Der Zukunft auf der Spur - Überlegungen zu Vergangenheit und Zukunft von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, Berlin
Wolfgang Huber
Überall, wo Menschen leben, ist ihre Vergangenheit präsent. Und immer sind sie auf Zukunft aus. Menschen sind der Zukunft auf der Spur. Diese Spur findet nur, wer seine Vergangenheit kennt und um seine Gegenwart weiß. Es ist keineswegs paradox, sondern leuchtet ein, dass Zukunft nur der hat, der um seine Herkunft weiß.
Die christliche Kirche stellt, der jüdischen Religion folgend, eine Institution des Gedächtnisses dar. Der christliche Glaube ist auf Ursprungsdokumente wie die Bibel und Herkunftsdokumente wie die Bekenntnisschriften bezogen. Schon durch seinen Namen erinnert er an seinen Ursprung in Jesus Christus. In seinen Sakramenten und Ritualen, insbesondere im Heiligen Abendmahl verkörpert sich die Erinnerung an ein bleibend wichtiges Geschehen, das, im Ritus vergegenwärtigt, Zukunft eröffnet: „Das tut zu meinem Gedächtnis“. Durch die Zusage der Sündenvergebung und die Neubildung von Gemeinschaft eröffnet das Heilige Mahl Zukunft. Unsere Kirche ist eine Institution der Erinnerung. Weil aber Erinnerung Zukunft erschließt, setzt sie Menschen auf die Spur des Lebens.
Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist aus diesem Grund und in diesem Sinne eine charakteristisch christliche Organisation. Sie steht im Dienst des Erinnerns, sie bearbeitet Vergangenheit, um der Zukunft willen. Sie wendet sich der Vergangenheit zu, um für die Zukunft Versöhnung zu stiften. Die Bereitschaft zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung, also zur Freiheit bestimmt sie, das findet in der Organisationsform des Freiwilligendienstes seinen prägnanten Ausdruck.
(1) Erinnerung ist nötig
"Wer sich nicht seiner Vergangenheit erinnert, ist verurteilt, sie zu wiederholen". Dieser Satz des spanisch-amerikanischen Philosophen und Schriftstellers George de Santayana (1863-1952) behauptet einen fatalen, ja einen fatalistischen Zusammenhang. Ist man wirklich dazu verurteilt, die Vergangenheit zu wiederholen, wenn man sich ihrer nicht erinnert? Rennen Menschen wie Hamster im Rad herum und kommen niemals von der Stelle, wenn ihr Gedächtnis ihnen nicht ihren Ort in der Geschichte zeigt? Die Welt sähe sehr trostlos aus, wenn Santayana Recht hätte. So fatalistisch formuliert, spricht daraus ein pessimistischer Determinismus, den ich nicht glauben mag. Aber ein Wahrheitskern liegt in seinem Satz: Denn nur wer seine eigene Vergangenheit kennt, kann seine Gegenwart gut gestalten und sich auf seine Zukunft verantwortlich einstellen.
Ohne die Kenntnis der Geschichte wäre das Leben eine Lotterie, bei der man in aller Regel verliert. Aber auch wer die Vergangenheit gut kennt, hat keine Erfolgsgarantie für Gegenwart und Zukunft. Deshalb möchte ich auch nicht den Satz von Golo Mann unterschreiben, der ─ vielleicht in Kenntnis und Abwandlung des Diktums von Santayana ─ formulierte: "Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht in den Griff bekommen." Wenn die erste Äußerung zu pessimistisch klingt, könnte man versucht sein, die Fassung von Golo Mann als zu optimistisch, zu fortschrittseuphorisch zu verstehen - als ob wir durch die Kenntnis der Vergangenheit, schon eine Garantie dafür hätten, die Zukunft zu beherrschen. Kann man denn die Zukunft allen Ernstes "in den Griff bekommen" wollen? Jenseits von Pessimismus und Optimismus ist die richtige, die realistische Auffassung zu suchen. Sie sagt in ihrem Kern: Die Kenntnis der eigenen Vergangenheit ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Leben und Geschichte eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft gelingen können. Erinnerung ist nötig, aber nicht hinreichend für ein gelingendes Leben.
(2) Versöhnung ist möglich
Aber es geht Aktion Sühnezeichen im Kern nicht nur um Erinnerung, sondern zugleich um Versöhnung. Am Anfang stand der Impuls von Lothar Kreyssig, den Konrad Weiß treffend einen "Propheten der Versöhnung" nennt. Kreyssig, während des Dritten Reichs im Widerstand aktiv, wollte vor einem halben Jahrhundert Zeichen der Versöhnung setzen. Versöhnung sollte durch Erinnerung und durch Aktion möglich werden. Erinnert werden sollte an die Opfer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Erinnerung sollte vor allem durch Begegnungen zu Stande kommen, Begegnungen von Vertretern der jungen deutschen Generation mit den Opfern, Hinterbliebenen und Nachkommen der Leidtragenden des Nationalsozialismus, die in vielen Ländern Europas und der Welt lebten, zum Teil heute noch leben. Lothar Kreyssig wollte "Sühnezeichen" aufrichten. Diese sollten in vielen Ländern der Welt entstehen, gebaut von jungen Freiwilligen. Versöhnung durch Erinnerung - das war Kreyssigs Absicht. Aber ist so Versöhnung möglich? Dann könnten Menschen sie ja herstellen, gleichsam aus eigener Kraft produzieren. Diese Vorstellung lag Kreyssig fern. Er knüpfte vielmehr an eine Bibelstelle aus dem Zweiten Korintherbrief an:
"Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt." (2. Kor 5,19-21)
Aus diesem Bibelwort wird klar, dass es Gott selbst ist, der Versöhnung schafft, indem er in Christus handelt. Wir Menschen aber sind aufgefordert, uns mit ihm versöhnen zu lassen, also seine Versöhnungstat anzunehmen und sie in unserem Leben wirken zu lassen. Das versöhnende Handeln Gottes war somit für Kreyssig das Fundament, menschliches Handeln aber darin begründet und davon abgeleitet. Von dieser theologischen Grundüberzeugung ausgehend, schrieb Kreyssig den Text, der im Jahr 1958 bei der Synode der EKD zum Gründungsaufruf von Aktion Sühnezeichen werden sollte:
"Wir bitten um Frieden. Wir Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg begonnen und schon damit mehr als andere unmessbares Leiden der Menschheit verschuldet: Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern. Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist ... Wir bitten die Völker, die Gewalt von uns erlitten haben, dass sie uns erlauben, mit unseren Händen und mit unseren Mitteln in ihrem Lande etwas Gutes zu tun; ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus oder was sie sonst Gemeinnütziges wollen, als Sühnezeichen zu errichten. Lasst uns mit Polen, Russland und Israel beginnen, denen wir wohl am meisten wehgetan haben ...".
Kreyssigs kurzer Text ist außerordentlich gehaltvoll. Ich weise nur auf einige, mir besonders wichtige Facetten hin:
a) Die Friedensbitte: Ausgangspunkt ist eine Bitte um Frieden. Im Jahr 1958 war der Friede alles andere als gesichert. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR existierten als zwei selbstständige Staaten, die in unterschiedliche Blocksysteme eingebunden waren. Seit 1956 gab es in der Bundesrepublik die Bundeswehr; in der DDR bestand die Nationale Volksarmee. Im Zweifelsfalle hätten beide deutsche Armeen gegeneinander Krieg führen müssen. An einen vertraglich gesicherten Frieden, so wie er im Jahr 1990 durch den "Zwei-plus-Vier-Vertrag" zustande kommen sollte, konnte seinerzeit niemand denken. Außerdem stand die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Raum. Die EKD-Synode stritt darüber heftig. Das Resultat war die sogenannte "Ohnmachtsformel". In ihr wurde festgehalten, dass man unter dem Evangelium zusammenbleiben wolle, auch wenn man im Blick auf die verteidigungs- und sicherheitspolitischen Vorstellungen und Handlungsoptionen völlig uneins war. Kreyssigs Friedensbitte fasste vor diesem Hintergrund eine große Sehnsucht der beiden Teile des deutschen Volkes auf prägnante Weise zusammen.
b) Schuld und Verantwortung: In deutlicher Anknüpfung an das Stuttgarter Schuldbekenntnis des Rates der EKD aus dem Jahr 1945 wird festgehalten, dass "wir Deutschen" den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit unfassbares Leid verschuldet hatten. Aber Kreyssig geht noch weiter als die Stuttgarter Erklärung, weil er das Leid der Juden beim Namen nennt und dessen Verursachung als "frevlerischen Aufstand gegen Gott" deutet. "Deutsche haben in frevlerischem Aufstand gegen Gott Millionen von Juden umgebracht. Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, der hat nicht genug getan, es zu verhindern." Deutlicher kann man es wohl nicht sagen. Schon damals, 1958, gab es ja eine Generation von Überlebenden, die nicht selbst in das schuldhafte Geschehen verstrickt war, weil sie als Kinder oder Jugendliche vor 1945 noch zu jung gewesen waren, um beteiligt zu sein. Und es gab bereits Jugendliche, die das Dritte Reich überhaupt nicht bewusst erlebt hatten. Gehörten auch sie in die Schuldgeschichte jener Verbrechen hinein? Nicht im Sinn einer Kollektivschuld, aber in der Charme des Erinnerns und einer daraus erwachsenden gemeinsamen, generationenübergreifenden Verantwortung ist das zu bejahen. Heute ist Deutschland, wie vor wenigen Wochen eine Umfrage vor kurzem ergeben hat , bei der Frage nach einer besonderen Verantwortung gegenüber den Juden zutiefst gespalten. 47% der Befragten sehen eine besondere Verantwortung aufgrund der deutschen Vergangenheit, 48% teilen diese Auffassung nicht. Wenn man davon ausgeht ─ wie Aktion Sühnezeichen das tut und wie ich es selbst tue ─, dass es diese Verantwortung gibt, dann sollte man in sie jedoch nicht nur nachgeborene Deutsche einbeziehen, sondern beispielsweise auch Zuwanderer. Wer sich auf den kulturellen Zusammenhang des Lebens in Deutschland einlässt, tritt in irgendeiner Weise auch in diese Verantwortungsgemeinschaft ein. So hat er beispielsweise an der Pflicht Anteil, dass Menschenverachtende, extremistische Haltungen und Handlungen gerade in Deutschland keinen Platz mehr haben dürfen. Es ist daher nur folgerichtig, dass bei Aktion Sühnezeichen auch Freiwillige mit Migrationshintergrund Dienst tun.
c) Das Versöhnungsangebot: Kreyssig geht davon aus, es gebe deshalb noch immer keinen Frieden, weil "zu wenig Versöhnung" sei. Frieden beruht auf Versöhnung, erklärt er, und stützt sich dafür auf das bereits zitierten Paulus-Wort aus dem zweiten Korintherbrief. Die Zusage der Versöhnung hat jedoch eine Entsprechung und Folge im menschlichen Handeln. Die Menschen müssen sich versöhnen, sie müssen einander Schuld vergeben. Wie soll dies möglich sein? Wie kann dies geschehen angesichts des ungeheuren Leids, das durch das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg über die Menschen und Völker gebracht worden ist? Hier setzen Kreyssigs konstruktive und kreative Überlegungen ein.
d) Zeichen bauen Brücken: Kreyssig schlägt vor, diejenigen Völker, denen die Deutschen Unrecht getan haben (ausdrücklich genannt werden Polen, Russland und Israel) zu bitten, dass sie jungen Deutschen gestatten, in ihrem Lande etwas Gutes zu tun. Es soll etwas Zeichenhaftes aufgebaut werden, sei es ein Dorf, eine Siedlung, eine Kirche, ein Krankenhaus oder was auch immer vor Ort notwendig sein mag. Das Ergebnis ihrer Anstrengung soll als ein "Sühnezeichen" dienen. Der Begriff "Sühnezeichen" ist gewiss von Anfang an umstritten gewesen. Heutigen Freiwilligen muss man das Wort oft erst mühsam erklären. Sicher ist: Der Völkermord des Zweiten Weltkrieges kann niemals von Menschen gesühnt werden. Aber Zeichen setzen, das musste damals, das muss auch heute noch möglich sein. Es ist aber nicht nur möglich, sondern seit 1958 tausendfach, ja zehntausendfach geschehen. Junge Freiwillige haben in vielen Ländern Zeichen für Versöhnung, für Sühne gesetzt. Schon bevor die Ostdenkschrift der EKD 1965 erschien, hat die Arbeit von Aktion Sühnezeichen den Geist geatmet, der dann auch in der Denkschrift zum Ausdruck kam. Bundesaußenminister Fischer hat kürzlich in seiner Rede anlässlich der Einweihung der Jugendbegegnungsstätte Beit Ben Yehuda - Haus Pax zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig dieses Brückenbauen insbesondere zwischen Deutschland und Israel ist. Auch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel 1965 ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Tragfähige Brücken sind entstanden; dazu haben die Zeichen der Aktion Sühnezeichen entscheidend beigetragen. Sie können als Pfeiler des Vertrauens dienen, wenn wir in diesen Wochen - wieder - darauf hoffen, dass der Frieden im Nahen Osten wirkliche voran kommt.
(3) Vergangenheitsfixiert oder zukunftsorientiert?
In Gesellschaft und Kirche erleben wir gegenwärtig einen Paradigmenwechsel. Tradition allein garantiert keine Zukunft mehr. So steht der Beginn des Jahres 2005 unter den Vorzeichen, dass eine der tragenden Säulen unserer sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitslosenhilfe, aufgehoben wurde. Eine tiefgreifende Neuorientierung bahnt sich auch in unserer Kirche an. In der nüchternen Sprache der Finanzplanung hat der Rat der EKD diese Neuorientierung so formuliert:
"Angesichts der strukturellen Neugestaltung wird zukünftig die Begründungspflicht umgekehrt: Nicht mehr die lange oder gute Tradition einer Aufgabe ist ausschlaggebend, sondern die zukünftige Bedeutung. Bei jeder finanziellen Unterstützung durch die EKD muss die Frage überzeugend beantwortet werden können, ob es für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausragender Bedeutung sei, diese Aufgabe fortzusetzen [...]".
Die Aktion Sühnezeichen blickt auf eine wichtige Geschichte von einem halben Jahrhundert zurück. In dieser Geschichte ist sie eng mit der EKD verbunden. Eine Zukunftsgarantie ergibt sich daraus nicht. Es muss offenbar neu danach gefragt werden, worin die Zukunftsbedeutung dieser Initiative besteht. Ich sehe diese Zukunftsbedeutung vor allem in zwei Hinsichten:
Erstens verkörpert Aktion Sühnezeichen eine christlich motivierte und moralisch bedeutsame Erinnerungskultur, die, wie wir sahen, um der Gestaltung der Gegenwart wie um der Verantwortung für die Zukunft willen von großer Bedeutung ist.
Zweitens antizipiert die Aktion Sühnezeichen in einem wichtigen Feld die Zukunft von Kirche und Gesellschaft, indem sie dem Ausbau der internationalen Freiwilligenarbeit hohe Priorität zuerkennt. Dazu eine erläuternde Überlegung.
Wenn die allgemeine Wehrpflicht aufgehoben oder ausgesetzt wird und es ist nicht auszuschließen, dass das eine oder das andere in den kommenden Jahren so geschieht, wird damit auch der Zivildienst in seiner bisherigen Form an sein Ende kommen. Die wegfallenden Zivildienstplätze lassen sich nicht alle durch reguläre Arbeitsplätze ersetzen. Es ist allerdings denkbar, den Bereich des Freiwilligendienstes über das bisherige Maß hinaus deutlich zu erweitern. Dazu ist es freilich notwendig, den Freiwilligen bessere Bedingungen und Perspektiven zu eröffnen, indem die Bedeutung des Freiwilligendienstes für Ausbildung und Berufsbiographie verstärkt wird.
Im Jahr 2002 wurde, ausgehend von einem durch das Kirchenamt der EKD moderierten Runden Tisch, die "Konferenz Evangelischer Freiwilligendienste" gegründet, der außer der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (und mit ihr auch die Aktion Sühnezeichen) auch der Evangelische Entwicklungsdienst, die Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Jugend, das Diakonische Werk der EKD sowie einige Missionswerke angehören. Weil evangelische Freiwilligendienste von ihrem Grundansatz her auf dem Gedanken der Freiheit eines Christenmenschen basieren, weil sie ferner hervorragende Bildungsmöglichkeiten für junge Menschen bereitstellen und weil sie schließlich auch soziale und diakonische Zwecke erfüllen, ist die künftige Ausweitung dieses Bereichs sehr zu wünschen. Das gilt ganz besonders für das Engagement von Freiwilligen in der Friedens- und Versöhnungsarbeit. Denn es ist von großer Bedeutung, für welche Ziele Freiwillige sich einsetzen. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, wenn das freiwillige Engagement junger Menschen sich den Aufgaben von Versöhnung und Frieden widmet, die durch eine Vielzahl von Entwicklungen zusätzliche Bedeutung gewonnen haben. Versöhnungsdienste sind heute unter anderem deshalb wichtig, weil wir unsere Gedanken gerade nicht vom Geist des 11. September beherrschen lassen dürfen. Seit ihrem friedensethischen Beitrag "Schritte auf dem Weg des Friedens" (1. Aufl. 1994, 3. Aufl. 2001) hat die EKD dies immer wieder betont, und die Ökumenische Dekade zur Überwindung von Gewalt hat uns auf diese Aufgabe verpflichtet.
Margot Käßmann hat vor einiger Zeit in einem wichtigen Text zur ökumenischen Dekade Überlegungen vorgetragen, die ich mir ganz zu eigen mache. Sie lassen sich sehr gut auf die Zukunft von Aktion Sühnezeichen beziehen. Ich zitiere daraus:
„Wer den Kreislauf der Gewalt durchbrechen will, muss sich mit der Geschichte beschäftigen. Generationen oder sogar Jahrhunderte später bringen historische Erinnerungen oftmals neue Gewalt hervor. Im [...] Krieg im früheren Jugoslawien zum Beispiel war die Erinnerung an die Unterwerfung der Serben durch türkische Truppen in der Kosovo-Schlacht im Jahr 1389 ein Reibungspunkt! Bis heute wird diese Schlacht als ein Symbol für das Leiden des serbischen Volkes interpretiert. Was bedeutet es, eine solche Geschichte mehr als 600 Jahre lang weiterzugeben? Die Erinnerung an die Geschichte ist natürlich wichtig, denn wer die eigenen Wurzeln verliert, verliert auch einen wichtigen Teil der eigenen Identität. Auf der anderen Seite bleibt die Hoffnung, aus der Geschichte zu lernen, damit die Zukunft nicht eine Wiederholung der Vergangenheit ist. Wer hat was wem und wann weggenommen, wer hat die Ungerechtigkeiten gegenüber einer früheren Generation begangen ─ all das kann leicht zu neuer Gewalt und sogar zu Krieg führen, wenn Menschen nicht begreifen, dass sie aus der Geschichte lernen können. Der einzige Ausweg aus einem derartigen Kreislauf der Gewalt besteht darin, der Wahrheit ins Auge zu sehen und um Versöhnung zu ringen.“
Der Wahrheit ins Auge sehen und um Versöhnung ringen! Ist das nicht das Gründungsprogramm von Aktion Sühnezeichen, auf wenige Worte konzentriert? Eine deutlichere Zukunftsansage kann ich mir kaum vorstellen.
(4) Aktion Sühnezeichen als internationaler Akteur in der deutschen Zivilgesellschaft
Die Aktion Sühnezeichen ist kein global player. Aber sie ist ein internationaler Akteur. Als solcher hat sie sich in der deutschen Zivilgesellschaft unter anderen, vergleichbaren Organisationen zu behaupten. In den letzten Jahren hat man viele Hoffnungen auf die "Zivilgesellschaft" gesetzt, die dank der Aktivierung ehrenamtlicher Ressourcen eine lebendige Bürgergesellschaft bilden soll. Auch ich selbst erwarte vom zivilgesellschaftlichen Pluralismus wichtige Beiträge. Wir brauchen eine lebendige Bürgergesellschaft, die sich Problemlösungen vom Staat nicht einfach vorsetzen lässt, sondern selbst die richtigen Lösungen sucht. Dabei können die Kirchen und mit ihnen verbundene Organisationen als Anreger, Impulsgeber und Akteure eine starke Rolle spielen.
Doch das bloße Vorhandensein von "Nichtregierungsorganisationen" (NGO's) bildet noch keinen Wert an sich. Jede gesellschaftliche Gruppierung, die nicht unmittelbar zum politischem System gehört, kann sich als NGO deklarieren. Ein Spötter hat einmal bemerkt, auch El Kaida wäre vor nicht allzu langer Zeit noch als "NGO" durchgegangen . Rein formal betrachtet ist das leider richtig. Sogar als "Freiwilligendienst" kann ein Zyniker El Kaida sehen ─ waren die Todespiloten des 11. September etwa keine "Freiwilligen"? Es reicht eben nicht aus, sich wie über eine abstrakte Negation als "Nichtregierungsorganisation" oder über eine formale Struktur als "Freiwilligendienst" zu definieren. Friedensförderlich sollte eine NGO sein, den Menschenrechten sollte sie dienen, oder sie sollte bei der Herstellung gesellschaftlicher Gerechtigkeit oder der Bewahrung der Schöpfung engagiert sein. Es ist diese spezifische inhaltliche Füllung, die den Charakter der christlichen Freiwilligendienste bestimmt. Deshalb ist die Freiwilligenarbeit von Aktion Sühnezeichen vorbildlich. Ihr Mittel zur Verwirklichung des Dienstes der Versöhnung ist eine inhaltlich sehr konkret an der Förderung des Friedens und an der Verständigung der Völker orientierte und pädagogisch hervorragend begleitete Arbeit mit jungen Freiwilligen.
Zur Internationalität von Aktion Sühnezeichen gehört seit einigen Jahren auch der spannende Versuch, nicht nur bilaterale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, sondern auch trinationale Netze aufzuspannen, so etwa in dem Projekt, in dem deutsche und polnische Jugendliche zusammen in Großbritannien ihren Dienst leisten. Vier Augen sehen mehr als zwei, mehrere Perspektivenwechsel stellen vor mehr Herausforderungen als lediglich ein einziger, trilaterale Gespräche führen zu einer ganz neuen, eigenen Gesprächskultur. Die Aktion Sühnezeichen baut so ganz bewusst mit am europäischen Haus und setzt Vor-Zeichen einer neuen Gesprächskultur.
Die Kirchen sind dabei natürliche Partner von Aktion Sühnezeichen. Wenn ich von "Kirchen" spreche, also den Plural gebrauche, so spiele ich auf die ökumenische Präsenz von Aktion Sühnezeichen an und auf die Anerkennung, die Ihre Organisation auch im Raum der römisch-katholischen Kirche findet. Im Hirtenwort der katholischen Bischöfe vom September 2000 "Gerechter Friede" wird Aktion Sühnezeichen anerkennend gewürdigt. Ich freue mich sehr über diese Sicht der katholischen deutschen Bischöfe und wäre gern auch in anderen Fragen mit ihnen genauso einig. In diesem Fall gilt uneingeschränkt: Was im katholischen Raum gesagt wird, wird auch und erst recht in der EKD so empfunden. Und deshalb: Als internationaler Akteur ist die Aktion Sühnezeichen ein Partner der Kirchen.
(5) Überlegungen zur Zukunft von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste
Erinnerung ist möglich, Versöhnung ist nötig. Für beides und somit für die Eröffnung von Zukunft steht Aktion Sühnezeichen. Aber als Organisation steht Ihnen ja auch Ihre eigene Zukunft bevor. Wie wird sie aussehen? Die EKD kann sie auf dem Weg in Ihre Zukunft nur begleiten. Dies tun wir in dem Bewusstsein, von denen Wurzeln her wie im Blick auf die Ziele zusammenzugehören. Verstehen Sie deshalb meine abschließende Zukunftsüberlegung als Ausdruck freundschaftlicher Verbundenheit, nicht als abschließendes Urteil oder gar als Direktive. Mehr als raten kann ich in dieser Frage nicht.
Erstens: Die Geschichte hat gezeigt, dass der Zukunft nur auf der Spur bleiben kann, wer sich selbst und seiner Vergangenheit treu bleibt. Aktion Sühnezeichen wird also meines Erachtens gut daran tun, die vom Versöhnungsgedanken getragene Erinnerungskultur weiterhin in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu ihrer Sache zu machen.
Zweitens: Die Absicht, die Freiwilligenarbeit weiter auszubauen, halte ich für richtig, weil auf diesem Wege ganz bewusst Zukunftsfragen unserer Gesellschaft angegangen werden. Sorgen habe ich allerdings wegen der Liquiditätsengpässe und des Umfangs der Personalkosten, die bisher nicht in dem leider nötigen Umfang reduziert werden konnten. Dauerhaft erhalten kann man nur, was man auch finanzieren kann. In allen Bereichen kirchlicher Arbeit stehen wir derzeit vor der Aufgabe, den Rückgang unserer realen Finanzkraft zu verarbeiten und, wo es geht, zu kompensieren. Zusätzliche finanzielle Spielräume aus Haushaltsmitteln entstehen in einer solchen Situation nicht, das Gegenteil ist der Fall. Der von der Aktion Sühnezeichen ins Auge gefasste Weg, die Mitgliederbasis zu verbreitern, weist nach meiner Überzeugung in die richtige Richtung.
Drittens: Die Organisationen auf dem Feld der Versöhnungs-, Friedens- und Freiwilligenarbeit sollten die Möglichkeiten zur Zusammenarbeit verstärkt nutzen. Die Gründung der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden im Jahr 1968, für die die Aktion Sühnezeichen mit verantwortlich war, war seinerzeit ein Qualitätsgewinn, und ein entscheidender Schritt in die Zukunft. Warum sollte man sich nicht verstärkte Formen der Zusammenarbeit bis hin zu Bürogemeinschaften vorstellen. Eine Bündelung der Kräfte braucht die Vielfalt der Initiativen nicht zu lähmen. Muss es wirklich christliche Friedensdienste geben, die pro Jahr nur einige wenige Freiwillige entsenden, aber dafür ein eigenständiges Büro benötigen? Auch landeskirchliche Arbeitsstellen sollten sich eher in einen größeren Verbund einfügen, statt unter den heutigen Bedingungen eigenständig Neues aufbauen. Aus diesem Grund begrüße ich die Gründung der Konferenz Evangelischer Freiwilligendienste. Koordination und Kooperation sind gefragt, Konkurrenz und Doppelarbeit müssen abgebaut werden. Auf diesem Weg sollten Sie nach meiner Meinung weiter-, ja vorangehen.
Viertens: Die Erweiterung der Arbeit von Aktion Sühnezeichen auf das Gebiet der Ukraine sehe ich als einen bemerkenswerten und wichtigen Schritt. Wichtig ist es nicht nur, weil deutsche Soldaten im 2. Weltkrieg vielen Menschen in der Ukraine entsetzliches Leid zugefügt haben, sondern auch im Blick auf die Zukunft und das Zusammenwachsen Europas. Wer die Zukunft Europas in den Blick nehmen will, kann an der Ukraine nicht vorbeischauen. Das gilt nach dem Gelingen der "orangenen Revolution" erst recht. Ich sage das, obwohl ich weiß, dass die Aktion Sühnezeichen nicht in allen Ländern dieser Welt präsent sein kann. Neue Initiativen werden vermutlich mit Konzentration oder auch mit dem Rückzug von anderen Orten verbunden sein. Ich wünsche Ihnen die Weisheit und den Mut zu den in diesem Feld notwendigen Entscheidungen.
Fünftens: Die Eigenständigkeit der Friedensdienste und somit auch von Aktion Sühnezeichen gegenüber der verfassten Kirche ist aus meiner Sicht grundsätzlich positiv zu werten. Diese Eigenständigkeit ermöglicht einen offenen und partnerschaftlichen, gegebenenfalls auch kontroversen Dialog. Wir können voneinander lernen und gemeinsam unseren Horizont erweitern.
Das ist wichtig für unseren Friedensauftrag und unserem Dienst der Versöhnung - und damit für unsere Kirchen insgesamt.
Deshalb wünsche ich Ihnen gutes Gelingen, wenn Sie weiterhin der Zukunft auf der Spur sind - und in allen Vorhaben Gottes Segen.