Gottesdienst zum 50. Kirchweihfest der neuen Luisenkirche in Berlin-Charlottenburg (Psalm 84, 2-13)
Wolfgang Huber
Luisenkirche in Berlin-Charlottenburg
Wie lieb sind mir deine Wohnungen, HERR Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des HERRN; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen - deine Altäre, HERR Zebaoth, mein König und mein Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion. HERR, Gott Zebaoth, höre mein Gebet; vernimm es, Gott Jakobs! Gott, unser Schild, schaue doch; sieh doch an das Antlitz deines Gesalbten! Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend. Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause als wohnen in der Gottlosen Hütten. Denn Gott der HERR ist Sonne und Schild; der HERR gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen. HERR Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!
(Psalm 84, 2-13)
I.
Liebe Festgemeinde am dritten Advent. Zum 50. Kirchweihfest der wiederhergestellten Luisenkirche in Charlottenburg sind wir zusammen. Und einen der schönsten Psalmen, die es zu einem solchen Anlass gibt, habe ich Ihnen gerade gelesen.
Ja, wie lieb sind mir deine Wohnungen, wer könnte nicht mit vollem Herzen in den Jubelruf des Psalmes einstimmen, wenn wir hier die festlich geschmückte Luisenkirche sehen und uns an dem Gesang und dem Klang der Musik erfreuen!
Wir feiern heute Gottesdienst in dankbarer Rückschau, weil wieder gut geworden ist, was kaum wieder gut zu machen war. Vor 50 Jahren konnte die wiederhergestellte Luisenkirche eingeweiht werden. 10 Jahre stand sie zerstört als Mahnmal des Krieges vor Augen. Die Luftangriffe und das Bombardement im Jahre 1943 hatten sie stark beschädigt. Wenn wir uns dieser Zeit erinnern und über die Zerstörung klagen, ist nicht vergessen, dass der zweite Weltkrieg keineswegs ein Schicksalsschlag war, der ohne eigenes Zutun über Deutschland hereinbrach.
Trotz allem: Der Wiederaufbau wurde möglich. Er war ein sichtbares Zeichen für das Engagement und den Mut der Menschen, die sich für die Beseitigung der Kriegsschäden an der Kirche und in der Stadt einsetzten. Auf die Vorstellung von einem originalgetreuen Wiederaufbau war man damals – Gott sei Dank – nicht ganz so hemmungslos versessen , wie das heute bisweilen der Fall ist. Der Turm wurde nicht wieder in der ursprünglichen Höhe errichtet. Auch auf die ursprünglich erhöhte Kanzel verzichtete man beim Wiederaufbau ebenso wie auf manche der früheren Schmuckelemente im Kircheninneren. Kanzel, Altar und Taufbecken wurden nach dem Umbau so angeordnet, dass sie gemeinsam wahrgenommen werden können. Die Schlichtheit des inneren Kirchenraumes ermöglicht die gottesdienstliche Sammlung, die sich nach evangelischem Verständnis vor allem anderen am lebendigen Wort Gottes ausrichtet. Gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist diese Konzentration im evangelischen Kirchenbau neu zum Ausdruck gekommen. Die Luisenkirche ist dafür ein sprechendes Beispiel.
II.
Natürlich reicht die Geschichte der Luisenkirche weit über das Jahr 1953, das Jahr der Wiedereinweihung, zurück. Sie führt uns in das frühe 18. Jahrhundert. Wie nur wenige Berliner Kirchen ist die Luisenkirche schon bei ihrer Entstehung in ein städtisches Umfeld hineingebaut worden. In anderen Fällen waren die Kirchen ursprünglich Dorfkirchen, deren Lage auch noch nach der Eingemeindung in die Stadt sich aus dieser dörflichen Vorgeschichte erklärt. Hier aber führte die Gliederung des barocken Stadtviertels zur Wahl des Standorts für die Kirche in der Nachbarschaft zum Schloss Charlottenburg.
Der ursprüngliche Bau des Charlottenburger Schlosses war gerade fertiggestellt, als man 1712 mit dem Bau der Kirche begann. Der Umgestaltung des Schlosses nach den Plänen von Schinkel 1825 folgte nur ein Jahr später der Umbau der Kirche durch denselben uns in Berlin so gut vertrauten Architekten. Erst nachdem durch ihn Turm und Kirchschiff verändert worden waren, erhielt die Kirche den Namen der am 19. Juli 1810 verstorbenen Königin Luise – „Preußens Luise“, wie Günter de Bruyn sie nennt.
Hat es einen guten Grund, so wage ich zu fragen, dass eine unserer Berliner Kirchen ausgerechnet nach ihr, nach „Preußens Luise“, benannt ist? Ich sehe tatsächlich einen guten Grund dafür. Freilich finde ich ihn nicht so sehr in der Luisenverehrung, die noch vom trauernden Ehemann, Friedrich Wilhelm III., selbst in Gang gebracht wurde. Ich sehe ihn auch nicht so sehr in der Schönheit ihrer Gestalt, die durch Schadows Doppelporträt mit ihrer Schwester Friederike legendäre Bedeutung annahm. Dass eine unserer Kirchen nach Luise benannt ist, hat für mich seinen tiefsten Grund in der besonderen Bedeutung, die dieser Königin für die Verbindung der lutherischen und reformierten Gemeinden Preußens in einer unierten Kirche zukam.
Man kann es sich heute nur schwer vorstellen, aber es war so: Als der reformierte Kronprinz Friedrich Wilhelm am Heiligen Abend 1793 die lutherische Prinzessin Luise aus dem Haus Mecklenburg-Strelitz heiratete (sein Bruder Louis heiratete die jüngere Schwester Friederike nur zwei Tage später), da nahm er in Kauf, dass er mit seiner Frau niemals zusammen das Heilige Abendmahl würde feiern können. Denn eine Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten gab es zu jener Zeit nicht. Und daran änderte sich in den siebzehn Jahren nichts, die dieser Ehe gewährt waren – bis zu Luises jähem Tod im Jahr 1810. Ich habe es immer als eine Antwort des Königs auch auf diese persönliche Erfahrung angesehen, dass er das Reformationsjubiläum des Jahres 1817 nutzte, um in Preußen die Union einzuführen und den Graben zwischen Lutheranern und Reformierten zu überbrücken. Mit seiner Frau führte ihn das nicht mehr am Tisch des Herrn zusammen. Aber für Spätere ermöglichte er, was ihm selbst versagt geblieben war. Und deshalb sage ich: der Name der Königin Luise verpflichtet zu eucharistischer Gastfreundschaft.
III.
Durch Krieg und Zerstörung hindurch wurde uns die Luisenkirche wieder geschenkt. Dafür danken wir am heutigen Tag. Wir bedenken dabei, dass gebaute Orte des Glaubens wie ein solcher Kirchenbau unserem Glauben helfen können. Denn wir Menschen leben nicht nur von innen nach außen. Wir leben auch von außen nach innen. Nicht nur prägt unsere Seele den Ort, an dem wir uns befinden. Sondern die Orte prägen auch unsere Seele. Unser Geist und unser Glaube lassen sich nicht in die Innerlichkeit verbannen. Unser Geist drängt nach einer Form, in der er sich gestalten kann. Unser Glaube braucht Orte, an denen er erkennbar wird. Ein Glaube, der darauf meint verzichten zu können, ist zumeist blutleer und blass.
Und die Orte, die wir für den Glauben bauen, erzählen Geschichten. Ihnen wächst Bedeutung zu durch jedes Kind, das in ihnen getauft, jede Ehe, die in ihnen begonnen, jeden Leichnam, der in ihnen beweint wird. Das Wort Gottes, das in ihnen verkündet wird, verbindet sich mit dem Gemäuer, in dem das geschieht. Die Gemeinschaft um den Tisch des Herrn, zu der sich Menschen versammeln, gibt dem Raum eine Aura, die sich nicht verliert.
Fulbert Steffensky, der feinfühlige evangelische Theologe katholischer Herkunft, erklärt an einem Beispiel, worum es bei solchen besonderen Orten geht. Er verdeutlicht es so: „Wir hatten die Angewohnheit, unseren Enkeln Märchen auf der dritten Treppenstufe in unserem Haus zu erzählen. Es war kein besonderer Kraftort, aber das Aufsuchen dieser Stelle arrangierte uns für die Erzählung phantastischer Geschichten. Der Ort brachte uns in eine Rolle: dort sind wir die Geschichtenerzähler oder die Geschichtenhörer. Der Kirchenraum arrangiert uns und bringt uns in eine Rolle: dort sind wir die Beter, die Hörer; wir sind die Singenden und die Nachdenklichen. Wir sind es anders als zuhause im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer. Räume bauen an unserer Innerlichkeit. Darum sprechen wir dort anders, verhalten uns anders, werden ruhiger oder auch unruhiger durch die Ruhe der Räume. Räume erbauen uns, wenn wir uns erbauen lassen.“
Ja, so ist es: Unser Glaube braucht Wohnungen, in denen er einkehren und sich ausruhen kann. Der Beter des 84. Psalms vergleicht diese Sehnsucht des Glaubens mit dem flatternden Suchen der Schwalbe nach einem Nest. So sehnsüchtig wie die Schwalbe nicht Ruhe gibt, bis sie das Nest schließlich gefunden hat, so sehnsüchtig sucht der Glaube nach einem Ort, an dem er zu Hause ist.
Das Bild, das der Psalmbeter wählt, ist unglaublich stark. Haben Sie schon einmal versucht, eine Schwalbe zu beobachten, diesen flatterhaften Vogel, der mitten im Flug so jäh die Richtung ändern kann? Eine Schwalbe vermittelt in ihrem Flug den Eindruck von Leichtigkeit und Freiheit. Das sind Lebensziele, die uns auch heute als besonders erstrebenswert gelten. Aber selbst flatterhafte Vögel brauchen ein Haus; so braucht die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen. Mag die Leichtigkeit noch so erstrebenswert und die Freiheit noch so ein hohes Gut sein – ganz zu Recht beschreibt der Psalm an dem wunderbaren Bild des Vogels, wie nötig wir Orte haben, an denen unsere Seele zur Ruhe kommen kann.
Gewiss: Einsperren darf man das Evangelium in solche Räume nicht. Davor hat Martin Luther mit dem Hinweis gewarnt, dass das Evangelium auch unter der Elbbrücke gepredigt werden kann, also am ausgesetzten, unbehausten Ort. Die Kirche ist kein stiller Winkel, in dem wir uns behaglich einrichten. Und auch das andere ist richtig: Unsere Freude an gewohnten Kirchenräumen darf nicht dazu führen, dass wir in der bloßen Tradition erstarren. Ich freue mich deshalb, dass die Luisenkirche über die Jahre immer wieder die Bereitschaft zu Neuem unter Beweis gestellt hat: Rockmessen, Technogottesdienste, Fokusgottesdienste sind Beispiele dafür.
IV.
Denn es ist wahr: Manchmal macht uns das schon lange Gewohnte nur noch stumpf. Wie achtlos gehen wir an unseren Kirchengebäuden vorbei! Viele Menschen denken, so lange diese Kirchengebäude von außen anständig aussehen, brauche man sich nicht darum zu kümmern, was in ihnen geschieht. Doch Kirchen, die nicht mehr mit Leben gefüllt sind, verfallen, selbst wenn man ihre Fassade noch einige Zeit aufrecht erhält. Jedes Jubiläum einer Kirche wirft deshalb die Frage auf, was wir tun, um dieses Gebäude lebendig zu halten und neu lebendig zu machen.
Dabei hilft vielleicht die Frage zu größerer Klarheit, was mit unserem Leben geschähe, wenn aus unseren Stadtplänen und Dorfplänen die Kirchen verschwinden würden. Was wäre, wenn nur noch vereinzelte Gasthäuser und vielleicht noch die Gerätehäuser der Freiwilligen Feuerwehr in unseren Dörfern und in unseren Städten nur noch Banken, Theater, Museen und Bahnhöfe signifikante Gebäude wären – Gebäude also, die auf etwas hinweisen und eine bestimmte Botschaft enthalten? Sobald man die Frage stellt, ist auch die Antwort schon klar: Je säkularer, ungedeuteter, unbestimmter unser Leben ist, umso deutlicher muss die Kirche sein. Die Kirchtürme sollen erkennbar bleiben, auch wenn sie das Stadtbild nicht beherrschen wie die Rivalitätstürme alter Hansestädte oder die Geschlechtertürme in Norditalien. Es ist morgen so wichtig wie gestern, dass Kirchengebäude Orte sind, an denen die Sprache und die Gebärden des Glaubens verfügbar sind. Das gilt nicht nur für besondere Zeiten wie nach dem 11. September; sondern es gilt auch für die wiederkehrenden Zeiten unseres Lebens: für die Zeiten des Lebensbeginns und des Lebensendes, für die Zeiten weihnachtlicher Innigkeit und österlichen Aufbegehrens. Kirchen sind wichtig für Menschen, die in ihnen beständig zu Hause sind. Aber wichtig sind sie auch für Menschen, die eher in besonderen Zeiten glauben: in Zeiten des Unglücks oder des Glücks, in Zeiten der Niederlage oder des Triumphs. Und selbst wenn die Menschen sich den Raum der Kirche nur auf Zeit ausleihen, wenn sie sich die Sprache des Glaubens nur bei Gelegenheit in Anspruch nehmen, wenn sie von den Gebärden des Glaubens nur in der Not Gebrauch machen: die Kirche ist für sie da. Das zeigen Kirchengebäude an. Dadurch unterscheiden sie sich von dem Häusermeer, das sie umgibt.
Kirchen sind gastliche Orte, einladend und offen. Aber gastlich sind sie nur, solange sie sich deutlich unterscheiden von allem, was sie umgibt. Wenn eine Kirche undeutlich wird, verliert sie ihre Gastlichkeit. Je deutlicher sie aus sich selber ist, desto leichter kann sie auch undeutliche Gäste ertragen. Nie wird sie die Hoffnung fahren lassen, dass diese Gäste selbst deutlich werden und eines Tages selbst erklären können, warum man diese Kirche braucht: einen besonderen Ort, einen Ort für das Heilige.
Was wäre denn, wenn in unseren Städten keiner mehr den Namen Gottes nennt? Wenn es stumm würde um die Hoffnung, die sich an diesen Namen heftet? Kirchengebäude stehen dafür, dass es dahin nicht kommt. Dafür aber muss nicht nur ihre Silhouette deutlich sein. Deutlich muss auch bleiben, was in ihnen zur Sprache kommt, was in ihnen besungen und bekannt wird. Deshalb sollte man nicht allzu leichtfertig fordern, dass es in der Kirche „niederschwellig“ zugehen soll. Unsere säkulare Gesellschaft ist nicht darauf angewiesen, dass die Kirche es ihr an Säkularität gleich tut. Unsere säkulare Gesellschaft braucht vielmehr das unbekannt gewordene Zeugnis der Kirche, den neuen Ton des Glaubens, die befreiende Musik der Hoffnung. Dass Gott genannt wird, hilft unserer Gesellschaft auf. Darin, dass Gott verschwiegen wird, ist sie von sich aus kundig genug. Die säkulare Gegenwart ist nicht darauf angewiesen, dass die Kirche sie an Weltlichkeit noch überbietet; sie braucht die besondere Offenheit der Kirche für Gott. Denn sie weiß, dass ohne diese Gottoffenheit auch aus der Offenheit für den Nächsten nichts wird. Die Menschen brauchen heute nicht in dem bestätigt zu werden, was sie sich selber sagen können. Sie sehnen sich nach dem, was sie sich nicht selber sagen können. Nennen wir es ruhig die Sehnsucht nach dem Heiligen.
Wir brauchen nicht zu zweifeln, warum es Kirchen gibt, wie diese Kirche, vor fünfzig Jahren wieder eingeweiht. Heute wie damals geht es darum, dass unsere Sehnsucht nach dem Heiligen eine Antwort findet. Die Antwort trägt einen Namen. Jesus von Nazareth, so heißt er. Amen.