Ethik und Demokratie
Wolfgang Huber
Katholikentag in Ulm
I.
Von Diktaturen oder autoritären Staaten unterscheidet sich die Demokratie dadurch, dass sie sich der ethischen Überprüfung ihrer Entscheidungen stellen muss; sie kann sich dieser ethischen Debatte nicht entziehen. Dabei hat der Staat kein Monopol für die Feststellung der ethischen Maßstäbe. Er beschließt über das Recht, nicht über die Moral.
Ethische Debatten über politische Entscheidungen stehen uns gegenwärtig deutlich vor Augen. Sind die Entscheidungen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme mit dem Gebot sozialer Gerechtigkeit vereinbar? Genügt der Versuch, für das Kopftuch der muslimischen Lehrerin eine gesetzliche Regelung zu finden, den Maßstäben der Religionsfreiheit und der Toleranz? Lässt sich die Entscheidung zur militärischen Intervention im Irak mit den überkommenen Kriterien der Lehre vom „gerechten Krieg“ rechtfertigen? Dass ein demokratisches Gemeinwesen vor großen ethischen Herausforderungen stehen kann, erleben wir derzeit nahezu täglich.
In den letzten Jahren haben sich solche Fragen nach der ethischen Rechtfertigungsfähigkeit demokratischer Entscheidungen insbesondere an den Entwicklungen entzündet, die sich aus den Fortschritten der modernen Lebenswissenschaften ergeben. Die Frage, ob menschliche embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken importiert und verwendet werden dürfen, stellte dafür eine Art Wasserscheide dar. Bestimmte Grenzen müssen gemeinsam anerkannt und geachtet werden; kein Hinweis auf den Pluralismus kann uns davon entbinden. Es gibt Bereiche, in denen wir Einigkeit erreichen oder aber Wege finden müssen, die auch die Gewissensüberzeugung der Minderheit respektieren.
Doch der Frage, wie die Demokratie mit ethisch schwerwiegenden Entscheidungsfragen umgeht, ist eine andere Frage vorgelagert. Sie heißt: Wie steht es eigentlich um die ethische Begründung der Demokratie selbst? Worin liegen ihre ethischen Wurzeln? Wie hängt unser christlicher Glaube mit diesen ethischen Grundlagen zusammen? Diese Frage will ich heute in den Vordergrund stellen. Dabei wird sich freilich zeigen: Die Art, in der eine Demokratie mit den ethischen Herausforderungen umgeht, vor denen sie steht, hängt unmittelbar damit zusammen, wie sie ihre ethischen Wurzeln versteht.
Ich will mich zunächst der Frage zuwenden, was das Christentum zur ethischen Begründung der modernen Demokratie beiträgt. Ich will dann die ethischen Grundlagen der Demokratie unter drei Gesichtspunkten beleuchten. Die Würde des Menschen, der Umgang mit der Fehlbarkeit des Menschen und schließlich das Verhältnis der Demokratie zum Pluralismus: das sind die drei Gesichtspunkte, die ich hervorheben will.
II.
Zunächst also einige Überlegungen zum Verhältnis zwischen christlicher Ethik und Demokratie.
Staatsform und Religion stehen keineswegs so beziehungslos nebeneinander, wie bisweilen gedacht wird. Manche Wissenschaftler sind davon überzeugt, dass man das Verhältnis zwischen beiden sogar empirisch beschreiben kann.
Sie machen dabei auf Folgendes aufmerksam: In der überwiegenden Zahl derjenigen Staaten, die heute demokratisch verfasst sind, spielt das Christentum eine erhebliche Rolle. In 78 dieser 88 Staaten, so hat man festgestellt, gehört die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Von den 67 Staaten dagegen, die heute die Freiheit unterdrücken, gehören nur elf zum Kreis der christlich geprägten Nationen. In christlich geprägten Ländern, so heißt die Folgerung, hat die Demokratie bessere Chancen als in nicht-christlichen. Die Verbindung von christlichem Glauben und Demokratie ist also kein bloßes Postulat, sondern lässt sich zumindest für die Gegenwart empirisch belegen.
Zu dieser empirischen Feststellung gibt es eine grundsätzliche Entsprechung. Sie sagt, dass dem christlichen Glauben eine prinzipielle Nähe zur demokratischen Lebensform eignet. Er vermittelt Leitvorstellungen von der menschlichen Person und vom menschlichen Zusammenleben, die der Demokratie gemäß sind. Zu diesen Leitvorstellungen gehören die individuelle Freiheit, die Gleichheit aller Menschen vor Gott, die Nächstenliebe und damit die Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere und schließlich der Glaube an die Macht des Wortes, an die Kraft des Arguments und damit die Möglichkeit demokratischer Kommunikation.
Demokratie als eine rechtlich ausgestaltete Form dafür, wie menschliches Leben sich im politischen Rahmen artikulieren und organisieren kann, bedarf einer Verwurzelung in klaren Grundsätzen der menschlichen Lebensführung. Der christliche Glaube und die christliche Theologie können dazu Wichtiges und Unverwechselbares beitragen. Sie sind der Demokratie in kritischer Solidarität verbunden.
Aber weder die empirische Beobachtung, dass die Demokratie sich heute in christlich geprägten Ländern leichter durchsetzt als in anderen, noch die grundsätzliche Feststellung einer besonderen Nähe zwischen christlichem Glauben und Demokratie bilden einen Anlass zu einer selbstgerechten Bilanz oder gar zu einem Triumphgefühl. Denn es hat lange gedauert, bis sich solche Einsichten allgemein durchsetzten.
Bei allen Unterschieden zwischen unseren Kirchen im Einzelnen werden wir doch in großer ökumenischer Gemeinsamkeit festzustellen haben: Geradezu Vorreiter sind die Kirchen in ihrem Eintreten für die Demokratie nicht immer gewesen. Nehmen wir nur die jüngste Geschichte als Beispiel: Während des Kaiserreiches und zur Zeit der Weimarer Republik, erst recht während des sogenannten „Dritten Reichs“ gab es aus dem Raum der christlichen Kirchen sehr viele Vorbehalte gegenüber der Demokratie. Unter den evangelischen Pfarrern der Weimarer Zeit waren viele eher bereit, sich mit dem Nationalsozialismus zu verbünden, als die Demokratie zu verteidigen. Und die katholische Kirche erklärte zwar bis zum Jahr 1933, für Katholiken sei die Mitgliedschaft in der NSDAP nicht erlaubt; als aber Hitler an der Macht war, schloss der Vatikan mit ihm in erstaunlicher Geschwindigkeit ein Reichskonkordat. Nicht einmal die christlich motivierten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, denen in diesem Jahr unser besonderes Gedenken gilt, hatten durchgängig ein starkes Vertrauen in die Demokratie. Manche von ihnen waren zwar gegen Hitler, hatten aber durchaus Vorbehalte gegen die Demokratie. Trotzdem trugen sie alle zur Begründung der Nachkriegsdemokratie in Deutschland bei. Indem sie sich der Beugung des Rechts entgegenstellten, bekannten sie sich zu einem Ethos, an das der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats in Deutschland anknüpfen konnte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges veränderte sich das Verhältnis der Kirchen zur Demokratie grundsätzlich und nachhaltig. Als 1985 die sogenannte „Demokratie-Denkschrift“ der EKD erschien, hieß es in deren Vorwort: „Zum ersten Mal erfährt die Staatsform der liberalen Demokratie eine so eingehende positive Würdigung in einer Stellungnahme der evangelischen Kirche.“ Es ist sicher alles andere als ein Zufall, dass erst im selben Jahr und somit vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes als einen „Tag der Befreiung“ bezeichnen konnte und dies stellvertretend für alle Deutschen tat. Ebenso lange dauerte es eben, bis die Affinität zwischen christlichem Glauben und Demokratie in einer verbindlichen Form festgehalten und zum Ausdruck gebracht wurde.
Es gibt keinen Grund, die Demokratie zu idealisieren. Sie ist nicht der Vorgarten des Paradieses. Das war sie im antiken Griechenland nicht, dem wir das Wort „Demokratie“ verdanken. Und das ist sie in der Moderne nicht. Sie ist nicht nur eine verbesserungsfähige, sondern auch eine verbesserungsbedürftige Staatsform. Auch die Demokratie in Europa ist noch ausbaufähig. Vielleicht wollten dies manche der Wählerinnen und Wähler zum Ausdruck bringen, die am vergangenen Sonntag bei der Europawahl von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machten. Sie trauten ihrer eigenen Stimme zu wenig zu. Wo immer das geschieht, ist es ein Hinweis auf die Verbesserungsbedürftigkeit der Demokratie.
Auch den Beitrag des Christentums zur Demokratie sollen wir nicht idealisieren. Nicht immer waren die Kirchen Stützen der Demokratie. Heute können und wollen sie es sein. Vor allem wollen sie der Verwurzelung der Demokratie durch Überzeugungen dienen, die der demokratische Staat zwar in Anspruch nehmen, aber nicht selbst hervorbringen kann. Von diesen Wurzeln der Demokratie will ich nun sprechen.
III.
Zunächst muss von der Würde des Menschen als Wurzel der Demokratie die Rede sein.
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beginnt in seinem Artikel 1 mit einem Bekenntnis zur Menschenwürde. Vorausgestellt ist dem in der Präambel des Grundgesetzes ein denkwürdiger Hinweis. Dort nämlich heißt es: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...“
Hier ist von der Verantwortung vor Gott die Rede – eine Formulierung, die wir als Kirchen – auch Kardinal Lehmann und ich persönlich – bis in die letzten Tage hinein für die Präambel der Europäischen Verfassung sehr nachdrücklich empfohlen haben. Die europäischen Regierungschefs sind dem bei ihrem Beschluss zur europäischen Verfassung leider nicht gefolgt. Zwar begrüße ich deren Verfassungsbeschluss ausdrücklich. Er ist ein wichtiger Schritt zur europäischen Integration. Und ich hoffe, dass der bevorstehende Ratifizierungsprozess gelingt. Aber ich bedaure doch, dass es bei einem allgemeinen Hinweis auf das religiöse Erbe Europas geblieben ist. Die jüdisch-christliche Prägung dieses Erbes wurde genauso wenig aufgenommen wie ein Bezug auf die Verantwortung vor Gott als Maß aller menschlichen Verantwortung. Aber trotzdem kann man die Wertgebundenheit Europas an diesem Dokument erkennen. Sie zeigt sich insbesondere daran, dass die Charta der Grundrechte nun in den Text der Verfassung integriert ist. Damit ist die Verpflichtung auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde ausdrücklich in der Verfassung verankert. Aber ich hätte es sehr begrüßt, wenn das mit einem Gottesbezug verbunden worden wäre.
Denn der Unantastbarkeit der Menschenwürde bekommt es gut, wenn deutlich wird, dass nicht der Mensch das Maß aller Dinge ist. Das sagen wir in vollem Respekt vor der Gewissensfreiheit derjenigen, die sich nicht durch den Glauben an Gott gebunden fühlen. Wir wissen auch: Der „Gott des Grundgesetzes“ ist nicht für alle der christliche Gott. Somit sind auch nicht bloß der christliche Glaube oder gar die christlichen Kirchen im Blick.
Doch absehen lässt sich von der christlichen Verwurzelung unserer Verfassung und vor allem ihres Grundrechtsteils nicht. Das kommt gleich zu Beginn zum Ausdruck: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Das Grundgesetz versteht die Menschenwürde als die unverfügbare und unantastbare Grundlage allen staatlichen und politischen Handelns. Das entspricht sehr genau dem im christlichen Glauben vorausgesetzten Menschenbild, das den Menschen als das zum Ebenbild Gottes bestimmte Wesen versteht. Damit wird die Einzigartigkeit des Menschen in den Blick genommen: Die Bestimmung zum Ebenbild Gottes begründet in christlicher Sicht die menschliche Würde. In der Vorstellung, dass der Mensch niemals bloß als Mittel angesehen werden darf, sondern immer als Zweck in sich selbst zu achten ist, hat diese Begründung eine säkulare Entsprechung gefunden.
Wer nun die medizin- und bioethische Debatte der letzten Jahre verfolgt hat, der wird den Nachdruck, mit dem sie geführt wurde, nur richtig einordnen können, wenn er sich klar macht, dass in nahezu jeder vom Gesetzgeber zu treffenden Einzelentscheidung immer die Würde des Menschen mit auf dem Spiel stand. Die Metapher vom Rubikon, der hier möglicherweise überschritten wird, das häufig gebrauchte Bild vom Dammbruch, der Hinweis auf die Gefahr einer schiefen Ebene machen dies deutlich.
Gemeinsam haben wir uns in den Kirchen von der Überzeugung leiten lassen, dass der Schutz der Menschenwürde keine Abstufung duldet. Die Würde des Menschen ist nicht teilbar. Sie lässt sich nicht gegen andere Güter abwägen. Beim Schutz des Lebens sieht der Verfassungsgeber demgegenüber die Möglichkeit gesetzlicher Einschränkungen vor. Sie sind aber nur denkbar, wenn sie selbst mit dem Grundsatz der Menschenwürde vereinbar sind. Auch der Lebensschutz darf also nicht so eingeschränkt werden, dass dabei über das Leben des Menschen verfügt, menschliches Leben zur Ware gemacht, die Grenzen menschlichen Lebens ins Belieben gestellt werden. Deshalb haben wir uns als Kirchen gemeinsam für ein Ethos der größtmöglichen Vorsicht, Behutsamkeit und Achtsamkeit im Umgang mit dem menschlichen Leben auch in seinen frühesten wie in seinen spätesten Erscheinungsformen eingesetzt.
Dabei gibt es zwischen katholischer und evangelischer Kirche durchaus unterschiedliche Akzente in den Begründungen. So orientiert sich das evangelische Verständnis des Menschen nicht an einer substanzhaften Bestimmung dessen, was der Mensch ist; es versteht den Menschen vielmehr als ein Beziehungswesen. Was der Mensch ist, zeigt sich in seinen Beziehungen zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Mitwelt und zu sich selbst.
Die Folgerungen, die hieraus zu ziehen sind, sind im Einzelnen umstritten. Im deutschen Protestantismus und in der evangelischen Theologie gibt es Stimmen, die der vorsichtigen und – wie ich finde – umsichtigen Haltung unserer Kirchen gegenüber stärker für die Freiheit der Forschung plädieren, In den Entwicklungen der Lebenswissenschaften nehmen sie vor allem neue Heilungschancen wahr und sehen weniger die Risiken und Gefahren. Andere dagegen warnen davor, dass der wissenschaftliche Fortschritt in einen moralischen Rückschritt umschlagen kann, weil er den Menschen nicht mehr als Person achtet, sondern zu einer Sache macht.
In der Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens hat diese Debatte einen sehr prinzipiellen Charakter angenommen. Die eine Seite sieht im Embryo bereits von der Befruchtung der Eizelle an einen sich entwickelnden Menschen, der deshalb auch von Anfang an unter dem Schutz der Menschenwürde steht. Die andere Seite spricht von vorgeburtlichem Menschsein nur dann, wenn die „äußeren Umstände für eine entsprechende Entwicklung gegeben“ sind. Darunter wird dann insbesondere die Einnistung der befruchteten Eizelle in die weibliche Gebärmutter verstanden.
Doch diese zweite Position steht vor der Frage, ob sie nicht doch einer Abstufung der Menschenwürde den Weg ebnet. Auch die Freigabe von Embryonen vor der Nidation zu Zwecken der Forschung oder die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und damit der Auswahl des am ehesten wünschenswerten Embryos vor der Implantation kommen an dem Einwand nicht vorbei, dass hier verschiedenen Stufen des Lebens ein unterschiedliches Maß an Menschenwürde zuerkannt wird. Leicht lässt sich eine solche Stufentheorie der Menschenwürde auf andere Themen übertragen. Die Forderung nach einer rechtlichen Anerkennung der aktiven Sterbehilfe oder die Vorstellung einer rechtlichen Zulässigkeit der Folter sind Beispiele dafür – beunruhigende Beispiele, wie ich finde. Manche schließen daraus, dass der Umgang unserer Generation mit der Menschenwürde unter die Überschrift gestellt werden müsse: „Die Würde des Menschen war unantastbar.“ Ich will mich damit nicht abfinden. Ich sehe vielmehr unsere aktuelle Verantwortung darin, dass die Menschenwürde auch in Zukunft ungeteilt und ohne Abstufung geachtet wird. Denn es geht um eine der Wurzeln der Demokratie. Es geht zugleich um ein zentrales Element des christlichen Menschenbilds.
IV.
Noch eine andere Besonderheit des christlichen Zugangs zur Demokratie will ich hervorheben. Die Demokratie als Staatsform rechnet mit der Fehlbarkeit des Menschen. Sie rechnet mit der Verführbarkeit des Menschen durch Macht; sie zieht ins Kalkül, dass Menschen Irrtümern erliegen; sie hält es für wichtig, dass menschliche Entscheidungen korrigiert werden können.
Es ist ein Irrtum, wenn die Demokratie neuerdings immer wieder mit einem optimistischen Menschenbild in Verbindung gebracht wird. Das christliche Menschenbild jedenfalls ist weder optimistisch noch pessimistisch; es ist vielmehr von einem biblischen Realismus geprägt. Zu ihm gehört beides: die Berufung des Menschen zu Gottes Ebenbild und die Einsicht in seine Sündhaftigkeit. Christliche Einsicht sieht den Menschen als ein fehlbares, irrtumsfähiges Wesen, dessen Machstreben der Begrenzung durch örtliche, zeitliche und institutionelle Grenzen bedarf.
Politische Macht ist in der Demokratie regional begrenzt, denn sie gilt jeweils nur für einen bestimmten Zuständigkeitsbereich. Politische Macht ist aber auch zeitlich begrenzt, beispielsweise durch Legislaturperioden. Schließlich unterliegt sie institutionellen Grenzen; sie ist an ein Gleichgewicht zwischen unabhängigen Gewalten – Regierung, Parlament, Gerichtsbarkeit – gebunden. Kein Mensch, keine staatliche Institution, keine Gewalt kann oder darf sich selbst absolut setzen und die totale Macht oder alleinige Kontrolle über eine Gesellschaft ausüben. Die Macht ist in einer Demokratie relativ und begrenzt. Das schränkt die Möglichkeiten ihres Missbrauchs ein.
Ausgeschlossen wird er dadurch nicht. Er kann sich auch ergeben, wenn die Bestimmungsmacht über politische Fragen aus den demokratischen Institutionen auswandert. Das geschieht beispielsweise, wenn die Medien oder einzelne von ihnen aus Instrumenten einer demokratischen Öffentlichkeit zu deren Beherrschern werden und wenn sie davon einen populistischen Gebrauch machen. Dann geht Demokratie in Demagogie über.
Eine solche Gefahr kann ebenfalls dadurch entstehen, dass die Bestimmungsmacht der Wirtschaft sich über die Entscheidungskompetenz der Demokratie hinwegsetzt. Diese Gefahr wächst heute deshalb, weil wirtschaftliche Prozesse global gesteuert werden, ohne dass dem wirksame Formen politischer Rahmensetzung entgegentreten. Gegenwärtig erleben wir, wie das Gefüge einer sozial gebändigten Marktwirtschaft dadurch erschüttert wird, dass die globale Marktwirtschaft sozial überhaupt nicht gebändigt ist. Für die Demokratie ist das eine Gefahr – und für die soziale Gerechtigkeit auch. Die Frage, wie das Modell einer sozialen Marktwirtschaft auf die globale Ebene übertragen werden kann, ist deshalb eine Schlüsselfrage unserer Zeit. Denn ethisch erträglich wird die Globalisierung nur dann, wenn sie politisch mit den Maßstäben von Gerechtigkeit und Solidarität verträglich gemacht wird. Davon sind wir derzeit weit entfernt.
Weil menschliche Entscheidungen irrtumsanfällig sind, ist es gut, diejenigen Entscheidungen mit Vorrang auszustatten, die revidiert oder korrigiert werden können. Der Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition ist das demokratische Grundmuster für solche Revisionsvorgänge. Die Vorstellung, man habe ohnehin den Rubikon überschritten, nun lasse sich infolgedessen gar nichts mehr entscheiden, verträgt sich dagegen mit diesem demokratischen Grundgedanken nicht. Man darf sich beispielsweise jetzt anstehende verantwortliche Entscheidungen zum ethisch vertretbaren Umgang mit menschlichen Embryonen nicht mit dem Argument aus der Hand nehmen lassen, die Weichen seien bereits vor 25 Jahren gestellt worden, nämlich mit der Zulassung der In-vitro-Fertilisation. Im Gegenteil: Es kommt auch heute darauf an, den Einsatz der In-vitro-Fertilisation so zu begrenzen, dass die Konsequenzen verantwortbar bleiben. Es gibt keinen zwangsläufigen Übergang von der künstlichen Befruchtung zur Embryonenforschung oder zur Präimplantationsdiagnostik. Wer solche Zwangsläufigkeiten behauptet, hebelt die Möglichkeit verantwortlichen Handelns aus. Er sieht den Menschen als einen Getriebenen, nicht als freies, entscheidungsfähiges Wesen. Die Kraft des Arguments, die Möglichkeit der Suche nach dem besten Weg: all das wird dann geleugnet. Das wäre eine Kapitulation; es ginge an die Substanz der Demokratie.
V.
Eine letzte Überlegung gilt dem Verhältnis von Demokratie und Pluralismus.
Der christliche Glaube bejaht die Pluralität. Sie drückt sich beispielsweise in der Mehrzahl politischer Parteien aus. Niemand sehnt sich nach dem Einparteienstaat. Die Parteienverdrossenheit, die wir gegenwärtig erleben, gefährdet die demokratische Handlungsfähigkeit. Sicherlich müssen sich die Parteien fragen lassen, was sie selbst zu diesem Verdruss beigetragen haben. Aber auch wir als Bürgerinnen und Bürger können keineswegs gelassen zuschauen, wenn die Parteien ihre Funktion einbüßen. Die Kritik an den Parteien darf deshalb nicht zu einem Rückzug von der Politik führen; diese Kritik erfordert, ernst genommen, nicht weniger, sondern mehr Engagement – auch Engagement in den Parteien selbst. Dabei meine ich jetzt nicht ein verstärktes parteipolitisches Engagement von Pfarrerinnen und Pfarrern. Auch sie sind zur politischen Mitverantwortung herausgefordert – aber doch eher in anderen Formen als im parteipolitischen Engagement.
Im Übrigen wird die Pluralität der Gesellschaft nicht nur von den Parteien repräsentiert. Auch Gewerkschaften, Banken, Unternehmen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, Medien, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, Kirchen, Sportvereine, staatliche und private Schulen, Universitäten und eigenständige Forschungsinstitute: sie alle existieren in unserer Gesellschaft immer nur im Plural. Die demokratische Gesellschaft lebt aus dem Miteinander, Nebeneinander und partiellen Gegeneinander dieser immer im Plural auftretenden Organisationen.
Diese Pluralität entspricht einem christlichen Prinzip. Von versöhnter Vielfalt sprechen wir gern. Denn im Geist Gottes ist beides verankert: die Einheit des Glaubens und die schöpferische Pluralität seiner Bezeugung, die Einheit des Ziels und die Mehrzahl der Wege, die Einheit der Wahrheit und die Pluralität unserer Erkenntnisweisen. Was so im Blick auf den Glauben gilt, gilt auch für die Gesellschaft. Gestaltete Pluralität als gesellschaftliche Form kommt der Qualität demokratischer Politik und der Freiheit menschlichen Zusammenlebens zu Gute.
Auch aus diesem Grund werden in den letzten Jahren von mancher Seite viele Hoffnungen auf die „Zivilgesellschaft“ gesetzt. Wir brauchen eine lebendige Bürgergesellschaft, die sich Lösungen nicht einfach vom Staat vorsetzen lässt, sondern selbst die richtigen Lösungen sucht. Dabei können auch die Kirchen als Anreger, Impulsgeber und Akteure eine wichtige Rolle spielen. Aber die bloße Existenz von „Nicht-Regierungs-Organisationen“ (NGO's) stellt noch keinen Wert an sich dar. Wer kann sich nicht alles zur Nicht-Regierungs-Organisation erklären! Ein Spötter hat bemerkt, auch Al Qaida wäre noch vor kurzem als NGO durchgegangen. Es reicht eben nicht aus, sich über eine abstrakte Negation zu definieren: Nicht zur Regierung gehörig. Es muss schon um bestimmte Ziele gehen. Friedensförderlichkeit sollte einer NGO eignen; sie sollte bei der Herstellung gesellschaftlicher Gerechtigkeit, bei der Bewahrung der Schöpfung oder beim Schutz der Menschenrechte engagiert sein.
So zeigt sich auch an diesem Beispiel: Pluralität ist eine Tugend der Demokratie. Aber Pluralismus ist kein Selbstzweck. Dort, wo man mit ihm zu tun bekommt, ist er eine Schule der Toleranz. Dort, wo in Fragen der Moral Einigkeit nicht erreicht wird, nötigt er zu der Einsicht, dass keiner von uns über die Wahrheit verfügt. Aber die Pluralität in der Demokratie ist kein Grund dafür, nicht mehr nach der Wahrheit zu fragen, die Wahrheit in ethischen Fragen eingeschlossen. Vielmehr muss man einen Konsens immer für möglich halten – auch unter pluralistischen Bedingungen. Der Vorrat an gemeinsamen moralischen Überzeugungen ist dafür groß genug. Und die Kirchen können in ökumenischer Gemeinsamkeit dazu ihren Beitrag leisten.