Predigt im Abschlussgottesdienst in der Paulanerkirche

Jürgen Johannesdotter

6. Tagung der 9. Synode der EKD in Amberg

Nicht, dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott.

2. Korinther 3,5


Im Herrn geliebte Schafe!

So pflegte einst der Pastor im ostfriesischen Nachbardorf im sonntäglichen Gottesdienst seine Gemeinde anzusprechen. Nur einmal - so wird erzählt - sei er von dieser Anrede abgewichen. Als nämlich nach dem Krieg ein großer Zug von Flüchtlingen dem Dorf zugeteilt worden war und sich nicht wenige im Dorf geweigert hatten, Flüchtlinge aufzunehmen. Da hat er seine Gemeinde mit einem kräftigen "Böcke!" von der Kanzel angedonnert. Worauf allerdings einer aus der Gemeinde "Mietling!" zurück gezischt habe.

Im Herrn geliebte Schafe - Böcke - Mietlinge - so haben wir einander nicht angeredet in diesen Tagen der Synode, aber gerungen haben wir - und sind noch dabei - um unser Schwerpunktthema "Globale Wirtschaft verantwortlich gestalten" und um unseren Friedensbeitrag in Zeiten des Krieges in Afghanistan. "Hirtenbriefe" nennen wir das nicht, was wir am Ende der Öffentlichkeit übergeben, sondern "Beschlüsse", und wenn die Stimmenzahl ausreicht, werden "Kundgebungen" daraus. Hirten und Schafe, das passt nicht so recht in eine Demokratie. Und auch in einer Synode der EKD zählen am Ende die Stimmen, wenn aus dem "Ich denke, ich meine, ich bin der Überzeugung" ein Beschluss oder eine Kundgebung werden soll. Zuvor aber setzen wir unsere Gedanken und Meinungen und Überzeugungen dem Härtetest der Heiligen Schrift aus.

Die fortlaufende Bibellesung - wir haben eben einen Abschnitt aus dem Buch Hesekiel gehört - präsentiert uns dabei Worte über die schlechten Hirten und den rechten Hirten. "Die Bibel enthält lauter alte Geschichten, die jeden Tag wieder neu passieren", hat Ricarda Huch einmal geschrieben - und das heißt nicht nur: Nichts Neues unter der Sonne.

So einfach und klar war das offensichtlich einmal: Soziale Missstände und Ungerechtigkeit waren eingerissen in Israel. Schrankenlose Ausbeutung durch eine kleine Clique machte sich breit. Sozial Schwache wurden nicht gestärkt, sondern die ersten Opfer von Sparmaßnahmen. Kranke wurden nicht geheilt, sondern von einer Stelle zur anderen hin- und hergeschoben. Verwundete wurden nicht gepflegt, sondern alleingelassen. Verlorenen wurde nicht nachgegangen, sondern sie wurden zu Randgruppen degradiert. Verirrte wurden nicht auf den rechten Weg gebracht, sondern bestraft. Das alles wurde im Prophetenbuch offen und schonungslos beim Namen genannt. Verantwortlich sind die Herrschenden - also weg mit ihnen. Sie sollen hinfort nicht mehr Hirten sein. Dieses alles ist so einfach, so eindeutig. Dies ist der radikale, ja aggressive Prophetenspruch wider die Hirten Israels.

Freilich, es wird mit keinem Wort gesagt, dass die Herrschenden durch andere, bessere ersetzt werden sollen. Nicht andere und bessere Menschen, nicht andere und bessere Institutionen werden das Problem lösen, sondern Gott selber wird das Hirtenamt und die Herrschaftsfunktion übernehmen. Und da sitzen wir schon fest: Wie soll das aussehen?

Ich glaube allerdings nicht, dass das, was uns von diesem Text trennt, mit Vorrang die Verschiedenheit der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen ist. Herrschaft Gottes, das ist in einer agrarischen Gesellschaft und in einer absolutistischen Monarchie genauso schwer vorstellbar wie in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem und in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen, die diesen Prophetenspruch gehört haben, genauso schnell bereit waren, sich zu identifizieren und sich und ihre Verhältnisse in dem wiederzufinden, was da angeprangert wird, wie wir heute das tun, wenn es um die Schilderung der Missstände geht. Dass sie aber genauso ratlos, so zweifelnd, so skeptisch, so ungeduldig zugehört haben, wenn es um die Lösung geht, wie wir heute.

Wenn wir diese und die anderen alten Geschichten als eine Rezeptur zur raschen und reibungslosen Beseitigung von Missständen zu hören versuchen, dann bleiben sie stumm. Sie wollen etwas anderes, und sie tun etwas anderes: Sie stellen vor unsere innere Anschauung eine Vorstellung und ein Bild, das so groß ist, dass es immer wieder durch die Jahrhunderte hin die Phantasie und die schöpferische Kreativität inspiriert hat: DER HERR IST MEIN HIRTE ... Und dann das Bild von Christus als dem guten Hirten. Und mit diesem Bild kommt eine Erinnerung, die mehr ist als nur ein Wort, mehr auch als nur ein Bild. Es ist die Erinnerung an eine BEFREIUNG, die den Armen gilt, aber auch den Reichen und Erfolgreichen.

Die Rechtfertigung aus Gnade allein hat ja viele Konkretionen. Im Wort des Paulus aus dem 2. Korintherbrief heißt sie: "Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott." Hier wird auch die Tüchtigkeit, der Erfolg also, in einen Zusammenhang mit Gott gebracht - und über ihn mit den anderen Menschen. Dein Erfolg gehört dir nicht allein, genauso wenig wie dein Nächster die Folgen seiner Armut allein zu ertragen hat.

Hier wird kein Mensch stigmatisiert – weder der Arme noch der Reiche, weder der Erfolglose noch der Erfolgreiche. Erinnern wir uns - die Brücke unserer "sozialen Marktwirtschaft" wird von zwei Pfeilern getragen: dem Leistungsvermögen unserer Wirtschaft und der Qualität der sozialen Sicherung. Die "irenische Formel" wurde dieser Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Gerechtigkeit  genannt. Der System - Charakter der Wirtschaft bringt es mit sich, dass man für soziale Sicherheit nicht sorgen kann, ohne sich um wirtschaftliche Effizienz zu bemühen, und dass wirtschaftliche Effizienz nicht zu haben ist ohne sozialen Frieden.

Die Worte des Paulus stehen in keiner Kundgebung, sie sind auch nicht Teil eines synodalen Beschlusses. Den Abschnitt, in dem dieses Wort steht, beginnt er mit den Worten: "Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unseren Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens." Das Neue Testament gibt uns ja eine Konkretion für die Vorstellung vom guten Hirten. Und sie ist immer noch der stärkste kritische Einspruch gewesen gegen sich verfestigende Herrschaftsverhältnisse. Ein Hirte nämlich, der sein Leben lässt für seine Schafe, der Verlorenes sucht, der Verwundetes verbindet, der Zerschlagenes aufrichtet und heilt. Nicht mit machtvollen Demonstrationen, sondern mit der leisen, aber unüberhörbaren Stimme der Liebe.

Das mögt ihr morgen nun alle mitnehmen und mit der Hilfe unseres Herrn auch weiterhin sagen: Der Herr ist mein Hirte - im Herrn geliebte Schafe.

AMEN.