Schlusswort bei der Gedenkveranstaltung für Bischof D. Hermann Kunst
Wolfgang Huber
Berlin
Meine Aufgabe ist es, für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, aber, wie ich glaube, zugleich für alle Anwesenden Präses Jürgen Schmude herzlich dafür zu danken, dass er uns auf so eindrückliche und eindringliche Weise ein Lebensbild von Hermann Kunst gezeichnet hat. Präses Schmude hatte ja ursprünglich diese Dankesworte übernommen. Nun ist daraus der Hauptvortrag geworden; und wir haben allen Grund zum Dank dafür, dass es sich so entwickelt hat. Dieser Vortrag wird noch lange in uns nachklingen.
Ebenso danke ich Prälat Stephan Reimers dafür, dass er uns hierher eingeladen und dem Begründer des Amtes, das er heute wahrnimmt, eine so würdige Gedenkfeier ausgerichtet hat. Die Familie Kunst stammt aus Berlin. Dieser stadt talt in vielen Hinsichten Hermann Kunsts besonderes Interesse. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür - der Berliner Dom - ist uns vorhin vor Augen gestellt worden. So ist es gut, dass wir uns hier an ihn erinnern; darüber, dass wir es tun, freue ich mich auch als Berliner Bischof.
Ich habe in der derzeit viel diskutierten Deutschen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte von Heinrich August Winkler nach dem Namen von Hermann Kunst gesucht. Leider erfolglos. Ich finde, dem von mir sehr geschätzten Historiker Winkler ist damit in seinem Werk über den "langen Weg nach Westen" ein Fehler unterlaufen. Hermann Kunst gehört nicht nur in die Kirchengeschichte, sondern auch in die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts hinein. Als Christ und Kirchenmann hat er seinen Beitrag zum "langen Weg nach Westen" geleistet. Durch Ihre Anwesenheit am heutigen Tag bestätigen Sie, dass Sie das ähnlich sehen. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich.
Darf ich diesen Dank mit einer kleinen persönlichen Erinnerung verbinden? Wer wie ich im Jahr 1968 sechsundzwanzig Jahre alt wurde, konnte kaum anders, als auf Hermann Kunst mit kritischer Distanz zu blicken: mit der kritischen Distanz der Jugend, mit der damals verbreiteten Kritik an Institutionen und Establishment, beflügelt von dem Versuch, sich aus dem Geist der Adenauerära freizuschwimmen. Zu den Kühnheiten meiner Jugend gehörte, dass ich herauszufinden versuchte, wann und wie Hermann Kunst den Bischofstitel erlangt hatte. Dieser Kühnheit fügte der "Spiegel" noch die Frechheit hinzu, aus meinem dicken Buch über "Kirche und Öffentlichkeit" genau diese Passage einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren.
Unmittelbar nachdem das geschehen war, begegnete ich Ende 1973 Hermann Kunst zum ersten Mal persönlich. Als frisch gebackenes, noch immer jugendliches Mitglied der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung trat ich zum ersten Mal durch die bronzene Tür in der Bonner Löwenburgstraße, wie sie damals noch hieß, und betrachtete dabei das von Hermann Kunst für diese Tür ausgewählte Jesuswort "Ich lebe und ihr sollt auch leben" - eine Textauswahl, zu der ich mir meine eigenen Gedanken machte. In der Mittagspause gab ich ihm zum ersten Mal die Hand. "Bruder Huber", sagte er, "habe ich Ihnen schon einmal meinen Kandinsky gezeigt?" Für eine erste Begegnung waren das merkwürdige Worte. Mit ihnen führte Hermann Kunst mich um die Ecke und zeigte mir das kleine, vermutlich kostbare Kandinsky-Bild, das dort hing. Nachdem er es mir erklärt hatte, fügte er hinzu: "Der Gedanke, ich hätte mich nach dem Bischofstitel gedrängt, dieser Gedanke ist wirklich ganz abwegig."
Auf beides war ich unvorbereitet: auf die Unmittelbarkeit seines Kommentars ebenso wie auf die Weite seines Horizonts. Ein frommer Grandseigneur war mir entgegengetreten, um den eine ganz andere Luft wehte, als ich sie bis dahin in manch anderen kirchlichen Kreisen zu spüren meinte. Derselbe Mann, so lernte ich dann im Lauf der Zeit, der sich moderner Kunst zuwandte - Chagall, A. Paul Weber und eben Kandinsky, zum Beispiel - förderte die neutestamentliche Textforschung, betrieb ein weitsichtiges ökumenisches Projekt und gab entscheidende Impulse für eine zeitgemäße Friedensforschung und Friedensethik. Derselbe Mann, der ein gefragter Seelsorger und Berater seiner Zeitgenossen war, studierte, wie Martin Luther sich als politischer Berater verhalten hatte, und schrieb darüber Bücher. Derselbe Mann, der für die Präsenz des Christlichen in der Politik stritt, konnte sich - ähnlich wie Gustav Heinemann - darüber empören, wenn einem Sozialdemokraten, der aus Tradition und Überzeugung keiner Kirche angehörte, deshalb die Eignung für ein hohes politisches Amt abgesprochen wurde.
Der hohe Respekt, den Hermann Kunst auf allen Seiten genoss, ist nicht erst ein Resultat des verklärenden Rückblicks. Auch meine persönliche Bewunderung für ihn ist nicht erst im verklärenden Rückblick entstanden. Man konnte das in der Zeit, in der er noch im Amt war, ebenso spüren wie in den langen Jahrzehnten, die ihm danach noch beschieden waren.
Zu den Höhepunkten während der Sitzungen der Kammer für öffentliche Verantwortung - und im damaligen Rat der EKD war es, wie ich weiß, genauso - gehörten Hermann Kunsts Berichte zur Lage. Auf DIN A 5 Blättern sorgfältig vorbereitet, stießen sie immer auf ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie müssen eine Quelle zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von unschätzbarem Wert sein. Zu meinen Kühnheiten gehörte auch, dass ich Hermann Kunst einmal fragte, ob diese Lageberichte nicht eines späteren Tages veröffentlicht werden müssten. Er schien nicht abgeneigt zu sein.
So gibt uns das Erbe Hermann Kunsts mancherlei zu tun. Historische Quelleneditionen sind dabei nicht das Wichtigste; aber sie gehören dazu. Wichtiger freilich ist, dass wir auf unsere Weise versuchen, die Verwurzelung im Glauben und die Weite des Horizonts so zu verbinden, wie er es tat. Wichtiger ist, dass wir für unsere Zeit das Evangelium laufen lassen. Wir ehren das Gedächtnis von Hermann Kunst dann am meisten, wenn wir uns dazu ermutigen lassen.
Der erstaunliche Wochenspruch für diese Woche gilt ja nicht nur für das reiche Leben von Hermann Kunst; dieses erstaunliche Wort des Apostels Paulus gilt auch für uns: "Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade; siehe, jetzt ist der Tag des heils." Das ist der Grund für die ermutigung, die wir aus der Erinnerung an Hermann Kunst ziehen können.
Dafür, dass sie uns diese Ermutigung weitergegeben haben, danke ich den Rednern dieses Tages. Vor allem aber danke ich Ihnen allen dafür, dass Sie gekommen sind. Ja, das Evangelium muss laufen. Haben Sie herzlichen Dank.