Predigt am 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate) im Dom zu Berlin (Johannes 15, 5, 9 –12)
21. April 2002
Der Friede Jesu Christi sei mit Euch.
Liebe Gemeinde,
„der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe; geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht“.
So heißt es im Hiobbuch. So wie hier beschreibt die Heilige Schrift an vielen Stellen die unstete und zerbrechliche Menschennatur. „Geht auf, fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht“. Wer sind wir - wir Menschen und wozu? Was will ich tun mit meinem Leben, was habe ich getan?
Die Welt steht uns doch offen. Keine Zeit vorher hatte diese Möglichkeit, nie gab es solche Chancen, nach den eigenen Bedürfnissen zu leben. Das Wissen scheint unermesslich geworden. Technische Möglichkeiten versetzen in Erstaunen.
Eigentlich müsste es allen gut gehen. Aber – da ist immer wieder der Krieg, die Sorge um die Lieben, es gibt zu viele Arme in der Welt. Und auch die Satten haben Hunger. Überdruss schreit nach Erfüllung. Bei Hiob heißt es: „Der Mensch geht auf, fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“
Was aber bleibt – in dieser vergehenden Welt? - Was bleibt den beiden Kindern, die heute getauft wurden, Sophia und Tobias. Was aber bleibt?
Darum geht es im Predigtabschnitt heute aus dem 15. Kapitel des Johannesevangeliums, des Evangeliums dieses Sonntags. Jesus sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“
Der Weinstock und die Reben.
Ein wunderschönes Bild. Weinstock und Reben – das Symbol der Einheit und der Fruchtbarkeit. „Israel ist Gottes Weinstock.“ In diesem Bild wird die Erinnerung den Jüngern Jesu lebendig. In Christus haben sie die Nähe des Vaters gespürt. Verbunden mit dem Ursprung sind sie durch ihn. - Sie haben Anteil an Gott über den Wurzelgrund, aus dem sie ihre Kraft ziehen, das macht sie lebendig.
„Wer in mir bleibt.“ Das Bild vom Weinstock beantwortet die Frage: Was bleibt? Was bleibt dem Menschen, der aufgeht, abfällt, flieht wie ein Schatten und nicht bleibt? - Doch, er bleibt, wenn er verbunden ist mit dem Ursprung. Wie die Teile und das Ganze, Weinstock und Reben.
Der dieses Bild geschenkt hat, sagt: „Ich bin - ihr seid. Das vermittelt die große Erfahrung: Zugehörig sein, sich identifizieren können, heißt das. – Das ist es – was bleibt.
Ich weiß, sobald einer zu sehr wünscht, irgendwo dazu zu gehören, kann die Angst sich einschleichen, abhängig zu werden. Aber ‚Wurzeln haben‘, das ist kein Bild der Abhängigkeit, der Unfreiheit. Wurzeln verbinden mit dem Boden, über sie beziehen die Reben ihre Kraft, so können sie leben.
Was kommt dabei heraus?
Lassen Sie uns zunächst noch nicht nach den Früchten fragen. Das wäre zwar modern, pragmatisch, funktional, denn es heißt: Es muss sich lohnen für die Menschen, es muss etwas dabei heraus kommen. So sagen die meisten, sie fragen: „Was habe ich davon, was bringt mir das, zu einer Kirche zu gehören, einen Gottesdienst zu besuchen, Nächstenliebe zu üben?“ Und fragen auch: „Was habe ich von der Verbindung mit meiner Wurzel?“
Nun, Zweige, die abgerissen sind, vertrocknen. Welches die Früchte sein könnten, braucht man dann gar nicht mehr zu fragen.
Aber was bedeutet die Verbindung mit dem Wurzelgrund? „Ich, der Weinstock“ -, Er, Josef und Mariensohn, er, der Ursprung, daraus können wir wachsen. Das Leben erhält seine Kraft von der Wurzel. Die Urbeziehung zwischen Vater und Sohn ist dargestellt. Dann die Freunde und Freundinnen, Jüngerinnen und Jünger, sie leben in der gleichen Verbindung. Es ist die Urbeziehung, die als eine Liebeskette durch die Generationen hält, sie ist Gewähr für das Leben.
Am Weinstock bleiben, das heißt, in dem Fluss der ständigen Veränderungen einen festen Standort, einen Wurzelgrund finden, Kraft bekommen und weitergeben. Das steht gegen die Hiobverzweiflung über den Menschen, der nicht bleibt.
Der Mensch bleibt, wenn er bei der Wurzel bleibt.
„Denn ohne mich könnt ihr nichts tun“, sagt Jesus. Das klingt als ein Absolutheitsanspruch. Aber es gilt, den Zusammenhang zu beachten, damit man diesen Anspruch nicht falsch versteht. Wir können ja sehr wohl etwas tun. Wir können Gutes tun und auch Böses, wir sind so frei. Wir wissen, was herauskommt ohne Ihn. Das zeigt diese Welt immer wieder an. Das Leben braucht die Wurzel, braucht die Verbindung zu Gott, sonst vertrocknet es. Der Absolutheitsanspruch Jesu hat nichts Fanatisches. Es ist ein Anspruch, der ein Geschenk vermittelt. Die Erkenntnis nämlich, dass wir die Wurzel brauchen, ohne die wir absterben.
Einen zusätzlichen Gedanken will ich noch nebenbei erwähnen: Die Liebeskette zwischen Vater und Sohn und den Freunden darf keine Überheblichkeit erzeugen, muss offen sein für die anderen. Der Weinstock hat nicht nur eine Rebe. Auch bei anderen Reben, bei anderen Gemeinden, bei anderen Kirchen ist etwas vom Eigentlichen enthalten, weil die anderen mit dem gleichen Wurzelgrund verbunden sind. Wir leben in einem Jahrhundert, in dem die Kirchen nur dann für diese Welt glaubwürdig sind, wenn sie sich gemeinsam und einander bezeugend auf den Wurzelgrund beziehen.
Bleibt in der Liebe, das ist die Frucht
Nun also doch: Was kommt dabei heraus?
Es geht um die Frucht. Dazu heißt es im Abschnitt des Johannesevangeliums weiter:
Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich
euch auch. Bleibt in meiner Liebe!
Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt
ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters
Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.
Das sage ich euch, damit meine Freude
in euch bleibe und eure Freude vollkommen
werde.
Das ist mein Gebot, daß ihr euch unter-
einander liebt, wie ich euch liebe.
Bleibt in der Liebe. Das ist die Frucht am Weinstock: Bleibt nicht ohne mich und nicht ohne dieses Maß der Liebe.
Liebe ist ein verschlissenes Wort. Ich will nicht alle Bedeutungsvarianten entfalten. Jesus spricht: „Bleibt in meiner Liebe.“ Damit ist sie bestimmt. „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“ Das heißt: Tretet hinein in den Kreis dieser Liebe! Wo Jesus die Hand reicht, wisst ihr, was Liebe ist: Nicht Amore, nicht Gefühle, nicht Caritas, eher so etwas wie Freundschaft.
Die verbunden sind in dieser Liebe, sind nicht Knechte, sondern Freunde und Freie. Glaube degeneriert immer zu pingeliger Moral oder zum fanatischen Machtmittel der Fundamentalisten, wo sein Kern nicht die Liebe ist.
Wer sich in die Luft sprengt, um andere zu ermorden, kann sich nicht auf Gott berufen.
Menschenwürdig wird Leben nur in der Kraft der Liebe, auch wenn es den Anschein hat, als ginge es ohne. Stell dich also hinein in den Saftstrom des Weinstocks und du spürst, wie du wächst.
Bleiben, in der Liebe bleiben.
Bleiben scheint schwer in dieser Welt des Hasses. Man möchte fortlaufen, weg von Berlin und seiner Hektik, aus diesem Land weg, aus der Ehe, aus der Arbeitsstelle weg, aus der Wohnung weg, aus der Lebensgeschichte. Bleiben hat eben manchmal einen negativen Klang: „Wo bleibst du denn?“ „Zurückbleiben,“ „sitzen bleiben.“
Wir wissen, zum Leben gehört Bewegung und Dynamik. Eben nicht in alten Bahnen bleiben, nicht die eingefahrenen Gleise benutzen. Was immer schon versucht wurde, bringt nichts, wenn es immer wieder die alte Leier ist. Veränderung scheint gefragt, das Neue scheint das Bessere zu sein.
Aber das Bleiben hat auch positiven Klang. Bei der Sache bleiben, eine Bleibe haben, wissen, wohin man gehört. Den Ort haben in der Liebe, das sagt Jesus und so gehören wir ja mit ihm zusammen. Bewegung und Bleiben gehören zusammen. Wer vorwärts gehen will, braucht Rückendeckung, braucht die Gewissheit, das einer zu ihm steht. Leben braucht Verbindung mit dem Grund. Heb‘ also nicht ab vom Boden! Wachsen braucht Wurzeln und braucht als Maß die Liebe. Von Jewgeniew Tutschenko gibt es ein Gedicht, das lautet:
„In Zeitnot geraten wie in ein Netz ist der Mensch,
Atemlos hetzt er durch sein Leben
und wischt sich den Schweiß.
Ein Fluch des Jahrhunderts ist diese Eile.
Es wird ganz eilig gezecht und ganz eilig geliebt.
Ganz tief sinkt die Seele dabei.
Man baut ganz eilig, vernichtet ganz eilig,
ganz eilig sind später Reue und Buße vorbei.
Halt an, bleib doch steh’n.
Der du wie auf gefallenes Laub über Gesichter stampfst.
Und sie nicht ansiehst.
Halt an, bleib doch steh‘n,
- du hast Gott vergessen.
Und schreitest ja über dich selbst hinweg.
In der Liebe bleiben ist nicht Stillstand. Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen Bleiben und Weiterkommen. Wachsen kann ich nicht getrennt von der Wurzel. Es gibt auch Dürrezeiten des Wachstums und es gibt Wachstumsschübe in unserem Leben. So wie der Weinstock im Winter ganz trocken scheint. Aber das nächste Frühjahr zeigt, wie alle die Triebe Frucht bringen, die verbunden bleiben.
In der Liebe bleiben, am Ort bleiben, Jesu Gebot halten, in Kontakt bleiben. „Bei dir, Jesu, will ich bleiben. Stets in deinem Dienste stehen, nichts soll mich von dir vertreiben, will auf deinen Wegen gehen. Du bist meines Lebens Leben, meiner Seele Trieb und Kraft, wie der Weinstock seinen Reben zuströmende Kraft und Lebenssaft.“
Amen