Gedenkgottesdienst in Flossenbürg
Predigt des Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm
Liebe Gemeinde,
"Das ist das Ende. Für mich der Beginn des Lebens". Das waren die letzten Worte Dietrich Bonhoeffers, von denen wir wissen. Er hat sie einem Mitgefangenen auf den Weg gegeben, als er am 8. April in Schönberg im Bayerischen Wald aus der Gruppe der Gefangenen herausgeholt wurde. Sie waren in den letzten Tagen des Krieges von einem Ort zum anderen gebracht worden, während in der Ferne schon das Geschützfeuer der alliierten Truppen zu hören war, die wenige Wochen später allen die Freiheit bringen sollten. Gerade hatte Bonhoeffer in Schönberg für die Gefangenengruppe eine Andacht gehalten, die die Mitgefangenen sehr berührt hatte. Noch am gleichen Tag wurde er von Schönberg ins KZ Flossenbürg gebracht und abends in einem Schnellgerichtsverfahren, das mit Recht nichts zu tun hatte, zum Tode verurteilt. Morgens zwischen 6 und 7 Uhr – in diesen Tagen genau vor 70 Jahren, wurde er gehängt. "Ich habe in meiner fast 50-jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen." Wir wissen nicht, ob diese spätere Aussage eines anwesenden SS-Arztes eine nachträgliche Romantisierung zum Zwecke der eigenen Entlastung ist oder ob sie das trifft, was damals tatsächlich geschah. Aber die Sätze des Arztes berühren uns, weil sie jedenfalls dem entsprechen, was dieser Mann in seinen Briefen, in seinen theologischen Gedanken und in seinen Gebeten ausgestrahlt hat wie wenige andere. Es war gerade seine tiefe Frömmigkeit, die ihn frei gemacht hat von jeglicher Frömmelei. Die ihn in einem tiefen Sinne offen gemacht hat für die Welt. Die ihn im ureigenen Sinne des Wortes radikal gemacht hat.
Auch wer sich der Gefahr bewusst ist, dass aus in der Sache gegründeter Bewunderung leicht Heldenverehrung werden kann, staunt immer wieder, wie Worte Dietrich Bonhoeffers etwas treffen, was uns heute als Frage bewegt. Bei ihm findet sich eine kraftvolle Antwort oder jedenfalls ein kraftvoller Gedanke. Und das gilt für die akademische Theologie ganz genauso wie für die konkrete Orientierung im Alltag. "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag." Wie vielen Menschen, ob jung oder alt, haben diese Worte Trost und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit in Gottes Hand gegeben!
Und sie sind genau deswegen kein religiöser Schmalz, weil sie in der Gefängniszelle aufgeschrieben wurden in der ganz unmittelbaren Erfahrung der Abgründe von Schmerz und Verlorenheit, denen wir Menschen immer wieder ausgesetzt sind.
Immer wieder empfinde ich – jenseits persönlicher Trauer um einen Menschen - einen Schmerz darüber, dass dieser in so vieler Hinsicht ungewöhnliche und eben auch vielversprechende Mann so kurz vor Kriegsende sterben musste. Wie hätte Bonhoeffer – so wie er es gehofft hatte – nach dem Kriegsende zum Wiederaufbau Deutschlands beitragen können? Welche Impulse hätte er unserer Kirche gegeben? Hätte sie überhaupt erkannt, wieviel er ihr hätte geben können? Oder hätte sie diesen radikalen und unbequemen theologischen Vordenker, der sich an Umsturzplänen beteiligt hatte, links liegen lassen?
Wäre er zu einem der führenden Geistlichen Nachkriegsdeutschlands geworden? Oder wäre er mit seinen Thesen – gerade zu einer radikal erneuerten Kirche – ins Abseits gestellt worden?
Wir wissen die Antwort auf diese Fragen nicht. Aber was wir wissen und spüren, ist seine inspirierende Leidenschaft für Christus – und das heißt für ihn immer: für den Menschen.
Kompromisslos nennt er das selbst. Kompromisslos einstehen für Christus. Diesen cantus firmus seines Lebens und seiner Theologie hat Dietrich Bonhoeffer immer wieder neu formuliert. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Christus nennt er es in einem Brief an seinen Bruder.
In einem aus dem Gefängnis herausgebrachten Manuskript, das durch die Aufbewahrung in einem Gartenversteck am Haus seiner Eltern erhalten geblieben ist, schreibt er für sein Patenkind seine Gedanken zum Christsein in der Zukunft auf und bringt es auf die Formel: Christsein in der Zukunft heißt Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit. Was heißt das heute, mehr als 70 Jahre später? Sind wir heute solche Menschen, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten?
Oder sind wir eine Kirche, die sich bürgerlich eingerichtet hat, die mit ihren dreistelligen Millionenetats und ihren staatsanalogen Beamtenstrukturen nichts von der Radikalität ausstrahlt, die Bonhoeffer damals vor Augen gestanden haben muss?
Es gibt überzeugende Gründe dafür, dass wir als Kirche heute gut organisiert sind: Pfarrerinnen und Pfarrer sind nach in der Synode intensiv diskutierten Stellenplänen übers Land verteilt. Die durch Kirchensteuer eingenommenen Gelder werden nach haushaltsrechtlich verlässlich eingespielten Verfahren und durch Beschluss von Synoden für viele sehr segensreiche Dinge eingesetzt. Eine Pauschalkritik solcher eingespielter Prozesse scheint zwar zunächst den radikalen Geist des Evangeliums zu atmen. Aber wer sich klarmacht, wieviel Segensreiches zerstört würde, wenn man dieser Kritik einfach folgen würde, der wird ihr mit einer gewissen Zurückhaltung begegnen.
Vielleicht ist es ja die Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen und die uns immer wieder von neuem beunruhigen muss. Vielleicht müssen wir die Spannung einfach aushalten zwischen den radikalen Worten Jesu und dem Versuch, ihm in einer Institution nachzufolgen, die eben auch verlässliche Rechtsverfahren, korrekte Gehaltszettel, klare Zuständigkeiten und eine möglichst effektive Verwaltung braucht. Und vielleicht ist es genau die Dreiheit von Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit, die die Institution Kirche davor bewahrt, ihre Radikalität als Zeugin des Evangeliums zu verlieren.
Wir haben eben in der Evangeliumslesung das große Gebet gehört, das Jesus für seine Jünger spricht, um sie für ihre Existenz in der Welt zuzurüsten. "Ich bitte dich", betet Jesus, "sie vor dem Bösen zu beschützen. Verwandle sie durch die Wahrheit in Menschen, die zu dir gehören." Das Gebet ist der Dreh- und Angelpunkt im Wirken Jesu, es ist der Dreh- und Angelpunkt in der Existenz Dietrich Bonhoeffers. Warum ist das so?
Wenn es uns in der Not die Sprache verschlägt, dann gibt das Gebet die Worte. Das Gebet gibt uns einen Ort, unsere Freude auszudrücken und unser Glück. Das Gebet ist mehr als ein Selbstgespräch. Es bringt uns in Kommunikation mit Gott. Das Gebet öffnet uns den Himmel. Es holt uns heraus aus der Selbstverkrümmung, in die wir immer wieder geraten, und eröffnet uns einen neuen Horizont, einen neuen Himmel und eine neue Erde. Aber nicht irgendwo anders. Sondern unter dem Himmel und auf der Erde, auf der wir leben. Das Gebet macht ruhiger, geordneter, gewisser. Es macht auch mutiger. Manchmal so, dass man die Welt tatsächlich ein wenig zum Guten verändern kann.
Deswegen sind Beten und Tun des Gerechten eben nicht voneinander zu trennen. Wenn wir das Schicksal unserer Schwestern und Brüder in Syrien und im Nordirak oder in anderen gewaltgetränkten Regionen der Welt im Gebet immer wieder vor Gott bringen, wie können wir dann anders als uns gleichzeitig tatkräftig dafür einsetzen, dass ihre Not endlich ein Ende hat! Wie können wir ehrlich beten und uns gleichzeitig von Flüchtlingsströmen abzuschotten versuchen?
Für wen ich gebetet habe, den kann ich nicht mehr vergessen. Wen ich im Gebet vor Gott gebracht habe, den stellt mir Gott zur Seite, dass ich ihn begleite, mich vor ihn stelle und ihn schütze. Gott antwortet nicht auf unser Gebet, indem er magisch von oben eingreift, sondern er nimmt uns, die Betenden, in Anspruch. Wir selbst sind die Hände Gottes. Gott – darauf hat Dietrich Bonhoeffer eindringlich hingewiesen, – ist nicht der Lückenbüßer-Gott, der repariert, was wir Menschen nicht hinkriegen. Deswegen ist Beten und Tun des Gerechten untrennbar miteinander verbunden.
Das Schwerste ist vielleicht das Dritte: Warten auf Gottes Zeit. Das fällt so schwer, wenn der Menschenzeit so viele zum Opfer fallen. Warum geschieht all das Leid auf der Welt? Warum entführen Islamisten in Nigeria junge Mädchen und keiner sieht sie wieder? Warum bekämpfen sich im Südsudan Christen gegenseitig und die Klage der Opfer schreit gen Himmel? Warum sind so viele Menschen in Syrien und im Nordirak gestorben, weil sie niemand vor den mordenden IS-Kämpfern geschützt hat? Und warum – so fragen sich viele in unserem Land – ist das Gedankengut des Nationalsozialismus immer noch lebendig unter uns? Und macht aus Menschen Brandstifter und Mörder. Warum müssen vor jüdischen Einrichtungen in Deutschland immer noch Polizisten stehen? Weil es heute leider immer noch neonazistische Anschläge gibt, feige und menschenverachtend. Aber die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nimmt das nicht hin, und das, liebe Gemeinde, ist auch Menschen wie Dietrich Bonhoeffer zu verdanken.
Manchmal ist es gerade der Humor, der angesichts von lebensverneinendem Rassismus und Antisemitismus die größte Wirkung hat. Das jedenfalls legt eine Aktion nahe, die nicht weit von hier, im 65 km entfernten Wunsiedel, stattgefunden hat und die weltweite Beachtung gefunden hat.
Neonazis hatten im vergangenen November eine Demonstration zum Volkstrauertag angekündigt. Ohne dass es vorher bekannt wurde, haben die Menschen in Wunsiedel diesen Marsch zu einem Spendenlauf umfunktioniert: Für jeden Meter, den ein rechtsextremer Marschteilnehmer gelaufen ist, hatten sich Sponsoren gefunden, die dafür je 10 Euro an das Aussteigerprogramm EXIT spendeten. Die Nazi-Demonstranten sahen sich also auf ihrem Marsch plötzlich mit Plakaten konfrontiert, die sie zu weiteren Metern anfeuerten, um möglichst viel Geld für das Aussteigerprogramm zusammen zu bekommen. Es wurden sogar Verpflegungsstationen mit Bananen eingerichtet – Stichwort "Mein Mampf". 10.000 Euro kamen am Ende zusammen, mit denen Menschen aus der rechtsradikalen Szene nun beim Ausstieg begleitet werden können.
Die Menschen in Wunsiedel haben mit dieser kreativen Aktion ein Zeichen gesetzt, dass die menschenverachtende Ideologie, für deren Überwindung Dietrich Bonhoeffer sein Leben gegeben hat, nie wieder Fuß fassen soll in Deutschland. Und sie haben gleichzeitig die klare Botschaft an alle gesandt, die rechtsradikalen Gruppen angehören, dass es immer einen Weg heraus gibt.
Für mich war diese Aktion eine wahrhaft österliche Aktion. Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln – hat Dietrich Bonhoeffer gesagt. Und immer wieder ist sie schon da, die österliche Zeit Gottes. Viele Osterboten an vielen Orten künden von dieser Zeit, indem sie Zeichen setzen gegen Rassismus und Antisemitismus, indem sie für Schwache einstehen und eben nicht die Sprache der Gewalt sprechen, sondern mitfühlend sind und liebevoll.
Die letzten überlieferten Worte Dietrich Bonhoeffers gewinnen in diesen österlichen Zeichen eine Bedeutung, die weit über sein persönliches Leben hinausgeht. Denn diese österlichen Zeichen sind nichts weniger als der Beginn des Lebens...
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN