tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung
Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Prof. Dr. Dr. Karl Lehmann, beim evangelisch-katholischen Bildungskongress in Berlin
Seit einigen Jahren wird mit zunehmender Intensität von Parteien, Gewerkschaften, der Bertelsmann-Stiftung, zuletzt auch auf staatlicher Ebene im "Forum Bildung" eine Bildungsdebatte geführt, die nicht nur eine Modeerscheinung ist. Bildungsdebatten unterliegen offenbar gewissen Konjunkturen, nachdem die öffentliche Diskussion in den achtziger Jahren fast völlig verstummt war, gibt es seit Mitte der neunziger Jahre eine Renaissance.
Es gibt objektive Gründe für diese Debatte. Die Arbeitswelt wandelt sich rapide, die Warenumlaufzeiten werden immer kürzer, die Globalisierung sorgt u. a. für eine strukturelle Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft meldet einen kurzfristigen Bedarf an hochqualifizierten Computerspezialisten an, den das Ausbildungssystem hierzulande offenbar nicht befriedigen kann. So liegt die Frage auf der Hand: Stimmen Strukturen und Inhalte unseres Ausbildungssystems noch oder muss es nicht an die gewandelten Bedürfnisse einer viel zitierten "Neuen Weltwirtschaft" angepasst werden?
Es gibt ein Bonmot, das heißt: "Die Wirtschaft ist nicht alles - aber ohne Wirtschaft ist alles nichts". Diese Behauptung muss man gar nicht bestreiten, aber mir liegt doch daran, den Akzent auf den ersten Teil dieses Satzes zu setzen: "Die Wirtschaft ist nicht alles!" In dieser Situation möchte ich unser Pensum so formulieren: Wie können unsere Schulen und Hochschulen sich auf die neue Situation einstellen, ohne dass es zu einer ökonomistischen Engführung kommt? Es wäre fatal, wenn es zum Beispiel zu einem Verdrängungskampf zwischen den sogenannten harten und weichen Fächern in der Schule käme.
Für den heutigen Kongress haben sich nun die Bildungsexperten der evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz mit Fachleuten, Theologen, Soziologen und Philosophen zusammengesetzt mit dem Ziel, aus genuin christlicher und kirchlicher Sicht ein Votum zur Bildungsdebatte abzugeben. Ich darf es auch als positives Zeichen werten, dass die ökumenische Zusammenarbeit ausgezeichnet gelungen ist. Jedenfalls sehe ich derzeit keine gravierenden Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Christen in der grundlegenden Einschätzung unserer Bildungssituation. So ist dieser gemeinsame Bildungskongress auch ein gutes ökumenisches Signal, das belegt, dass auch in den Zeiten, in denen der ökumenische Dialog auch einmal heikle Fragen berührt, eine Zusammenarbeit in wichtigen Fragen möglich ist.
Die "Zehn Thesen", die heute der Öffentlichkeit übergeben worden sind, gehen von der Tatsache aus, dass wir in einem "Zeitalter der Beschleunigung" leben. Dies signalisiert schon das Motto des heutigen Tages: "Tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung". Thesen sind notwendigerweise Verkürzungen und Anreiz zur Diskussion. Man wird sehen, ob die Behauptungen, die dort aufgestellt sind, Bestand haben können oder nicht. Jedenfalls stellen sie sich der großen Herausforderung unserer Tage, der Etablierung der neuen Kommunikationstechnologien, Computer, Internet und alles, was damit zusammenhängt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese neuen Medien auf eine Art Kulturrevolution hinauslaufen. Wenn wir im Rückblick erkennen, was seinerzeit die Erfindung Gutenbergs für die Kultur und die Gesellschaft bedeutet hat, spricht jedenfalls manches dafür.
In den Thesen ist von einem neuartigen Totalitarismus die Rede. Den Begriff "Totalitarismus" haben wir bisher für diktatorische Systeme - das NS-System oder den Stalinismus - mit dem Führungsanspruch einer Partei benutzt, die sich als "historisches Subjekt" der Weltgeschichte betrachtete. Der Totalitarismus, von dem Leo J. O'Donovan und die "Zehn Thesen" sprechen, meint etwas anderes. Er meint das Überspringen des marktförmigen und funktionalistischen Denkens auf Lebensbereiche, die früher frei davon waren. Wir alle haben erlebt, wie der Sport, die Freizeit, die Unterhaltung, das Fernsehen und der Kunstbetrieb kommerzialisiert wurden. In der Tat gibt es wohl die Tendenz, dass das marktförmige Denken in den Kategorien des Warentauschs fast flächendeckend das ganze Leben überzieht. Wer das so beobachtet, dem drängt sich wie von selbst die Frage auf: Muss das so sein? Gibt es noch ein Außerhalb gegenüber diesem marktförmigen Funktionalismus?
Ich könnte mir vorstellen, dass der in den Thesen erhobene Anspruch, dass unsere Tradition des Alten und Neuen Testaments die passgenaue Antwort auf diese Fragestellung anbietet, als sehr steil empfunden wird. Vielleicht gibt es daneben auch noch andere geistige Quellen - darüber wird zu diskutieren sein. Soviel kann man aber durchaus sagen: Unser Gottesverständnis wirkt tatsächlich gegen alle Absolutheitsansprüche endlicher Instanzen, alte und neue.
Dies wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass die jüdische Aufklärung des Alten Testaments, die Kritik der Propheten und Führer Israels an den polytheistischen Gottheiten genau den Punkt trifft, um den es auch bei den Totalitarismen neuer Art geht, nämlich den Mechanismus von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung oder mit dem hier verwendeten Begriff, dem Funktionalismus. Die Gottheiten des Polytheismus sind in der Tat immer funktionale Gottheiten gewesen. Sie waren immer Verlängerung menschlicher Interessen und Bedürfnisse und erlaubten eine Art Wechselwirtschaft zwischen Menschen und Göttern, die durch Opfergaben, Rituale und anderes praktiziert wurde.
Der Gott Israels dagegen übersteigt jeden Funktionalismus. Mit Berufung auf diesen andersartigen Gott weigern sich später die Christen, den römischen Kaiser als Gott zu verehren. Dieser Monotheismus widersetzt sich auch allen Ideologien der totalen Erklärbarkeit und Machbarkeit. Alles menschliche Denken steht unter dem Vorbehalt, dass die letzten Dinge nicht den Menschen, sondern allein Gott gehören. Auch dem Totalitätsanspruch des ökonomischen Funktionalismus bleibt das Letzte entzogen. Dieser Vorbehalt begründet nach unserer Überzeugung die Freiheit des Menschen, denn nur mit Bezug auf ein Außerhalb kann sich der Mensch aus den Zwängen der ökonomisch-technischen Evolution befreien und Distanz gewinnen.
In diesem Sommer haben wir mit Interesse die Prognosen und Spekulationen philosophierender Computerexperten aus den USA zur Kenntnis genommen, zum guten Teil in der FAZ abgedruckt. Hier spürt man die Aktualität dieses neuen Totalitarismus, in dem freilich illusorischen Versprechen, uns von der dunklen Seite der Freiheit, von den oft quälenden Fragen der richtigen Entscheidung in hochkomplexen Bereichen wie etwa der Gentechnologie, der Nanotechnologie und erst recht vom Nachdenken über Sünde und Schuld zu befreien. Die Freiheit des Menschen bleibt in diesen spekulativen Prognosen auf der Strecke.
Die Thesen haben das Sabbatgebot als Zeichen der Unterbrechung herausgegriffen und versucht, an diesem Beispiel zu zeigen, wie eine Unterbrechung sich auswirkt, die zunächst einmal die Arbeit und - wie Leo J. O'Donovan sagt - den Nutzenkalkül suspendiert.
Eine besondere Pointe der Thesen sehe ich in dem sogenannten "Sabbatparadox". Unsere Erfahrung lehrt es seit über 2.000 Jahren, dass der Sabbat und der Sonntag, der eng mit ihm zusammenhängt, außerordentlich nützlich sind. Das sieht man freilich nur auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sieht es eher so aus, als müsse an der nutzbaren Zeit der Anteil eines Tages abgezogen werden, so dass der Nutzen in der Bilanz entsprechend niedriger ausfiele. In Wirklichkeit ist es aber ganz anders. Der Sonntag - im Alten Testament der Sabbat - ist nämlich in Wirklichkeit höchst nützlich. Leo J. O'Donovan hat ja an die These erinnert, dass es kein Zufall ist, dass in der Hemisphäre, in der es diese Einrichtung einer festen Unterbrechung des Arbeitstaktes gibt, die wissenschaftliche, technische aber auch technologische und zivilisatorische Fortschrittsentwicklung eingesetzt hat wie nirgendwo sonst. Dies lässt sich für viele Bereiche nachweisen.
Hier kann man sehen, dass die Thesen, wie überhaupt das Votum der beiden Kirchen, nicht in die antimoderne Ecke gestellt werden können. Es wäre auch zynisch, die Segnungen des zivilisatorischen Fortschritts gleichzeitig zu genießen und zu verdammen. Die Pointe des Sabbatparadoxes bedeutet: Der Sabbat ist nützlich oder besser, wie Leo J. O'Donovan mit Thomas Mann sagt "übernützlich". Nur ein kurzfristig kalkulierender Ökonom wird den Sonntag streichen oder gering einschätzen. Das ist auch ein neues Argument in unserer anderen Debatte, in der es um den Schutz des Sonntags als öffentliche und grundsätzlich für alle geltende Unterbrechung des Arbeitstaktes geht. Der Sonntag ist "übernützlich" und nützlich, er nützt langfristig gesehen auch der Wirtschaft. Hier sehen wir, wie der Hintergrundaspekt der Zeit, wie er ja auch im Motto des Kongresses "Tempi" angesprochen ist, bedeutsam wird. Die verschiedenen Geschwindigkeiten, die Zeit der Arbeit, die Zeit, in der auch einmal Tempo gemacht wird, die Zeit der Ruhe, der Reflexion als Quelle von guten Ideen und Innovationen, all das hat seinen Platz im Leben.
Wie wirken sich solche Gedanken nun auf unser Bildungssystem und die anstehende Reform aus? Hier muss zunächst einmal festgestellt werden, dass die allgemeine Bildungsdebatte eine gute Sache ist. Sie sorgt dafür, dass in der Öffentlichkeit und in den Parteien, auch bei den Landesregierungen und der Bundesregierung das Bewusstsein dafür wächst, dass hier viel mehr Aufmerksamkeit nötig ist und mehr Mittel für diesen Sektor bereitgestellt werden müssen. In den letzten Jahren hat es einen verstärkten Spardruck auf die Schulen gegeben, den Lehrern ist vieles zugemutet worden. Sie sind als Faulpelze bezeichnet worden, ihre Unterrichtsverpflichtung ist da und dort drastisch erhöht worden, die Klassenfrequenzen sind stark gestiegen. All das sind die Folgen bekannter Sparzwänge des Staates. Immerhin kam es verschiedentlich zu Neueinstellungen von jungen Lehrern. Es ist zu hoffen, dass die Rahmenbedingungen für die Schulen nun doch wieder besser werden.
In den letzten Jahren ist sehr viel von Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, von Corporate identity und Budgetierung die Rede gewesen. Schon an den Vokabeln merkt man, dass hier Organisationsprinzipien der Wirtschaft auf die Schulen angewandt werden. Das muss nicht von vornherein ein Nachteil sein. Es ist wahrscheinlich eine sehr gute Idee, den Schulen mehr Eigenverantwortung zu geben, sie zu der pädagogischen Anstrengung anzuhalten und ein eigenes Schulprogramm zu entwickeln. An dieser Stelle von einer "Industrialisierung der Bildungsinstitutionen" zu sprechen, wäre eine falsche Akzentsetzung. Warum sollen Erfahrungen, die in der Wirtschaft gemacht werden, nicht für die Welt der Beamten, die von kameralistischem Denken traditionell bestimmt wird, von Nutzen sein? Nichts gegen frischen Wind also, nichts gegen sinnvolle Reformen.
Von einer verhängnisvollen Industrialisierung des Bildungswesens müsste man allerdings sprechen, wenn nur noch Inhalte zugelassen würden, die sich gegenüber den Verwertungsinteressen des Beschäftigungssystems ausweisen können. Auch bei der Qualitätssicherung muss man vorsichtig sein. Es darf nicht dahin kommen, dass wir zwei Klassen von Fächern haben, solche, die gut evaluierbar sind wie Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften und andere, die schon von ihrem Gegenstand her sich nur schwer evaluieren lassen. Es muss auch Lernziele geben, die nicht unmittelbar gemessen und gewogen werden können. Es wäre zum Beispiel fatal, wenn der Religionsunterricht, der zu den Voraussetzungen für eine Glaubensentscheidung in Freiheit beitragen will, nun anfangen wollte zu messen, wer glaubt und wer nicht glaubt. Natürlich spielt auch im Religionsunterricht das überprüfbare Wissen eine gewichtige Rolle.
Die christliche Religion, der Gegenstand unseres Religionsunterrichts, von dem eine bemerkenswerte Untersuchung von Anton Bucher gerade gezeigt hat, dass er viel besser akzeptiert ist als man gemeinhin annimmt, ist einfach etwas anderes als der Gegenstand des Physikunterrichts. Den Religionsunterricht aber deshalb als "Plauderstunde" oder als Fach zweiter Klasse zu disqualifizieren, nur weil seine Kriterien der Qualitätssicherung weniger griffig sind, wäre abwegig.
Aus den grundsätzlichen Überlegungen, der gesellschaftlichen Analyse und der genuin jüdisch-christlichen Antwort, die das "Sabbatparadox" darstellt, folgern nun die Thesen, dass es in unseren Bildungsinstitutionen Inhalte geben muss, die eine elementare Ähnlichkeit mit dem Sabbat haben: Zu ihnen gehören die musischen Fächer - der Sabbat ist ein Feiertag, der Tag von Singen und Spielen. Zum Sabbat gehören Literatur und Kunst - kurz alles das, was dem Leben dient und das Leben wertvoll macht, aber nicht verzweckt werden kann.
Wir müssen dem Begriff "Wissensgesellschaft" einen neuen, vollständigeren Inhalt geben. Ich glaube, dass ein gesellschaftlicher Konsens darüber möglich ist, dass das Wissen, das die Schulen und Hochschulen vermitteln sollen, mehr umgreifen muss als das, was unmittelbar ökonomisch nützlich ist. Der Philosoph Willi Oelmüller hat vor vielen Jahren den Begriff "Orientierungswissen" geprägt, den ich in letzter Zeit öfter höre. Viele Menschen sehen ein, dass es in einer unübersichtlichen Zeit darauf ankommt, Ziele, Werte und Leitlinien zu haben. Auch Bundestagspräsident Thierse hat jüngst erst wieder betont: Die grellen Ausbrüche rechtsextremer Gewalt sind auch auf die Abwesenheit wirklicher Ziele und Werte zurückzuführen. Die systematische Austrocknung des religiösen Erbes in der ehemaligen DDR zeigt hier späte und böse Folgen. Viele Menschen, die sich gelegentlich über die Kirche aufregen, spüren doch so etwas wie Phantomschmerzen. Offenbar fehlt dort etwas, wo die christliche Tradition an den Rand gedrängt worden ist.
Wenn es stimmt, was das Motto dieses Tages behauptet, dass wir nämlich in einem "Zeitalter der Beschleunigung" leben, dann scheint mir auch die Folgerung plausibel, dem besondere Aufmerksamkeit zu schenken, was bleibt. Wenn sich so vieles so rasch ändert, wird das um so wertvoller, was uns Halt gibt, Richtung und Orientierung. Man kann das einen therapeutischen Konservatismus nennen. Zunächst erscheint es einfach nur als die intelligente Antwort auf die Phänomene der Beschleunigung. Jedenfalls glaube ich, dass Leo J. O'Donovan und die Thesen Zustimmung verdienen, wenn sie vor einem blinden Beschleunigungskonformismus warnen (vgl. dazu auch K. Lehmann, Hat das Christentum Zukunft? Mainz 2000; ders., Es ist Zeit, an Gott zu denken, Freiburg, 2000).
Nach der TIMSS-Studie, die gezeigt hat, dass die Leistungen deutscher Schüler in Mathematik im internationalen Vergleich eher schwach sind, hat sich im Bildungssektor bis hin in Regierungskreise die Stimmung ausgebreitet: Jetzt müssen wir Tempo machen, die "Humanressource" Wissen nutzen, um wieder zur Weltspitze aufzuschließen. In der Tat kann es in Engpass-Situationen einmal richtig sein, voll zu beschleunigen, aber wenn es nun zur Forderung nach immer mehr Leistung in immer kürzerer Zeit kommt, wird das Ergebnis schlechter sein, als wenn man den Rat von Leo J. O'Donovan folgt: Schafft Sabbatinhalte, Sabbaträume, Sabbatzeiten in unseren Bildungsinstitutionen, dann tut Ihr das komplementär Richtige, auch zum Nutzen der Ökonomie, vor allem aber zum Wohl der Menschen, denn das oberste Ziel, auch hier stimme ich mit Leo J. O'Donovan, dem Präsidenten der Georgetown-Universität in Washington voll überein, ist nicht die Nützlichkeit, sondern das gute - und als Bischof darf ich es am Ende auch einmal fromm sagen - das ewige Leben.
Es gibt objektive Gründe für diese Debatte. Die Arbeitswelt wandelt sich rapide, die Warenumlaufzeiten werden immer kürzer, die Globalisierung sorgt u. a. für eine strukturelle Arbeitslosigkeit, die Wirtschaft meldet einen kurzfristigen Bedarf an hochqualifizierten Computerspezialisten an, den das Ausbildungssystem hierzulande offenbar nicht befriedigen kann. So liegt die Frage auf der Hand: Stimmen Strukturen und Inhalte unseres Ausbildungssystems noch oder muss es nicht an die gewandelten Bedürfnisse einer viel zitierten "Neuen Weltwirtschaft" angepasst werden?
Es gibt ein Bonmot, das heißt: "Die Wirtschaft ist nicht alles - aber ohne Wirtschaft ist alles nichts". Diese Behauptung muss man gar nicht bestreiten, aber mir liegt doch daran, den Akzent auf den ersten Teil dieses Satzes zu setzen: "Die Wirtschaft ist nicht alles!" In dieser Situation möchte ich unser Pensum so formulieren: Wie können unsere Schulen und Hochschulen sich auf die neue Situation einstellen, ohne dass es zu einer ökonomistischen Engführung kommt? Es wäre fatal, wenn es zum Beispiel zu einem Verdrängungskampf zwischen den sogenannten harten und weichen Fächern in der Schule käme.
Für den heutigen Kongress haben sich nun die Bildungsexperten der evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz mit Fachleuten, Theologen, Soziologen und Philosophen zusammengesetzt mit dem Ziel, aus genuin christlicher und kirchlicher Sicht ein Votum zur Bildungsdebatte abzugeben. Ich darf es auch als positives Zeichen werten, dass die ökumenische Zusammenarbeit ausgezeichnet gelungen ist. Jedenfalls sehe ich derzeit keine gravierenden Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Christen in der grundlegenden Einschätzung unserer Bildungssituation. So ist dieser gemeinsame Bildungskongress auch ein gutes ökumenisches Signal, das belegt, dass auch in den Zeiten, in denen der ökumenische Dialog auch einmal heikle Fragen berührt, eine Zusammenarbeit in wichtigen Fragen möglich ist.
Die "Zehn Thesen", die heute der Öffentlichkeit übergeben worden sind, gehen von der Tatsache aus, dass wir in einem "Zeitalter der Beschleunigung" leben. Dies signalisiert schon das Motto des heutigen Tages: "Tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung". Thesen sind notwendigerweise Verkürzungen und Anreiz zur Diskussion. Man wird sehen, ob die Behauptungen, die dort aufgestellt sind, Bestand haben können oder nicht. Jedenfalls stellen sie sich der großen Herausforderung unserer Tage, der Etablierung der neuen Kommunikationstechnologien, Computer, Internet und alles, was damit zusammenhängt. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese neuen Medien auf eine Art Kulturrevolution hinauslaufen. Wenn wir im Rückblick erkennen, was seinerzeit die Erfindung Gutenbergs für die Kultur und die Gesellschaft bedeutet hat, spricht jedenfalls manches dafür.
In den Thesen ist von einem neuartigen Totalitarismus die Rede. Den Begriff "Totalitarismus" haben wir bisher für diktatorische Systeme - das NS-System oder den Stalinismus - mit dem Führungsanspruch einer Partei benutzt, die sich als "historisches Subjekt" der Weltgeschichte betrachtete. Der Totalitarismus, von dem Leo J. O'Donovan und die "Zehn Thesen" sprechen, meint etwas anderes. Er meint das Überspringen des marktförmigen und funktionalistischen Denkens auf Lebensbereiche, die früher frei davon waren. Wir alle haben erlebt, wie der Sport, die Freizeit, die Unterhaltung, das Fernsehen und der Kunstbetrieb kommerzialisiert wurden. In der Tat gibt es wohl die Tendenz, dass das marktförmige Denken in den Kategorien des Warentauschs fast flächendeckend das ganze Leben überzieht. Wer das so beobachtet, dem drängt sich wie von selbst die Frage auf: Muss das so sein? Gibt es noch ein Außerhalb gegenüber diesem marktförmigen Funktionalismus?
Ich könnte mir vorstellen, dass der in den Thesen erhobene Anspruch, dass unsere Tradition des Alten und Neuen Testaments die passgenaue Antwort auf diese Fragestellung anbietet, als sehr steil empfunden wird. Vielleicht gibt es daneben auch noch andere geistige Quellen - darüber wird zu diskutieren sein. Soviel kann man aber durchaus sagen: Unser Gottesverständnis wirkt tatsächlich gegen alle Absolutheitsansprüche endlicher Instanzen, alte und neue.
Dies wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass die jüdische Aufklärung des Alten Testaments, die Kritik der Propheten und Führer Israels an den polytheistischen Gottheiten genau den Punkt trifft, um den es auch bei den Totalitarismen neuer Art geht, nämlich den Mechanismus von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung oder mit dem hier verwendeten Begriff, dem Funktionalismus. Die Gottheiten des Polytheismus sind in der Tat immer funktionale Gottheiten gewesen. Sie waren immer Verlängerung menschlicher Interessen und Bedürfnisse und erlaubten eine Art Wechselwirtschaft zwischen Menschen und Göttern, die durch Opfergaben, Rituale und anderes praktiziert wurde.
Der Gott Israels dagegen übersteigt jeden Funktionalismus. Mit Berufung auf diesen andersartigen Gott weigern sich später die Christen, den römischen Kaiser als Gott zu verehren. Dieser Monotheismus widersetzt sich auch allen Ideologien der totalen Erklärbarkeit und Machbarkeit. Alles menschliche Denken steht unter dem Vorbehalt, dass die letzten Dinge nicht den Menschen, sondern allein Gott gehören. Auch dem Totalitätsanspruch des ökonomischen Funktionalismus bleibt das Letzte entzogen. Dieser Vorbehalt begründet nach unserer Überzeugung die Freiheit des Menschen, denn nur mit Bezug auf ein Außerhalb kann sich der Mensch aus den Zwängen der ökonomisch-technischen Evolution befreien und Distanz gewinnen.
In diesem Sommer haben wir mit Interesse die Prognosen und Spekulationen philosophierender Computerexperten aus den USA zur Kenntnis genommen, zum guten Teil in der FAZ abgedruckt. Hier spürt man die Aktualität dieses neuen Totalitarismus, in dem freilich illusorischen Versprechen, uns von der dunklen Seite der Freiheit, von den oft quälenden Fragen der richtigen Entscheidung in hochkomplexen Bereichen wie etwa der Gentechnologie, der Nanotechnologie und erst recht vom Nachdenken über Sünde und Schuld zu befreien. Die Freiheit des Menschen bleibt in diesen spekulativen Prognosen auf der Strecke.
Die Thesen haben das Sabbatgebot als Zeichen der Unterbrechung herausgegriffen und versucht, an diesem Beispiel zu zeigen, wie eine Unterbrechung sich auswirkt, die zunächst einmal die Arbeit und - wie Leo J. O'Donovan sagt - den Nutzenkalkül suspendiert.
Eine besondere Pointe der Thesen sehe ich in dem sogenannten "Sabbatparadox". Unsere Erfahrung lehrt es seit über 2.000 Jahren, dass der Sabbat und der Sonntag, der eng mit ihm zusammenhängt, außerordentlich nützlich sind. Das sieht man freilich nur auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sieht es eher so aus, als müsse an der nutzbaren Zeit der Anteil eines Tages abgezogen werden, so dass der Nutzen in der Bilanz entsprechend niedriger ausfiele. In Wirklichkeit ist es aber ganz anders. Der Sonntag - im Alten Testament der Sabbat - ist nämlich in Wirklichkeit höchst nützlich. Leo J. O'Donovan hat ja an die These erinnert, dass es kein Zufall ist, dass in der Hemisphäre, in der es diese Einrichtung einer festen Unterbrechung des Arbeitstaktes gibt, die wissenschaftliche, technische aber auch technologische und zivilisatorische Fortschrittsentwicklung eingesetzt hat wie nirgendwo sonst. Dies lässt sich für viele Bereiche nachweisen.
Hier kann man sehen, dass die Thesen, wie überhaupt das Votum der beiden Kirchen, nicht in die antimoderne Ecke gestellt werden können. Es wäre auch zynisch, die Segnungen des zivilisatorischen Fortschritts gleichzeitig zu genießen und zu verdammen. Die Pointe des Sabbatparadoxes bedeutet: Der Sabbat ist nützlich oder besser, wie Leo J. O'Donovan mit Thomas Mann sagt "übernützlich". Nur ein kurzfristig kalkulierender Ökonom wird den Sonntag streichen oder gering einschätzen. Das ist auch ein neues Argument in unserer anderen Debatte, in der es um den Schutz des Sonntags als öffentliche und grundsätzlich für alle geltende Unterbrechung des Arbeitstaktes geht. Der Sonntag ist "übernützlich" und nützlich, er nützt langfristig gesehen auch der Wirtschaft. Hier sehen wir, wie der Hintergrundaspekt der Zeit, wie er ja auch im Motto des Kongresses "Tempi" angesprochen ist, bedeutsam wird. Die verschiedenen Geschwindigkeiten, die Zeit der Arbeit, die Zeit, in der auch einmal Tempo gemacht wird, die Zeit der Ruhe, der Reflexion als Quelle von guten Ideen und Innovationen, all das hat seinen Platz im Leben.
Wie wirken sich solche Gedanken nun auf unser Bildungssystem und die anstehende Reform aus? Hier muss zunächst einmal festgestellt werden, dass die allgemeine Bildungsdebatte eine gute Sache ist. Sie sorgt dafür, dass in der Öffentlichkeit und in den Parteien, auch bei den Landesregierungen und der Bundesregierung das Bewusstsein dafür wächst, dass hier viel mehr Aufmerksamkeit nötig ist und mehr Mittel für diesen Sektor bereitgestellt werden müssen. In den letzten Jahren hat es einen verstärkten Spardruck auf die Schulen gegeben, den Lehrern ist vieles zugemutet worden. Sie sind als Faulpelze bezeichnet worden, ihre Unterrichtsverpflichtung ist da und dort drastisch erhöht worden, die Klassenfrequenzen sind stark gestiegen. All das sind die Folgen bekannter Sparzwänge des Staates. Immerhin kam es verschiedentlich zu Neueinstellungen von jungen Lehrern. Es ist zu hoffen, dass die Rahmenbedingungen für die Schulen nun doch wieder besser werden.
In den letzten Jahren ist sehr viel von Qualitätssicherung, Qualitätsmanagement, von Corporate identity und Budgetierung die Rede gewesen. Schon an den Vokabeln merkt man, dass hier Organisationsprinzipien der Wirtschaft auf die Schulen angewandt werden. Das muss nicht von vornherein ein Nachteil sein. Es ist wahrscheinlich eine sehr gute Idee, den Schulen mehr Eigenverantwortung zu geben, sie zu der pädagogischen Anstrengung anzuhalten und ein eigenes Schulprogramm zu entwickeln. An dieser Stelle von einer "Industrialisierung der Bildungsinstitutionen" zu sprechen, wäre eine falsche Akzentsetzung. Warum sollen Erfahrungen, die in der Wirtschaft gemacht werden, nicht für die Welt der Beamten, die von kameralistischem Denken traditionell bestimmt wird, von Nutzen sein? Nichts gegen frischen Wind also, nichts gegen sinnvolle Reformen.
Von einer verhängnisvollen Industrialisierung des Bildungswesens müsste man allerdings sprechen, wenn nur noch Inhalte zugelassen würden, die sich gegenüber den Verwertungsinteressen des Beschäftigungssystems ausweisen können. Auch bei der Qualitätssicherung muss man vorsichtig sein. Es darf nicht dahin kommen, dass wir zwei Klassen von Fächern haben, solche, die gut evaluierbar sind wie Mathematik, Sprachen, Naturwissenschaften und andere, die schon von ihrem Gegenstand her sich nur schwer evaluieren lassen. Es muss auch Lernziele geben, die nicht unmittelbar gemessen und gewogen werden können. Es wäre zum Beispiel fatal, wenn der Religionsunterricht, der zu den Voraussetzungen für eine Glaubensentscheidung in Freiheit beitragen will, nun anfangen wollte zu messen, wer glaubt und wer nicht glaubt. Natürlich spielt auch im Religionsunterricht das überprüfbare Wissen eine gewichtige Rolle.
Die christliche Religion, der Gegenstand unseres Religionsunterrichts, von dem eine bemerkenswerte Untersuchung von Anton Bucher gerade gezeigt hat, dass er viel besser akzeptiert ist als man gemeinhin annimmt, ist einfach etwas anderes als der Gegenstand des Physikunterrichts. Den Religionsunterricht aber deshalb als "Plauderstunde" oder als Fach zweiter Klasse zu disqualifizieren, nur weil seine Kriterien der Qualitätssicherung weniger griffig sind, wäre abwegig.
Aus den grundsätzlichen Überlegungen, der gesellschaftlichen Analyse und der genuin jüdisch-christlichen Antwort, die das "Sabbatparadox" darstellt, folgern nun die Thesen, dass es in unseren Bildungsinstitutionen Inhalte geben muss, die eine elementare Ähnlichkeit mit dem Sabbat haben: Zu ihnen gehören die musischen Fächer - der Sabbat ist ein Feiertag, der Tag von Singen und Spielen. Zum Sabbat gehören Literatur und Kunst - kurz alles das, was dem Leben dient und das Leben wertvoll macht, aber nicht verzweckt werden kann.
Wir müssen dem Begriff "Wissensgesellschaft" einen neuen, vollständigeren Inhalt geben. Ich glaube, dass ein gesellschaftlicher Konsens darüber möglich ist, dass das Wissen, das die Schulen und Hochschulen vermitteln sollen, mehr umgreifen muss als das, was unmittelbar ökonomisch nützlich ist. Der Philosoph Willi Oelmüller hat vor vielen Jahren den Begriff "Orientierungswissen" geprägt, den ich in letzter Zeit öfter höre. Viele Menschen sehen ein, dass es in einer unübersichtlichen Zeit darauf ankommt, Ziele, Werte und Leitlinien zu haben. Auch Bundestagspräsident Thierse hat jüngst erst wieder betont: Die grellen Ausbrüche rechtsextremer Gewalt sind auch auf die Abwesenheit wirklicher Ziele und Werte zurückzuführen. Die systematische Austrocknung des religiösen Erbes in der ehemaligen DDR zeigt hier späte und böse Folgen. Viele Menschen, die sich gelegentlich über die Kirche aufregen, spüren doch so etwas wie Phantomschmerzen. Offenbar fehlt dort etwas, wo die christliche Tradition an den Rand gedrängt worden ist.
Wenn es stimmt, was das Motto dieses Tages behauptet, dass wir nämlich in einem "Zeitalter der Beschleunigung" leben, dann scheint mir auch die Folgerung plausibel, dem besondere Aufmerksamkeit zu schenken, was bleibt. Wenn sich so vieles so rasch ändert, wird das um so wertvoller, was uns Halt gibt, Richtung und Orientierung. Man kann das einen therapeutischen Konservatismus nennen. Zunächst erscheint es einfach nur als die intelligente Antwort auf die Phänomene der Beschleunigung. Jedenfalls glaube ich, dass Leo J. O'Donovan und die Thesen Zustimmung verdienen, wenn sie vor einem blinden Beschleunigungskonformismus warnen (vgl. dazu auch K. Lehmann, Hat das Christentum Zukunft? Mainz 2000; ders., Es ist Zeit, an Gott zu denken, Freiburg, 2000).
Nach der TIMSS-Studie, die gezeigt hat, dass die Leistungen deutscher Schüler in Mathematik im internationalen Vergleich eher schwach sind, hat sich im Bildungssektor bis hin in Regierungskreise die Stimmung ausgebreitet: Jetzt müssen wir Tempo machen, die "Humanressource" Wissen nutzen, um wieder zur Weltspitze aufzuschließen. In der Tat kann es in Engpass-Situationen einmal richtig sein, voll zu beschleunigen, aber wenn es nun zur Forderung nach immer mehr Leistung in immer kürzerer Zeit kommt, wird das Ergebnis schlechter sein, als wenn man den Rat von Leo J. O'Donovan folgt: Schafft Sabbatinhalte, Sabbaträume, Sabbatzeiten in unseren Bildungsinstitutionen, dann tut Ihr das komplementär Richtige, auch zum Nutzen der Ökonomie, vor allem aber zum Wohl der Menschen, denn das oberste Ziel, auch hier stimme ich mit Leo J. O'Donovan, dem Präsidenten der Georgetown-Universität in Washington voll überein, ist nicht die Nützlichkeit, sondern das gute - und als Bischof darf ich es am Ende auch einmal fromm sagen - das ewige Leben.
Hannover, 16. November 2000
Pressestelle der EKD / Deutsche Bischofskonferenz