Predigt anläßlich der Gedenkfeier für Regine Hildebrandt in der St. Nikolai-Kirche zu Potsdam
Wolfgang Huber
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Herzlich heiße ich Sie hier in St. Nikolai in Potsdam willkommen. Miteinander wollen wir von Regine Hildebrandt Abschied nehmen, die am vergangenen Montag, dem 26. November, im Alter von sechzig Jahren verstorben ist. Am gestrigen Tag wurde sie im Kreis ihrer Familie bestattet. Der Treue Gottes wurde sie anvertraut – dem biblischen Wort folgend, das uns durch diesen Monat Dezember geleitet: “Der Herr ist treu; er wird euch Kraft geben und euch vor dem Bösen bewahren.”
Treue, Kraft, Bewahrung vor dem Bösen: Worte sind das, die gut zu dem Leben von Regine Hildebrandt passen. Worte sind das zugleich, die über dieses Leben hinausweisen. Von der Treue Gottes ist die Rede, an die wir uns auch in dieser Stunde des Abschieds halten können. Von der Kraft ist die Rede, die wir nicht selbst hervorbringen, sondern die uns gegeben wird. Und dem Bösen können wir zu wehren versuchen; bewahren, gar erlösen von dem Bösen kann uns nur Gott allein.
Wir nehmen von einer Frau Abschied, die ihre Pflicht erfüllen wollte bis ans Ende. Inzwischen ahnen wir, was sie sich abverlangt hat, als sie dem vorgegebenen Programm folgte bis in die letzte Woche ihres Lebens hinein – bestätigt in ihrer Treue durch die dankbare Zustimmung vieler Menschen, auch durch einen Vertrauenserweis bei der Wahl in den Parteivorstand der SPD, wie ihn ein auf den Tod kranker Mensch nur selten erlebt hat. Die Haltung, die sich in ihrem rastlosen Einsatz bis zuletzt ausprägte, findet auf eine besondere Weise ihr Echo in einem Satz des Neuen Testaments, der uns für den heutigen Tag als Leitwort gegeben ist. Im ersten Brief an Timotheus lesen wir: “Bemühe dich darum, dich vor Gott zu erweisen als einen rechtschaffenen und untadeligen Arbeiter, der das Wort der Wahrheit recht austeilt”. Gibt es mehr, als wenn man vor Gott und den Menschen bestätigt finden kann, dass ein Leben in rechtschaffener und untadeliger Arbeit geführt wurde, orientiert am Wort der Wahrheit, an dem man anderen teilgab? Und könnte man es kürzer sagen, was uns alle an Regine Hildebrandt fasziniert hat, als so: rechtschaffen, untadelig, an der Wahrheit orientiert – für die sie übrigens schneller Worte fand als irgend jemand sonst.
Wenn wir heute von Regine Hildebrandt Abschied nehmen, erinnern wir uns an eine außergewöhnliche Frau. Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie unter Bedingungen, die für öffentliches Aufsehen nicht taugten. Heute sehen wir ihre Biographie im Licht der herausragenden öffentlichen Resonanz, die sie seit 1990 fand. Doch das soll uns die nahezu fünfzig Jahre nicht vergessen lassen, die sie zuvor schon gelebt hatte: mit aufrechtem Gang, neugierig der Welt des Wissens zugewandt, ein Mittelpunkt ihrer Familie, aber zugleich geachtet in ihrem Beruf als Biologin – und in alldem: ein bewusster und selbstbewusster Christenmensch. Niemand wird Regine Hildebrandt verstehen, wenn er nicht auch diese Zeit vor 1989 bedenkt. Aber vor Augen haben wir ebenso die Regine Hildebrandt, die von 1990 an eine öffentliche Person im vereinigten Deutschland war – weit über jedes ihrer politischen Ämter hinaus.
Wie außergewöhnlich Regine Hildebrandt war, zeigte sich nicht nur im Großen; es zeigte sich ebenso im Kleinen. Sprichwörtlich ist die hingebungsvolle Treue, mit der sie die Menschen bekochen und bebacken wollte, die bei ihr zu Besuch kamen. Aber ebenso beeindruckend war, wie sie mit den Menschen umging, die in ihrem Ministerium mit ihr zusammenarbeiteten. Sie forderte nicht nur viel von ihnen. Sondern “mit großem Herzen” bedankte sie sich zum Jahresende bei allen zweihundertfünfzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem persönlichen, handschriftlichen Gruß und einem ebenso persönlichen Geschenk. Wer will uns die Tränen verwehren, mit denen wir von Regine Hildebrandt Abschied nehmen?
Aber wir sind nicht nur zusammen, um die ungewöhnlichen Leistungen einer ungewöhnlichen Frau zu würdigen. Uns führt vor allem die Hoffnung zusammen, die über die Grenzen unserer Leistungen und über die Grenzen des Todes hinausweist. Regine Hildebrandt hat diese Hoffnung des christlichen Glaubens auf ihre besondere Weise gelebt. Und sie hat diese Hoffnung wieder und wieder besungen – in der Familie, im Gottesdienst, in der Berliner Domkantorei. Die Hoffnung des Glaubens reicht über den Tod hinaus und weist uns auf die Liebe Gottes, die uns mit den uns Vorausgegangenen verbindet. “Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.”
Schlussgebet:
Unter den Worten des 43. Psalms ist Regine Hildebrandt gestern bestattet worden. Auch heute wollen wir in die Worte des Psalmisten einstimmen, in eine Bitte an Gott, in die wir alles hineinlegen können, was uns bewegt:
“Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung, dass ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott. Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.”
Als Regine Hildebrandt starb, haben Menschen für Augenblicke den Atem angehalten, ihre Arbeit unterbrochen, den Tränen freien Lauf gelassen. Warum sollten wir uns dessen schämen? Sollten wir nicht eher verabreden, dass wir auch dann unseren Gefühlen Raum geben, wenn es nicht der Tod ist, der uns anrührt? Denn es ist immer ein Mensch, der solche Gefühle auslöst, ein Ebenbild Gottes.
Die Enkelkinder von Regine Hildebrandt haben nach dem Tod ihrer über alles geliebten Großmutter Bilder gemalt, unter die sie in verschiedenen Farben schrieben: “Viel Glück im Himmel” und “Hoffentlich geht es dir jetzt gut”. Was die Kinder hoffen, erbitten wir auch, wenn wir sagen: “Sende dein Licht und deine Wahrheit. Lass Licht werden aus dem Dunkel des Todes. Lass uns deine Wahrheit jetzt leuchten. Nimm Regine Hildebrandt auf in dein Reich.”
(Ich bitte Sie, sich zu erheben.)
Was uns bewegt in dieser Stunde, nehmen wir hinein in das Gebet, das die Christenheit an allen Orten und zu allen Zeiten verbindet – in das Gebet Jesu, mit dessen Worten wir gemeinsam sprechen:
“Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.”
Es segne und behüte uns der allmächtige und barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der heilige Geist. Amen.