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit" und deshalb antworten kann: "Vor Christus gilt der Glaube, der in der Liebe tätig ist."
II.
In diesen Tagen wird in der deutschen Öffentlichkeit ein Mensch vorgeführt, der sich selbst nicht beherrschen konnte, weil er alles beherrschen wollte, der sich selbst vergaß, weil er nur sich selbst kannte, der sich selbst nicht in der Hand hatte, weil er alles in die Hand bekommen wollte. Die Gesellschaft findet in ihm ihren Sündenbock, weil sie in ihm zugleich ihr Spiegelbild vor Augen hat. Christoph Daum, der in Ungnade gefallene Fußballtrainer, ist zu einem Ebenbild der Erlebnisgesellschaft ebenso geworden wie zu ihrem Opfer. Die selbstgemachte Freiheit zeigt sich in ihrer tiefen Zweideutigkeit, erst bewundert, dann verstoßen. Je höher einer gelobt wurde, desto tiefer ist der Fall. Je mehr wir in der Bewunderung für den Erfolg eines andern dem Leitbild einer selbstgemachten Freiheit nachträumen, desto erbarmungsloser ist unser Urteil, wenn er scheitert.
Der Mensch aber ist nicht das, was er selbst aus sich macht. Vor Gott wird keiner mit seinem Scheitern gleichgesetzt - auch nicht ein Christoph Daum. Neu anfangen können wir, weil Christus uns befreit, auch aus unserem Scheitern. An jedem Tag ist der Glaube neu möglich, der in der Liebe tätig wird. Wenn man von einem hoffnungsvollen Leitbild sprechen wollte, dann wäre dies ein Bild der menschlichen Person, die unterschieden wird von ihrer natürlichen Ausstattung wie von ihren individuellen Leistungen, vom Gelingen wie vom Misslingen der eigenen Biographie. Es wäre das Bild eines menschlichen Lebens, das gelingen kann, weil vom eigenen Gelingen nicht alles abhängt. Aber gibt es diese Person noch - und hat sie Zukunft?
III.
Mit dem heutigen Tag geht die Expo in Hannover zu Ende, die erste Weltausstellung auf deutschem Boden. Sinnig genug, hatte man sie am 1. Juni, dem Himmelfahrtstag, beginnen lassen, um sie am Reformationstag, dem 31. Oktober zu schließen. Darüber, ob man sich bei der Planung über die Bedeutung dieser Tage klar gewesen ist, ist nichts bekannt. Gleichwohl: die Expo schließt ihre Tore an dem Tag, der an die Proklamation der christlichen Freiheit durch Martin Luther erinnert.
Die Weltausstellung in Hannover hatte nicht nur die Absicht, den verschiedenen Nationen und anderen Ausstellern eine Plattform der Selbstdarstellung zu bieten. Sie hatte zugleich eine Fragestellung. "Mensch - Natur - Technik" hieß das anspruchsvolle Rahmenthema. Es war ein Thema, zu dem sich sogar in den wenigen Monaten, in denen die Expo ihre Pforten geöffnet hatte, neue, zum Teil tiefgreifende Aspekte ergeben haben.
Wie steht es um die Einzigartigkeit des Menschen? Kann er seine Sonderstellung in der Natur bewahren? Wird die Technik ein Instrument in der Hand des Menschen bleiben oder wird sie sich verselbständigen? In den letzten Wochen sind solche Fragen mit ungewöhnlicher Vehemenz verhandelt worden. Experten für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz rechnen damit, dass Computer in wenigen Jahren ebenso viele neuronale Vernetzungen und Verzweigungen zur Verfügung haben werden wie das menschliche Gehirn. Sie halten es auch für möglich, dass diese sich mit Nanotechnologie und Robotik so verbinden lassen, dass selbststeuernde Maschinen möglich sind, die von selbst Handlungen beginnen können. Wenn die Fähigkeit, Handlungen von selbst anfangen zu können, als das besondere Kennzeichen menschlicher Freiheit gilt, dann wäre von einem solchen Punkt der technischen Entwicklung an die Freiheit keine Besonderheit des Menschen mehr. Dann würden auch Maschinen über "Freiheit" verfügen, jedenfalls über Freiheit in dem gerade beschriebenen Sinn.
Welche Bedeutung hat das für unser Verständnis der menschlichen Person? Was geschieht dann mit dem Menschen? Würde er diese Kränkung überstehen?
Vergleichbar dramatisch sind die Herausforderungen für unser Bild vom Menschen, die sich aus der Entwicklung der Gentechnologie wie überhaupt der Biowissenschaften ergeben. Damit, dass die genetische Ausstattung des Menschen vollständiger erschlossen und auch vor der Geburt weitgehend vorausgesagt werden kann, wandelt sich unser Zugang zum menschlichen Leben. Soll sich aus einem Foetus, der genetisch mangelhaft ausgestattet ist, überhaupt ein Kind entwickeln, das dann zur Welt gebracht wird - so wird gefragt. Der Nobelpreisträger Jim Watson hat in diesem Zusammenhang erklärt, selbstverständlich bewege sich die Menschheit auf eine Phase verstärkter eugenischer Selektion zu; den Eltern möchte Watson das Entscheidungsrecht darüber anvertrauen, welche Schwangerschaften ausgetragen werden und welche nicht. Die Entscheidungsfreiheit, die damit den Eltern zuerkannt wird, macht freilich den Embryo, über dessen Fortexistenz sie entscheiden, zu einer bloßen Sache, einem Ding. Sie betrachten es nicht als eine werdende Person, der eigene Rechte zustehen, sondern als ein Ding, dessen genetische Ausstattung darüber entscheidet, ob es ein Recht dazu hat, weiterzuexistieren. Was aber geschieht dabei mit dem Menschen? Wird seine Freiheit Bestand haben, wenn er gar nicht mehr als Person gesehen wird, sondern nur noch als eine Sache? "Warum wir Gott nicht mehr die Zukunft des Menschen überlassen dürfen" - hieß in einer Zeitung der Titel zu Watsons Überlegungen. Denn Widerstand gegen den totalen Verfügungsanspruch über menschliches Leben, so mutmaßte der Nobelpreisträger, sei auf Dauer nur von Menschen zu erwarten, "die glauben, dass alles menschliche Leben die Existenz Gottes widerspiegelt und daher mit allen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, versorgt und unterstützt werden sollte."
Deutlicher kann man nicht sagen, was im Jahr 2000 auf dem Spiel steht. Deutlicher kann man auch nicht darauf hinweisen, was von christlichen Kirchen heute zu erwarten ist. Es genügt nicht, dass sie das Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes hinter den Kirchenmauern pflegen. Sie müssen es - wir müssen es - in der Öffentlichkeit unserer Gesellschaft neu zur Geltung bringen, wenn den Verfügungsansprüchen über den Menschen wirksame Grenzen gesetzt werden sollten. Der Streit, um den es heute gehen muss, ist in seinen Konturen denkbar klar: Entweder wird der Mensch als Gottes Ebenbild verstanden, dann verdienen sein Leben, seine Integrität, seine Freiheit eine unbedingte Achtung. Oder wir entziehen uns solchen "willkürlichen religiösen Eingebungen", wie Watson das nennt; dann können wir all denjenigen Formen des Lebens ein Ende zu machen, die "niemals Anlass zur Hoffnung auf Erfolge gegeben hätten". Hat sich eine solche Überlegung erst einmal durchgesetzt, wird sie sich kaum dauerhaft auf das ungeborene Leben beschränken lassen. Sie auch auf das geborene Leben anzuwenden, erscheint vielmehr als naheliegende Konsequenz. Der neuen Form der Eugenik folgt dann eine neue Form der Euthanasie. Dem muss der gemeinsame Widerstand der Christen wie aller Menschen gelten, denen das Leben heilig ist.
"Vorbei, vorbei" kann deshalb nicht die Auskunft sein, wenn wir nach der Bedeutung des Leitbildes vom Menschen fragen, das die biblische Botschaft uns vor Augen stellt und das die Reformation erneuert hat. Dieses Leitbild hat sich nie auf die Weise durchgesetzt, dass es einfach maßstäblich wurde für die Leitkultur einer Gesellschaft. Sonst müssten wir auch die Schandtaten unserer Geschichte den Wirkungen dieses Leitbildes zuschreiben. Es war ein kritischer Maßstab gegenüber den vorherrschenden Denkweisen einer Zeit. Verhielte es sich anders, dann wäre ja auch die Reformation ganz unnötig gewesen. Der Widerspruch des biblischen Menschenbilds gegen die Herabwürdigung des Menschen zu einem Mittel, der Widerspruch des biblischen Menschenbilds auch gegen die Vorstellung, der Mensch sei seines Lebens Herr und könne mit seiner Freiheit machen, was ihm beliebt, die Befreiung des Menschen vor dem Irrtum, er könne durch eigene Erfolge wie durch eigenes Erleben die Freiheit selbst erringen: all das ist heute so notwendig wie am 31. Oktober 1517.
IV.
Ein Letztes: Erinnern Sie sich noch an den Reformationstag vor einem Jahr? Dankgottesdienste haben wir damals gefeiert; ökumenische Prozessionen zogen auch durch unsere Stadt. In Augsburg wurde die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" in ökumenischer Gemeinsamkeit unterzeichnet. Miteinander dankten wir Gott für die gemeinsam gewonnenen Einsichten und hofften auf weitere Schritte auf dem Weg zum gemeinsamen Zeugnis der Christenheit.
Wer erwartet hatte, dass damit alle Unterschiede eingeebnet würden, sah sich enttäuscht. Aber eine Ökumene des kleinsten gemeinsamen Nenners hat ohnehin keine Zukunft. Das ist uns durch die Entwicklung dieses Jahres aufs neue bewusst geworden. Von unserem ökumenischen Engagement nehmen wir nichts zurück; und in unseren ökumenischen Hoffnungen bleiben wir unbescheiden. Aber selbstbewusst wollen wir auch als evangelische Christen in die Ökumene einbringen, was uns wichtig ist: das reformatorische Verständnis christlicher Freiheit. Das schließt ein an der Freiheit orientiertes Verständnis der Kirche ein, das wir selbstbewusst vertreten und nicht als ein Kirchenverständnis minderer Güte betrachten. Aber das reformatorische Verständnis des Glaubens wollen wir nicht mit dem Selbstbewusstsein einbringen, mit dem uns jüngst aus Rom mitgeteilt wurde, wer die "eigentliche Kirche" ist.
Wir wollen uns mit unseren Kräften und dem uns anvertrauten Erbe beteiligen an der Erneuerung der einen Kirche Jesu Christi - der Kirche all derjenigen, denen die Zusage gilt: "Zur Freiheit hat euch Christus befreit." Und diese Zusage kennt keine Grenzen. Unsere Aufgabe ist es, sie allen Menschen weiterzusagen. Auch so wird der Glaube in der Liebe tätig.
Amen