Soli deo gloria - Johann Sebastian Bach als evangelischer Christ
Manfred Kock
Berlin, Jahresempfang des Rates der EKD im Französischen Dom
In diesem besonderen Bach-Gedenkjahr ist schon so viel geschrieben und gesagt worden. Neues werde ich Ihnen da schwerlich bieten können. Aber bei diesem Jahresempfang einige würdigende Gedanken über den Thomaskantor zu sagen - das werden Sie wohl erlauben. Die Evangelische Kirche verdankt ihm so unendlich viel. Während heute der Glaube mit Worten bisweilen nur schwer zu vermitteln ist, drängen die Menschen in Scharen zu den Aufführungen Bach'scher Musik.
Da dringt diese Musik mit ihrem Gotteslob in ihre Herzen und läßt sie ahnen, wie die engen Grenzen unseres Ver-standes überschritten werden hin zur Gottes- und Selbsterkenntnis, die tröstet und zum Leben ermutigt. Johann Sebastian Bachs Lebenswerk ist nicht nur uns Evangelischen ein bleibendes Geschenk Gottes. Er ist längst ökumenisch geschätzt, und seine Musik gibt Impulse in die ganze Christenheit hinein. Dennoch: es ist der Geist lutherischer Frömmigkeit, ohne die Bach nicht Bach geworden wäre.
So danken wir in diesem Gedenkjahr besonders für das Glaubenszeugnis dieses Mannes. Der Dank gilt Gott, der Johann Sebastian Bach mit so großen Gaben ausgestattet hat, die er in seinem musikalischen Schaffen entfalten konnte: "ad majorem gloriam deo" (zur höheren Ehre Gottes) - so hat Bach sich selbst und seine Musik verstanden. Heute abend möchte ich Sie darum einladen, Johann Sebastian Bach im Blick auf seinen Glauben zu betrachten. Ich greife dabei gerne auf Gewährsleute zurück, die mit ihrer Einschätzung mir selber hilfreich waren, und ich will dabei auf eine Prise Humor nicht verzichten. Denn nicht nur aus der "Kaffeekantate" mit ihrer augenzwinkernden Klage über "hunderttausend Hudelei'n", mit denen modebewußte Kinder ihre Eltern plagen, auch aus vielen anderen Kompositionen klingen Bachs Humor und seine Lebensart heraus. Wer war dieser Johann Sebastian Bach als evangelischer Christ? Welche Bedeutung hatte sein Glaube für sein Leben und für sein künstlerisches Schaffen? Was steckt hinter der Formel "soli deo gloria", die er am Ende vieler seiner Kompositionen mit den drei Buchstaben "s-d-g" vermerkt?
Bach war ein Virtuose, der - wie Zeitgenossen berichten - mit Händen und Füßen unglaublich schnell spielen konnte, der fröhliche Musik machte, der mit seinen Werken aber auch tiefe Empfindung von Trauer und Erschütterung auslösen, mit seinen Kompositionen aufwühlen und trösten konnte - und all dies bis heute kann. Verglichen mit Mozart halten die meisten Menschen Bach für streng und ernst. In Wirklichkeit war er aber ein durchaus barocker Mensch, voll Lebenslust und leiblichen Genüssen nicht abgeneigt.
Anhand eines Bewirtungskosten-Belegs vom 28. April 1716 hat der frühere Thomaskantor Karl Straube einmal nachgewiesen, was Bach und seine beiden Helfer anläßlich der Begutachtung der Orgel in der Marktkirche zu Halle als Leibesstärkung zu sich genommen haben:
"1 Stück Bœuf à la mode, Hechte, 1 geräucherter Schinken, 1 Assiette mit Erbsen, 2 Assietten mit Spinat und Saucischen, 1 gebratenes Schöpsen-Viertel, Gesottener Kürbis, Warmer Spargelsalat, Kopfsalat, Radieschen, Frische Butter, Kälberbraten, Spritzkuchen, Eingemachte Zitronenschale, Eingemachte Kirschen", dazu wurden 44 Kannen Rheinwein und 4 Kannen Frankenwein getrunken.
Der Meister war so erschöpft von dieser Leistung, daß seine zitternde Hand einen dicken Klecks machte, als er den Empfang der Leckereien quittierte. Diese barocke Fülle steht in scheinbarem Kontrast zu einem Glauben, wie er in einem Text aus der Kantate "Ärgere dich, o Seele, nicht" (BWV 54) zu Wort kommt:
Ach, daß ein Christ so sehr / Vor seinen Körper sorgt! / Was ist er mehr? / Ein Bau von Erden, / Der wieder muß zur Erde werden, / Ein Kleid, so nur geborgt. / ... Darum, wenn der Kummer gleich das Herze nagt und frißt, / So schmeckt und sehet doch, wie freundlich Jesus ist!
Solche Texte spiegeln die andere Seite des barocken Lebensgefühls: die Nähe zu Sterblichkeit und Tod und damit verbunden der Blick für das, was wirklich zum Leben führt.
Das diesseitige Leben ist Prüfungsweg für das zukünftige, - das steht häufig im Zentrum der von Bach vertonten Texte. Der Gedanke an Sterblichkeit und Tod und die damit zusammenhängende Unterscheidung von Vergänglichem und Ewigem erklärt nicht nur die Auswahl der Texte für Bachs Kantaten und Passionen, sondern sie waren darüber hinaus auch der Antrieb für seinen großen Schaffensdrang.
In Verbindung mit Bachs Vertonung erhalten auch viele der uns heute etwas schwülstig erscheinenden Texte einen so tiefen Sinn und Wahrheitsgehalt, daß sich kaum ein Hörer deren Wirkung entziehen kann. Friedrich Nietzsche, der aus seinen Zweifeln und seiner offenen Feindschaft gegenüber dem Christentum später ja nie einen Hehl machte, gestand in einem Brief:
In dieser Woche habe ich dreimal die Matthäuspassion gehört, jedesmal mit demselben Gefühl der unermeßlichen Bewunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium. So erleben viele Bachs Musik. Die Bedeutung der Worte erschließt sich neu, die Unmittelbarkeit des musikalischen Erlebnisses vermittelt manchem Zuhörer mehr als eine gute Predigt.
Ein Künstler erzählte einmal, er sei in Tokyo vor der Aufführung der Matthäus-Passion von einem Japaner gefragt worden, ob es notwendig sei, die Botschaft des Evangelisten Matthäus zu glauben, um das Werk der Matthäus-Passion von Bach zu begreifen. Es ist schön, daß solche Fragen gestellt werden. Sie zeugen davon, wie das Verständnis musikalischer Werke in der für sie angemessenen Dimension gesucht wird. Ein Japaner kann zu diesem Verständnis gewiß gelangen, auch ohne vorab als Christ an das Evangelium zu glauben. Zum Glück hat jener Künstler nicht die Formel gebraucht, die hierzulande bekannt geworden ist: "An Gott zweifeln, an Bach glauben." Eine bedauerliche Alternative, die weder Bach noch Gott gerecht wird.
Der Zweifel hat viel mit Glauben zu tun, Zweifel ist gleichsam ein Zwilling des Glaubens. Die Bibel selbst gibt darüber vielfache Auskunft. Und was heißt "Glauben an Bach"? Der Thomaskantor hätte diese Formel nicht nur sehr befremdlich gefunden, sondern rundweg abgelehnt. Wohl aber kommt es auf ein Verständnis dafür an, welche zentrale Bedeutung der Glaube für ihn selber hatte.
Manche nennen Bach den "Fünften Evangelisten". Das ist sicherlich nicht angemessen. Er ist musikalischer Deuter, der die Evangelien für seine Zeit und für uns heutigen mit den Mitteln seiner Kunst auslegt.
Dabei sind in seinem Werk Geistliches und Weltliches nicht strikt voneinander getrennt. Wer - wie Bach - seine Kompositionen mit der Bemerkung "soli deo gloria" signiert, will beim Wort genommen werden, will, daß solches Glaubensbekenntnis als Hinweis auf die Erlösung aus Schuld und Krankheit, Sünde und Tod ernst genommen und als Angebot der befreienden Gnade Gottes angenommen wird.
Manche, die nur den Musiker Bach haben wollen, finden, das sei überflüssiges Beiwerk. Doch sie kippen mit der christlichen Botschaft in Bachs Werk etwas über Bord, was ihm selber heilig war und was nach seinem Selbstverständnis als evangelischer Christ sein Werk bestimmt hat.
Ich erinnere mich an den Schrecken, der mich durchfuhr, als ein Musiklehrer uns die mathematische Zahlenmystik des Bach'schen Spätwerks entfaltete. Denn die aufgezeigten Gesetzmäßigkeiten dienten dem Lehrer als Beweis dafür, daß Bach als Komponist in erster Linie Konstrukteur, nicht aber Verkündiger gewesen sei. Sein Beruf als Kirchenmusiker habe nur dem Broterwerb gedient. Von meiner Erschütterung erholt habe ich mich erst, als mir deutlich wurde, welche Weltsicht in solcher Zahlensymbolik zum Ausdruck kommt. Die faszinierenden Strukturen, die Bezüge von Zahlenwerten und musikalischer Absicht in Bachs Kompositionen sind geprägt von der Vorstellung göttlicher Harmonie, die die Welt durchzieht. Sie sind ein überwältigendes Bekenntnis zur göttlichen Schöpfung und zur liebevollen Ordnung, die in ihr waltet.
Auf andere Weise, in scheinbarem Gegensatz zum nur weltlichen Interesse an der Musik gibt es heute Menschen, die in ihrer eigenen kritischen Distanz zur Kirche mit der Vorstellung liebäugeln, Bachs Kantaten und Oratorien böten eine mildere, durch musikalische Aufbereitung leichter verdaulich zubereitete Version der biblischen Botschaft. Doch auch das ist unzutreffend. Bachs Frömmigkeit ist nicht geeignet für theologische Diät. Sie ist Vollwertkost.
Zugegeben: die religiöse Ausdruckskraft des Kantors Bach, die gewaltige "anredende" Wirkung seiner Musik hat nicht nur Menschen des 20. Jahrhunderts überraschen, verblüffen, verstören können - auch Zeitgenossen, ja selbst die Söhne Bachs wiegten schon damals bedenklich oder verständnislos das Haupt.
Meine Damen und Herren, Sie haben es gemerkt: Über Bachs Glaube läßt sich wohl auch streiten. Zweifellos war Bachs Absicht, alle Musik (also keineswegs nur die kirchliche) in den Dienst Gottes zu stellen, Gottes Ehre als "Finis und Endursache" der Musik zu begreifen, schon zu seiner Zeit umstritten und für viele eine Provokation. Für Bach selbst stand das nie in Frage, denn er lebte und arbeitete ganz selbstverständlich in der Anschauung, die in der Musik ein "donum dei", ein Geschenk Gottes sieht. Unmittelbar und selbstverständlich wirkt die Bach'sche Musik bis heute. Sie läßt die Barrieren, die es unter uns Menschen gibt nicht verschwinden. Sie erspart uns nicht die Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen, mit dem Recht und Unrecht von Grenzen. Aber Musik überwindet den Absolutheitsanspruch einer Grenze. Es ist wie eine Art Pfingstwunder: Bei der Musik hören die Ohren in allen Sprachen. Diesen Hinweis verdanke ich Richard von Weizsäcker und auch die Bemerkung, daß Musik - insbesondere die von Johann Sebastian Bach - die Menschen nicht in Prediger und Angepredigte aufteilt, sondern alle schöpferisch beteiligt.
Also hat Musik etwas "Demokratisches", denn sie ereignet sich nicht nur im Augenblick ihrer Komposition und in der Darbietung durch die Interpreten. Am musikalischen Geschehen sind auch die Hörenden beteiligt, die "mitgehen", wenn Musik in ihnen schwingt und Empfindungen auslöst.
Zum Beispiel konfrontiert Bach uns mit den Personen der Passionsgeschichte, so daß wir uns in ihnen wiedererkennen. Ihre Fassungslosigkeit, ihre Hilflosigkeit; ihre Abhängigkeit von und ihre Angst vor anderen Menschen; ihre Flucht in die Lüge; ihre hitzköpfige Unüberlegtheit; ihre voreiligen Vorsätze und nicht einzuhaltenden Versprechungen; ihre Sehnsucht nach Geborgenheit und Angenommenwerden; ihre Furcht vor Schmerzen, ihre Angst vor dem Tod - all dies gehört auch zu unserem Leben. Die Bach'sche Passion lebt, weil ihre Musik Fragen, Konflikte und Ängste so lebendig schildert, daß wir uns nicht entziehen können, auch wenn sie von Dingen spricht, die wir nicht wahrhaben wollen und daher verdrängen.
Um Gottes Wort, um die Botschaft von Jesus Christus, ist es dem gläubigen Lutheraner Bach vor allem andern gegangen. Dieses Wort wollte er unter die Menschen bringen, es in die Herzen hineinsingen und -spielen.
Gottlob, wir wissen den rechten Weg zur Seligkeit. Denn, Jesu, du hast ihn uns durch dein Wort gewiesen, Drum bleibt dein Name jederzeit gepriesen. (Kantate 79)
Da, wo es um Christi Wort geht und nirgends anders, schlägt Bachs Herz. Ein Bachjahr feiern sollte darum für uns nicht nur ein musikalisches Ereignis sein, sondern - in Bachs Sinne - der Versuch, dem Wort Christi unter uns Raum zu verschaffen, damit wir es zwischen den vielen Worten, die in der Politik, in den Medien, auch in der Kirche auf uns eindringen, heraushören, es von anderen Worten unterscheiden lernen. Johann Sebastian Bachs Musik führt zur Stille, sie dient, wie Bach es ausgedrückt hat, der "Recreation des Gemüths", der Erneuerung, sie macht für Gottes Wort empfänglich und stärkt den ganzen Menschen.
Ich bin darum sicher, wir verstoßen nun nicht gegen die Würde seines Andenkens, wenn wir nicht nur nach dem besseren Verständnis seiner Frömmigkeit streben, sondern - nach der nun folgenden Bach-Musik - auch der Bach'schen Leidenschaft guten Essens und Trinkens Geschmack abgewinnen.
Hannover/Berlin, 29.Juni 2000
Pressestelle der EKD