Befiehl du deine Wege…
Robert Leicht
Morgenandacht im NDR
(Aus: Morimur, The Hillard Ensemble, Christoph Poppen, Band 10)
„Den Tod niemand zwingen kunnt“ – immer wieder verfolgt uns in dieser Woche nach dem Totensonntag das bohrend eindringliche Zitat aus einem Osterlied, das Johann Sebastian Bach seiner Trauer-Chaconne auf den Tod seiner Frau Maria Barbara eingeflochten hat. Wir hörten das Zitat aus einer Aufnahme mit dem Hilliard Ensemble.
Dass den Tod niemand zwingen kann, wie man das im alten Deutsch sagte und im Süddeutschen noch heute sagen könnte, das klingt uns, jedenfalls ohne weiteres Nachdenken, fast banal. Gar nicht banal ist die fast noch viel schrecklichere Erfahrung, dass jemand das Leben nicht zwingen konnt’, nicht bewältigen und aushalten konnte – und deshalb in den Tod ging. Noch jedes Mal verstört es mich für viele Stunden, wenn ich in der Bahnhofsansage etwa Folgendes zu hören bekomme, in der verklausulierend-offenen Sprache des Dienstplans: „Wegen eines Personenschadens werden alle Züge in Richtung Hannover umgeleitet. Alle Züge verspäten sich um etwa zwei Stunden.“ Wieder einer, denkt man, der das Leben nicht zwingen konnte. Der Arme – der arme Lockführer.
Zu spät, zu diesem armen Menschen noch etwas zu sagen. Und über ihn etwas sagen? Wer wagte dies, gar noch mit einem so fürchterlichen Wort – wie: „Selbstmörder“? Wer wagte es da überhaupt noch, zu moralisieren? Aber wie hätten wir zu Menschen zu sprechen, wenn es zwar spät ist, aber nicht zu spät, noch nicht? Wir wissen es nicht – oder allenfalls: kaum.
Wir haben gelernt zu unterscheiden zwischen Märtyrern, die die Treue zu ihrem Schöpfer höher setzen als ihr zur tödlichen Lüge gezwungenes Leben, und jenen Terroristen, jenen angeblich religiös gestimmten Terroristen, die ihrem Leben (und ihrem Schöpfer zugleich) untreu werden aus fanatischer Selbstherrlichkeit; die also von sich glauben, sie selber seien Herr über Leben und Tod, über sich und andere. Der Märtyrer will Glauben behalten, der Terrorist Leben zerstören (und sei’s drum, dass er selber das eigene verliere).
Und was hätten wir jenen zu sagen, die den Glauben an das Leben verloren haben. Wenig, vielleicht viel zu wenig. Aber vielleicht doch dieses, in aller vorsichtigen Frage und Hoffnung: Wenn der Satz seine Wahrheit hat: „Also wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“, wenn also nicht wir selber die wirkliche und letzte Entscheidung zu tragen haben, dann ist auch unsere Aussichtslosigkeit nicht die wirkliche und letzte Antwort, dann ist die Wende, ist der Weg nicht beschränkt, in Wirklichkeit nicht beschlossen, verschlossen und ausgeschlossen in unserer Trauer und Trostlosigkeit – auch nicht in jener unendlichen Trauer (aber eben nicht un-endlichen Trostlosigkeit!) in der Johann Sebastian Bach beim Niederschreiben seiner Chaconne nun diesen Choral im Ohr und im Sinn hatte:
(2743)
Befiehl Du Deine Wege und was dein Herze kränkt
Der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,
Der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.
(Aus: Morimur, The Hillard Ensemble, Christoph Poppen, Band 14)