Kirchenkampf und Antisemitismus - Die Haltung der protestantischen Landeskirchen zum Judentum in der NS-Zeit, Bad Segeberg
Manfred Kock
Herzlich danke ich, dass ich zu Ihnen sprechen darf. Denn im Blick auf unsere evangelischen Kirchen in Deutschland ist es unerlässlich, sich dessen zu erinnern, was Antijudaismus und Antisemitismus in kirchlichem Zusammenhang bedeuten, welche Formen der Auseinandersetzungen möglich waren und welche Folgen es hatte, wenn Menschen dem Rassenwahn widerstanden. Aus den mir übersandten Unterlagen habe ich entnommen, wie liebevoll das Gedenken an die Tradition und das Leiden der kleinen jüdischen Gemeinde in Segeberg gewahrt wird. Die Vernichtung der Gemeinde gehört zu dem dunklen Kapitel deutscher Geschichte, die wir nicht vergessen dürfen. Darüber möchte ich sprechen, wenn ich heute vor allem den kirchlichen Anteil an dieser Geschichte beleuchte.
Der Begriff „Antisemitismus“ ist zwar erst im 19. Jahrhundert entstanden und bezeichnet vor allem die rassistisch und biologistisch motivierte Ablehnung alles Jüdischen. Als Hass und Feindschaft gegen Juden ist Antisemitismus jedoch eine 2000 Jahre alte Einstellung, unter der vor allem die nach den Zerstörungen Jerusalems geflohenen Juden der Diaspora zu leiden hatten. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich der Antisemitismus immer mehr zu einer Krankheit der europäischen Kultur, die alles Unglück, Naturkatastrophen und Seuchen den Juden in die Schuhe schob. Im Mittelalter gab es förmliche Wellen der Judenverfolgung, die vor allem mit dem Vorwurf, die Juden seien an Jesu Kreuzigung schuld, ideologisch begründet wurden. Sie gipfelte im Holocaust des 20. Jahrhunderts, da der Tod „ein Meister aus Deutschland“ geworden war. Heute scheint sich die Krankheit wieder weiter auszubreiten. Rechtsradikale Wellen machen sich im Lande immer deutlicher bemerkbar. Naziabgeordnete in Sachsen haben das in abscheulicher Weise dokumentiert. Die Situation verschärft sich dadurch, dass in Europa der Antisemitismus nicht mehr auf rechtsradikale Kreise beschränkt ist. Den Antisemitismus fördern heute auch islamistische Kräfte, deren Einfluss auf muslimische Gemeinden zunimmt. Auch werden im Zuge der Osterweiterung Europas antisemitische Impulse aus den Beitrittsländern wirksam, weil „der Leidensweg der jeweils eigenen Nation unter Hitler und der Sowjetunion“ dem Holocaust nicht den zentralen Stellenwert zukommen lässt.
Umso wichtiger ist es für uns in Deutschland, im Gedenken an den dunkelsten Teil unserer Geschichte gegenüber dem hier offenbar unausrottbaren Bodensatz an Antisemitismus wachsam zu sein. Nur der beharrliche Widerstand und der konsequente rechtsstaatliche Kampf vermögen vor der weiteren Ausbreitung der Krankheit zu schützen. Alle demokratischen Kräfte müssen dabei sichtbar zusammenstehen. Unsere Kirche ist dabei gerade wegen der dunklen Anteile ihrer Geschichte in der Lage, mit ihrer Mahnung und ihrer Verkündigung der antisemitischen Krankheit zu widerstehen. Ich will mich in diesem Vortrag nicht auf einen historischen Rückblick beschränken, sondern auch auf die Versuche zur Überwindung der antijüdischen Anteile christlicher Theologie hinweisen. Das ist nötig, weil es gerade auch der christliche Antijudaismus war, der im deutschen Volk zur Legitimation des Judenhasses gedient hat und die Kirchen mitschuldig werden ließ an dem, was geschehen ist.
Im ersten Teil möchte ich einen kurzen Überblick über die kirchlichen Strömungen und theologischen Positionen während der Zeit des NS-Regimes geben. Im zweiten Teil gehe ich anhand der Reaktionen auf die Einführung der Regelungen des Arierparagraphen in den Kirchen, auf antijüdische und antisemitische Verstrickungen ein. Im dritten Teil will ich zeigen, wie unsere Kirche nach 1945 das Verhältnis zu Gottesvolk Israel entwickelt hat und dabei auf einige offene Fragen hinweisen. Zum Schluss komme ich auf die gegenwärtigen Aufgaben zurück.
Kirchliche Strömungen nach 1918 und die theologischen Positionen in der Judenfrage
Nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches 1918 ereignete sich auch für die Kirchen ein radikaler Umbruch. Die Weimarer Republik entwickelte Verfassungsgarantien für die Religionsgesellschaften, aber sie verstand sich als einen weltanschaulich neutralen Staat. Eine Rechtssituation wurde geschaffen, in der die Kirchen durchaus noch Privilegien genossen, in der sie aber gleichwohl gezwungen waren, mit anderen weltanschaulichen Institutionen zu konkurrieren. Viele protestantische Kirchenführer, Pastoren und Theologieprofessoren empfanden das als Demütigung des christlichen Glaubens. Vor allem die katholische Kirche war gegenüber dem in der Verfassung verankerten Begriff "Religionsgesellschaften" sehr allergisch; verstand vor allem sie, die katholische Kirche, sich doch eben gar nicht als eine normale Religionsgesellschaft sondern als die eine, die wahre Kirche.
Nach dem Ende des Kaiserreiches und des „Landesherrlichen Kirchenregiments“ hatten vor allem die protestantischen Kirchen sich organisatorisch neu zu formieren. Die Landeskirchen gaben sich in manchen Aspekten ähnliche, aber letztlich doch verwirrend unterschiedliche Verfassungen und bildeten durch Kirchenwahlen neue Leitungsstrukturen. Zur Wahrnehmung einer gemeinsamen Außenvertretung schlossen sich im Jahr 1922 die 28 evangelischen Landeskirchen zum Deutschen Evangelischen Kirchenbund auf vertraglicher Grundlage zusammen. Der Kirchenbund war schon organisatorisch ein kompliziertes Gebilde. Er hatte drei Organen, den „Kirchentag“, gewissermaßen das Parlament, den „Kirchenbundesrat“, gleichsam die Länderkammer, und den „Kirchenausschuss“ als Leitungsorgan.
An die Stelle von Thron und Altar trat bei vielen eine christlich protestantische Nationalgesinnung. Exemplarisch dokumentiert das die Vaterländische Kundgebung von 1927 des Kirchentages, in der sich eine starke Nähe zur politischen Rechten dokumentiert. Ich zitiere aus dieser Kundgebung: „Wir sind Deutsche und wollen Deutsche sein. Unser Volkstum ist uns von Gott gegeben… (Die Kirche) will, daß jeder nach bestem Wissen und Gewissen dem Staatsganzen dient und für das Wohl der Gesamtheit Opfer bringt“ . Christentum und Deutschtum seien seit tausend Jahren eng miteinander verwachsen, und durch deutsche Art habe das Christentum sein besonderes Gepräge erhalten. Die Judenfrage wird in der Kundgebung nicht ausdrücklich angesprochen. Aber der völkische Tenor hat zweifellos eine antijüdische Wirkung gehabt. Hinzu kam, dass man sich im protestantischen Kontext vor allem auf Martin Luther berufen konnte, der in seinen späteren Schriften grob antijüdisch gewesen ist.
Die ausdrücklichen Äußerungen in Theologie und Kirche zur Judenfrage am Beginn der dreißiger Jahre lassen drei Typen erkennen.
Antisemitismus und theologische Judenfeindschaft sind miteinander verbunden. Juden gelten als Widersacher des Deutschtums. Begründet wird das mit aus der Schöpfungsordnung Gottes abgeleiteten rassischen, völkischen Urteilen. Gegen den Nomos also gegen den Geist der Gesetzesordnung Israels steht ein germanischer bzw. arischer Volksnomos, den Christus dem deutschen Volk als ein Ordnungsprinzip aufgetragen hat. Das Gebot dient vor allem der Reinerhaltung der deutschen Art und Rasse. Mit den Vorurteilen einer von den Juden selbst verschuldeten Unheilsgeschichte wird denen die theologische Existenzberechtigung abgesprochen. Der Kampf des Staates gegen das Judentum gilt als berechtigt. Diese Einstellung war weit verbreitet und besonders im konservativen Luthertum zu Hause. Als besonders krasses Beispiel zitiere ich Franz Tügel, den Landesbischof in Hamburg seit 1934, der seinen politischen Standpunkt als „national, sozial, antisemitisch und christlich im Sinne Martin Luthers“ bezeichnet.
Antisemitismus aus rassischen Gründen wird verurteilt, oder als eine Sache angesehen, für die einzig der Staat zuständig sei, aber eine negative Bewertung der jüdischen Religion ist gleichwohl übernommen. Nach dieser Einstellung spiegeln große Teile des Alten Testaments die jüdisch gesetzliche, darum nicht gleichwertige Theologie. Eine grundsätzliche Solidarität dieser Einstellung zu Glaubensjuden ist auch hier nicht zu erwarten.
Einem dieser beiden Typen sind die Einstellungen fast aller Kirchenleitungen zuzuordnen. Auch weite Kreise der Bekennenden Kirche dachten so.
Gegen Antisemitismus und den Einfluss rassistischer Politik auf Theologie und Kirche kämpft der dritte Typ. Blut und Rasse dürfen nicht als Faktoren für Kirchengemeinschaft gerechnet werden. Eine Schöpfungsoffenbarung, die die Erwählung Israels zurücknimmt, wird als gegen die Botschaft Christi gerichtet abgelehnt. (K. Barth, D. Bonhoeffer)
In den Gemeinden setzten viele ihre Hoffnungen in die politische Bewegung des Nationalsozialismus. Die meisten der evangelischen Kirchenzeitungen haben den Sieg der nationalsozialistischen Bewegung begrüßt. Hitler hatte die Kirchen zunächst hofiert. Das Parteiprogramm der Nationalsozialisten von 1930 hatte ein „positives Christentum“ proklamiert und die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse versprochen. Nur wenige bemerkten allerdings, was sich hinter der Formel verbarg, die Freiheit der religiösen Bekenntnisse dürfe nicht „gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen“.
Die Glaubensbewegung Deutsche Christen ( DC ) verstand sich als eine kirchliche Erneuerungsbewegung, die den nationalen Aufbruch als von Gott gewollt verstand und entsprechend kirchenpolitisch agierte. Unterstützt wurden die Deutschen Christen bei allen Kirchenwahlen Anfang der dreißiger Jahre von der NSDAP und ihren Gliederungen. Die Partei versprach sich davon vor allem, die evangelischen Kirchen für sich vereinnahmen zu können, wenn die nationalsozialistische Form des Führerprinzips auch auf die Kirche übertragen wäre.
Dem deutschchristlichen Anspruch begegnete die jungreformatorische Bewegung, in der sich ein erneuertes Luthertum und die Anhänger der Dialektischen Theologie verbanden. Nach den fast überall von den DC gewonnen Kirchenwahlen gründete der eigentliche Sprecher der Jungreformatoren Martin Niemöller dann im September 1933 den Pfarrernotbund, nachdem der deutsche evangelische Kirchenbund aufgelöst und vor allem von der deutschchristlichen Bewegung die Konstituierung einer Reichskirche betrieben wurde.
Dagegen formierte sich die "Bekennende Kirche". Die hat ihre geistigen Wurzeln vor allem in der „Dialektischen Theologie“, die in erster Linie vom damals in Münster, später in Bonn lehrenden schweizerischen Theologen Karl Barth begründet und geprägt worden war. Barth hat sich immer wieder, besonders kämpferisch in seiner Schrift Quousque tandem? von 1930 gegen das kirchliche Selbstbewusstsein der national gesinnten Kirchenführungen gewandt und vor allem die attackiert, die in der Geschichte nach dem ersten Weltkrieg die Bestätigung eines „heiligen Dennoch“ erblicken, in dem der in der deutschen Volksseele verwurzelte religiöse Gedanke sich bewähre. Die markanteste Äußerung der Bekennenden Kirche ist die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934, die allerdings auf die Judenfrage nicht ausdrücklich eingeht. Die Auseinandersetzung wurde in erster Linie gegenüber dem Versuch des totalitären Staates geführt, die Kirche ihrem Zweck zu entfremden, ihre Freiheit zu beenden und sie schließlich zu vernichten. Dabei war vor allem die innerkirchliche Auseinandersetzung mit den Deutschen Christen im Blick, die die christliche Überlieferung mit den weltanschaulichen Ideen des Nationalsozialismus verbinden wollten.
Reaktionen auf die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche
Nach dem 30. Januar 1933 hatten die evangelischen Kirchen bereits viel von ihrem Handlungsspielraum in der Judenfrage eingebüßt, soweit sie hier überhaupt eine parteikritische Position gehabt hatten. Weder die Rechtseinschränkungen der Juden nach dem Reichstagsbrand im Februar noch die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im März, auch nicht der am 1. April von der NSDAP inszenierte Boykott jüdischer Geschäfte haben nennenswerten kirchlichen Widerstand zur Folge gehabt. Im Gegenteil, die meisten Kirchenleitungen ließen sich im sogenannten Abwehrkampf gegen angebliche Gräuelhetze der Juden instrumentalisieren; sie begrüßten die staatlichen Maßnahmen oder äußerten Verständnis dafür.
Die „Deutschen Christen“ hatten wie in den meisten Landeskirchen auch in der Generalsynode der Altpreußischen Union (APU) durch die Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 die Mehrheit errungen. Daher übernahm die APU als die größte der Landeskirchen als erste mit dem Kirchengesetz betr. die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten vom 6. September 1933 die politische Zuverlässigkeitsklausel und den Arierparagraphen aus der staatlichen Gesetzgebung . In diesem Gesetz heißt es:
§1
1. Als Geistlicher oder Beamter im kirchlichen Verwaltungsdienst darf nur berufen werden, wer … rückhaltlos für den nationalen Staat und die Deutsche Evangelische Kirche eintritt
2. Wer nicht arischer Abstammung oder mit einer Person nicht arischer Abstammung verheiratet ist, darf nicht als Geistlicher und Beamter der allgemeinen kirchlichen Verwaltung berufen werden. Geistliche und Beamte arischer Abstammung, die mit einer Person nicht arischer Abstammung die Ehe eingehen, sind zu entlassen
§3 Nichtarier „ ... sind in den Ruhestand zu versetzen.“
Entsprechende Beschlüsse fassten dann auch andere Landessynoden, unter ihnen auch drei der nordelbischen Kirchen.
Gegen die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche hatten einige wenige protestiert, so Dietrich Bonhoeffer in seinem im April 1933 gehaltenen Vortrag Die Kirche vor der Judenfrage . Er hat es entschieden abgelehnt, Judenchristen aus der deutschen Kirche auszuschließen. „hier, wo Jude und Deutscher zusammen unter dem Wort Gottes stehen, ist Kirche, hier bewährt es sich, ob Kirche noch Kirche ist oder nicht“ . Bonhoeffer geht es um das Verhältnis zu den getauften Juden. Die Judenfrage insgesamt stelle sich für die Kirche anders als für den Staat. Für die Kirche sei Judentum kein rassischer, sondern ein religiöser Begriff. Darum zielt auch nach Bonhoeffer die Bemühung in der Judenfrage auf Bekehrung zu Christus. Die Leiden der Juden in der Geschichte sieht B. durchaus verursacht durch die Halsstarrigkeit, mit der das Volk den Christus ablehnt, „den Erlöser ans Kreuz schlug (und deshalb) in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen muss…Aber die Leidensgeschichte dieses von Gott geliebten und gestraften Volkes steht unter Heimkehr des Volkes Israel zu seinem Gott“.
Selbst Bonhoeffer folgt hier dem in den neutestamentlichen Texten vorhandenen Vorwurf, die Juden seien schuld am Kreuzestod Jesu. Allerdings bietet Bonhoeffer dabei keinen Raum für antisemitischen Missbrauch des Kreuzes als Hassinstrument gegen Juden. Allerdings ist der Vorwurf, den auch Bonhoeffer erhebt, die Juden seien schuld am Kreuzestod, der bequeme Weg, die eigentlichen Verursacher des Kreuzes zu verschleiern. Die sind eben nicht die rassischen oder religiösen oder völkischen Juden, sondern es sind Menschen wie du und ich, es sind du und ich. Kaiphas und Pilatus, Petrus und die anderen Jünger. Judas und das beteiligte Volk in den Geschichten vom Kreuz sind nicht die individuellen Akteure und Verantwortlichen einer brutalen Mordgeschichte. Sie sind Modelle für dich und mich. Keine antisemitische oder antijüdische Deutung der Geschichte kann uns entlasten. Im Gegenteil, der antijüdische Missbrauch entlarvt, was wir verdrängen.
Zurück zu Bonhoeffer und seinem Vortrag Die Kirche vor der Judenfrage. Was die Maßnahmen des Staates angehen, so seien die nur insofern Sache des Interesses der Kirche, ob hier ein Zuviel an Gesetz und Ordnung oder ein Zuwenig angewandt werde. Die Forderungen der Stunde an die Kirche in der Judenfrage sieht Bonhoeffer in diesem Vortrag zunächst in zwei Aufgaben:
Den Staat nach der Legitimität seines Handelns kritisch zu fragen, ihn also verantwortlich zu machen für das, was er veranlasst.
Den Opfern des staatlichen Handelns zu dienen.
Die Kirche darf sich „in Zeiten der Rechtswandlung diesen beiden Aufgaben nicht entziehen.“
Die dritte Möglichkeit kirchlichen Handelns hat Bonhoeffer in seinem Vortrag erwähnt, nämlich „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“ Solches Handeln ist dann geboten, wenn die Kirche „den Staat hemmungslos ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht verwirklichen sieht“. Auch solcher Widerstand diene dem Schutz und der Erhaltung des Staates vor sich selbst. Aber für soweit gekommen hielt Bonhoeffer die Zeit im April 1933 noch nicht.
Gegen das Kirchengesetz der APU wandte sich auch ein Gutachten der Marburger Theologischen Fakultät vom 11. 9. 1933. Auch etliche deutsche Professoren für Neues Testament unterstrichen in einer Erklärung, dass allein Glaube und Taufe die Kirche konstituieren, nicht Rasse oder Volkszugehörigkeit. Ein Gegengutachten kam aus Erlangen, unterzeichnet von Paul Althaus und Werner Elert. Sie meinten, in der Verbundenheit mit Christus gäbe es zwar keinen Unterschied zwischen getauften Juden und Nichtjuden. „Aber die allen Christen gemeinsame Gotteskindschaft hebt die biologischen und gesellschaftlichen Unterschiede nicht auf“. Der Staat habe zu entscheiden, wer zum Volk gehört und wer zum Gastvolk. „…im Ringen um die Erneuerung unseres Volkes schließt der neue Staat Männer jüdischer oder halbjüdischer Abstammung von führenden Ämtern aus.“ Dieses Recht des Staates müsse die Kirche anerkennen und auch für ihren Bereich entsprechende Konsequenzen ziehen.
Organe der verfassten Kirche haben gegen die Judendiskriminierung nicht protestiert. Nur wenige Stimmen wie Martin Rade oder Hermann Mulert haben das unermüdlich beanstandet, bis auch diese Stimmen schließlich mundtot gemacht worden sind.
Unmittelbar nach der „braunen“ Generalsynode der APU hat Bonhoeffer dann gemeinsam mit Martin Niemöller eine Erklärung verfasst, die die Vorform des Aufrufs zur Gründung des Pfarrernotbundes wurde. Auslöser dieser Entscheidung zum innerkirchlichen Widerstand ist also die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche gewesen.
Bonhoeffer hatte auch einen Entwurf für das so genannte Betheler Bekenntnis gemacht, das in seiner Endfassung im Dezember 1933 von M. Niemöller herausgegeben wurde. Das erwähne ich hier, weil es die wichtigste theologische Begründung des Widerspruchs gegen den Arierparagraphen enthält und zugleich mit seiner abgeschwächten Endfassung, der Bonhoeffer seine Zustimmung versagte, deutlich machte, wie vorsichtig auch die Leute um Niemöller taktierten, die die antisemitische Weltanschauung nicht teilten. In der von Bonhoeffer vorgelegten Erstfassung heißt es: Der „Heilige Rest“ Israels „trägt den Charakter indelebilis des auserwählten Volkes“… Die Gemeinschaft der zur Kirche Gehörigen wird nicht durch das Blut und also auch nicht durch die Rasse, sondern durch den Heiligen Geist und die Taufe bestimmt….Es kann nie und nimmer Auftrag eines Volkes sein, an den Juden den Mord von Golgatha zu rächen…“ Diese Passage fehlt in der dann später veröffentlichen Fassung.
Hinweisen möchte ich noch auf „72 Leitsätze zur judenchristlichen Frage“, die der Bochumer judenchristliche Pastor Hans Ehrenberg verfasst hat. Ehrenberg, der 1909 zum lutherischen Christentum konvertiert war, entfaltet sein Verständnis des „Judenchristen“ und macht deutlich, dass schon der Begriff des „getauften Rassejuden“ durch die Rassenideologie in die Kirchensprache eingetragen worden sei.
Mit dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze im September 1935 ist dann ein Markstein des Bösen gesetzt, das in der schrecklichen, systematisch geplanten Vernichtung der Juden mündete. Auch das ist von den meisten bei Erlass des Gesetzes nicht erkannt worden. Das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" und das Reichsbürgergesetz schienen den meisten Menschen, auch vielen Christen in unserem Land gute Gesetze zu sein. Man hatte die dahinter liegende verschrobene Rassetheorie im Einzelnen nicht sonderlich ernst genommen. Man dachte an eine Aufwertung des deutschen Menschen und freute sich über die Steigerung des Selbstwertgefühls der Volksgenossen. Nur wenige haben bedacht, dass diejenigen, die von den Nürnberger Gesetzen getroffen wurden, auch deutsche Bürgerinnen und Bürger waren. Das gehört schon immer zur besonders gefährlichen Kunst des Verführers: Man fühlt sich selbst dadurch besser und überlegen, dass man schlechte Eigenschaften auf andere projizieren kann. Das Böse ist vielen nicht gleich als solches kenntlich. Es trägt oft ein Gesicht, das kritische Menschen zwar rechtzeitig entlarven, sie finden mit ihren Warnungen aber kein Gehör, weil das Böse von den meisten erst dann als böse erkenntlich ist, wenn die verheerenden Folgen eingetreten sind: Judenpogrome am 9.11.1938 und dann das, was die Nazis die Endlösung der Judenfrage nannten und in den Vernichtungslagern endete. Verantwortung für das Böse tragen Millionen Menschen – als rohe Täter, als bürokratische Organisatoren, als willige Helfer, als billigendes, akklamierendes, als schweigendes, wegsehendes, verdrängendes Volk, die meisten von ihnen Christen und Christinnen, die von dem größten Teil ihrer Kirchenleitungen nicht gewarnt, sondern vielmehr darin bestärkt wurden. Schon gar nicht haben sie Impulse zum Widerstehen erhalten. Nur wenige haben durchschaut, was geschah, und haben widerstanden.
In den meisten Landeskirchen gab es dagegen systematische Bemühungen um die „Entjudung der Kirchen“. Als ein besonders wirkungsvolles Instrument sollte das im Mai auf der Wartburg 1939 eröffnete Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben dienen. Es wurde als ein Beitrag zum nationalsozialistischen „Weltkampf gegen das Judentum“ von zahlreichen Kirchenführern und namhaften Theologen getragen und gefördert. Der Geist und die Sprache des Instituts jedenfalls weisen hin auf die enge Verbindung zu dem, was „Endlösung der Judenfrage“ genannt wurde. Wegen des dann beginnenden Krieges und auch wegen des Widerstandes unter vielen Pfarrern hat das Institut wohl nur noch eine beschränkte gesamtkirchliche Wirkung gehabt. Allerdings sind fast alle damals Beteiligten nach 1945 in Amt und Würden geblieben.
Die angeblich edle Sorge um die Reinheit des deutschen Glaubens und der germanischen Rasse ist in Wahrheit böse, rassistische Menschenverachtung, nichts anderes als überhebliche Selbstüberschätzung. Daran hätte erinnert werden müssen: Die Bibel beschreibt eine Würde, die den rassistischen Einschätzungen widerspricht. Gott will, dass der Mensch eine Beziehung eingeht von Anfang an. Du und ich, ich und du. Gott ist Liebe. Darum: Ich und du. Das ist die einzige menschengemäße Unterscheidung zwischen uns, nicht Klassen oder Rassen, nicht Gruppen oder Sippen oder Blutsgemeinschaften, nicht Hautfarben oder Nationalitäten oder Vaterländer. Ich und du, in gleicher Würde mit allen Menschen in Gottes Schöpfung. Allen ist die gleiche Würde verliehen.
Zur Geschichte der Bewältigung nach 1945
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 hatte zwar die Mitschuld von Kirche und Christen an dem bekannt, was der Nationalsozialismus über unser Land und die Welt gebracht hat, das Verhältnis von Christen und Juden dabei aber unerwähnt gelassen. Das „Wort zur Judenfrage“ des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1948 hatte zwar beteuert, es sei der Kirche „verwehrt, die Judenfrage als ein rassisches oder völkisches Problem zu sehen und ihre Haltung gegenüber dem Volk Israel wie gegenüber dem einzelnen Juden von daher bestimmen zu lassen“. Aber dann wurde doch das alte Muster von Israels Verwerfung entfaltet.
Erst in der Erklärung der Synode der EKD im April 1950 in Berlin-Weißensee wurde von einer Teilhabe der Christen an der Schuld gegenüber den Juden gesprochen. Obwohl diese Erklärung wie auch entsprechende Worte aus den Landeskirchen die Schuld an den Juden in erster Linie als ein Versagen im sozialen und politischen Miteinander beschreiben, als Unterlassen von Hilfe, als Schweigen zu Verfolgung und Vernichtung, wird hier erstmals in einem Synodenbeschluss festgestellt, dass „Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist".
Es ist wohl einer in jenen Jahren vorherrschenden "Sprachlosigkeit" in der Kirche zuzuschreiben, die es verhinderte, dass die geistliche und theologische Bedeutung des Verhältnisses der Christen zu den Juden in das Bewusstsein der Öffentlichkeit trat. Jedenfalls hat es 25 Jahre gedauert - von der Synode in Weißensee bis zur Verabschiedung der Studie "Christen und Juden" durch die EKD im Jahre 1975 -, bis das Gespräch in Gemeinden und Synoden richtig in Gang kam und eine Reihe von Landeskirchen eigene Stellungnahmen abgaben. Die Synodal-Erklärung „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980 war dann die erste Erklärung einer Synode, die „die Mitverantwortung und Schuld der Christenheit in Deutschland am Holocaust" auch als Folge einer falschen Theologie bekannt hat. Die Erklärung „ist erstens eine Absage an den Antijudaismus, der lange Zeit die Theologie bestimmt hat. Sie ist zweitens eine Absage an den Antisemitismus, der lange Zeit die politischen Gedanken und Gefühle der Christenheit bestimmt hat. Sie ist drittens die Anerkennung der unverlierbaren Eigenheit Israels in der Geschichte Gottes mit der Welt und in der Weltgeschichte, und sie ist viertens die Selbstverpflichtung, in Predigt und Unterricht die neu entdeckte Erkenntnis von der Zusammengehörigkeit der Kirche mit Israel zur Geltung zu bringen und die zögerlichen und kritischen Teile der wissenschaftlichen Theologie dafür zu gewinnen.“
Die Menschen, die diesen Prozess getragen und befördert haben, kamen und kommen vornehmlich aus zwei Bewegungen, den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.
Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit waren angetreten mit dem Ziel, rassischen, nationalen und religiösen Vorurteilen entgegenzuwirken vor dem Hintergrund der schrecklichen Geschichte, die in Auschwitz ihren Tiefpunkt erreicht hat. Die Wurzeln des Antisemitismus sollten bloßgelegt werden - gerade auch die, welche ihren Grund in christlicher Theologie und kirchlicher Wirksamkeit haben.
Der 1961 gegründeten Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag ist es zu danken, dass bei der Erörterung der Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Israel Christen und Juden nicht jeweils unter sich blieben. Es konnte zur Verständigung kommen, weil jetzt miteinander gesprochen wurde, respektvoll aufeinander hörend und nicht mehr übereinander wie die Jahrhunderte vorher, verhörend, beschimpfend, missionierend.
Mit den Forschungen über die Anteile der christlichen Überlieferung am Entstehen und an den Zuspitzungen des Antisemitismus bis hin zum Holocaust ist eine Bußbewegung in Gang gekommen, die heute ein wichtiges Bollwerk gegen das Wiedererstarken des Antisemitismus ist.
Als ein herausragendes Ereignis in der Evangelischen Kirche im Rheinland erwähne ich den Bau der neuen Synagoge in Wuppertal unmittelbar neben der Kirche von Barmen-Gemarke, in der 1934 die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode verabschiedet worden war. Das Grundstück wurde von der Evangelischen Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt und von der Evangelischen Kirche im Rheinland bezahlt.
Die räumliche Nähe zwischen Kirche und Synagoge wird von vielen als das Zeichen für „die fehlende 7. These von Barmen“ bezeichnet. Die jüdische Gemeinde, die örtliche Evangelische Kirchengemeinde und die ganze Evangelische Kirche im Rheinland schätzen die neue Bergische Synagoge als eine neue Dimension des gegenseitigen Verhältnisses. Als Ort des Gebetes, des Wortes Gottes und des religiösen jüdischen Lebens weist sie den Weg in eine - hoffentlich bessere - Zukunft.
Uns Christen macht die nachbarschaftliche Nähe der Gebäude auch auf den Schmerz über fortdauernde Leiden der Juden in unserem Land aufmerksam: Jüdische Einrichtungen können in unserem Land nicht ohne Polizeischutz sein. Nun überträgt sich das zum ersten Mal auch auf eines unserer Kirchengebäude. Wir spüren plötzlich hautnah die Bedrohung, die Polizeipräsenz, Schutzzäune und elektronische Sicherungen nötig macht. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen können wir die Gefahren des Antisemitismus deutlicher erkennen und ihnen leichter widerstehen. Denn die gegenseitigen Gesten sind es, die eine Gegenbewegung in Gang halten gegen alle antisemitischen Regungen und Auswüchse, die unser Land immer wieder erschüttern.
Die Kraft neu gewonnener Einsichten muss sich bewähren.
Zum Schluss spreche ich zwei Bereiche an, an denen sich die Kraft der neu gewonnenen theologischen Einsichten bewähren muss, um dem Antisemitismus in unserer Kirche den Boden zu entziehen.
Die Diskussion der Judenmission
Die Judenmission ist „durch die Hypothek der im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte aufgetretenen Judenfeindschaft unerträglich belastet, wobei als deren letzte und extreme Auswirkung der Versuch der totalen Vernichtung des europäischen Judentums in der Schoa verstanden wird“, heißt es in der Denkschrift der EKD Christen und Juden. Die historischen Gründe für die Absage an die Judenmission sind daher verständlich.
Wenn aber theologisch „ein neues Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk“ beschrieben und „die bleibende heilsgeschichtliche Bedeutung Israels“ sowie „die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottesvolk“ betont wird, muss das Auswirkungen auf die Frage der Judenmission haben. So wurde in der Rheinischen Kirche gefolgert, „dass Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind“ und dass daher „die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann“. Das bedeutet eine Absage an jede institutionelle Form der Judenmission. Die Kirche hat ihre Mission an die Völker in Teilnahme und Teilhabe an dem Zeugendienst Israels vor der Welt zu verstehen. Die Beauftragung der Kirche zur Mission richtet sich nicht an Israel, sondern nach Mt 28 an die „Völker“. Damit ist nicht Israel gemeint, damit ist Israel auch nicht mitgemeint. In der Sendung Jesu an Israel geht es um die Umkehr im Bund, die Umkehr im Vaterhaus. Judenmission würde fälschlich voraussetzen, Israel sei von Gott verworfen und auf die Stufe der „Völker“ zurückgefallen.
Ob Israel zu seiner „Umkehr im Vaterhaus“ Jesus als den Messias nötig hat, ist nach wie vor umstritten. Die judenchristliche Jüngergemeinde und die frühchristliche Missionsgeschichte jedenfalls haben auf das Christuszeugnis nicht verzichtet.
Die Studie der EKD Christen und Juden III hat mit ihren begrifflichen Klärungen von „Zeugnis“, „Begegnung“, „Dialog“ der Diskussion dieser Frage entscheidend weitergeholfen:
„Christen und Juden begegnen einander als Zeugen in der Weise, dass sie jeweils ihre Glaubenserfahrung und Lebensform einbringen. Damit wäre ausgeschlossen, dass unterschiedliche Machtpositionen einseitig ausgespielt werden oder dass ein Partner als bloßer Sender, der andere als bloßer Empfänger einer Botschaft erscheint“.
Die Denkschrift der EKD stellt daher fest:
„Judenmission - sofern man darunter eine planmäßig durchgeführte, personell und institutionell organisierte Aktivität von Christen mit dem Ziel der Verbreitung christlichen Glaubens unter jüdischen Menschen versteht - gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern. Seit langem stehen stattdessen die Begegnung von Christen und Juden sowie der offene Dialog zwischen ihnen auf der Tagesordnung der Kirchen.“
Diese Wandlung der Christlichen Theologie nach dem Holocaust ist von vielen Juden mit Aufmerksamkeit und Anerkennung beobachtet worden. Dennoch ist für viele von ihnen ein Ende der langen Erfahrung von „Mission“ als Erniedrigung, als Verfolgung, als Zwang, als Diskriminierung der eigenen Existenz nicht in Sicht. Es irritieren nicht nur die Umarmungsversuche messianischer Eiferer und die Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen. Auch der im Synodalbeschluss formulierte Auftrag des Zeugnisses voreinander wird, soweit er das christliche Zeugnis gegenüber den Juden betrifft, als getarnter Vereinnahmungsversuch verstanden. Es gehört zum Wesen unseres Glaubens, dass er sich nicht im Privaten versteckt, sondern öffentlich bezeugt wird. Es ist wohl noch ein langer Weg, bis uns das gelingt, ohne Juden in ihrem Selbstverständnis zu beschädigen.
b) Die Errichtung des Staates Israel
Ein anderes Thema, das nach dem Beschluss der Rheinischen Synode umstritten blieb, ist die „Einsicht, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind.“
Umstritten war dabei nicht die völkerrechtliche Legitimität des Staates Israel. Es war vielmehr die Furcht, mit einer Verallgemeinerung dieser Aussage im Synodalbeschluss könnte allerlei Staatlichkeit dem Gottesgnadentum zugeordnet werden. Hier ist aber nichts zu verallgemeinern. Peter Beier, mein Vorgänger im Amt des rheinischen Präses, hat den Satz so interpretiert:
„Die Synode hat hier ihr ehrfürchtiges Staunen darüber ausgedrückt, dass trotz des frevelhaften Versuches unseres Volkes, den Augapfel Gottes nicht nur anzutasten, sondern auszureißen, das jüdische Volk lebt.“
Eine Feststellung wie diese will den Staat als eine politische Realität nicht religiös überhöhen. Vor allem dürfen über die von den Vereinten Nationen gezogenen Grenzen hinaus keine Landansprüche mit biblischen Landverheißungen legitimiert werden, wie das von einigen religiösen Gruppen offensichtlich versucht wird. Soweit territoriale Ansprüche und ihre Bestreitung religiös untermauert werden, bleibt kaum Raum für pragmatischen Ausgleich und vernünftigen Kompromiss, vor allem, wenn eine Seite mit der Ideologie des Heiligen Krieges die Mordtaten begründet und die Selbstmordattentäter zu Märtyrern stilisiert. Darum ist der kritische Umgang mit Religion eine unaufgebbare Forderung. Sie wird auch von jüdischer Seite erhoben.
Gleichermaßen ist es erlaubt, eine bestimmte Politik zu kritisieren, auch die Politik der derzeitigen israelischen Regierung. Kritik ist nicht schon an sich antisemitisch. Doch sie muss sachgerecht sein. Sie muss berücksichtigen, dass das Recht Israels auf einen eigenen Staat immer wieder bestritten wird. Dagegen und gegen sinnlose Attentate darf sich der Staat zur Wehr setzten. Man kann die Formen, in denen das geschieht, kritisieren, aber nicht den Grundsatz. Vor allem dürfen Kritiker in ihrer Terminologie dem Antisemitismus keine neue Nahrung geben. Das geschieht, wenn sich diese Kritik gegen die Juden insgesamt richtet oder wenn das Verhalten der gegenwärtigen Regierung als typisch jüdisch diffamiert wird. Besonders böse aber ist es, wenn - wie weiland von Herrn Möllemann - den Juden die Schuld am Antisemitismus zurückgespielt und das politische Verhalten der israelischen Regierung als Ursache für das Anwachsen von Antisemitismus bezeichnet wird.
Der Wandel der theologischen Einsicht in unserer Kirche ist nicht zu übersehen. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass Juden und Christen einander näher gekommen sind. Was aber ist erreicht, wenn der Antisemitismus offenbar europaweit eher zu- als abnimmt? Ein Grund zur Beruhigung besteht nicht. Traditionen, auch böse Traditionen, sind zäh. Das theologische Grundmuster, nach dem der neue Bund den alten ersetze und die eigene Heilsgewissheit zur Verachtung der anderen berechtige, sitzt tief und kommt nicht nur im Miteinander von Christen und Juden ans Licht. Dazu kommen die mitlaufenden untergründigen Überlieferungen in den Familien mit ihren Relativierungen der Schuld und den Verklärungen der deutschen Vergangenheit. Das nehmen junge Leute in sich auf und haben für die geschichtliche Schuld der Vergangenheit keinen Blick. Viele Menschen in unserem Land wehren sich gegen den Antisemitismusvorwurf, weil er sie an die deutsche Kriegslust und an die industrielle Menschenvernichtung erinnert. Das ist mühselig und quälend. Darum ist die Sehnsucht nach Schluss-Strichen groß. Aber die Geschichte bleibt wirksam nur, soweit sie erinnert wird. Daher ist der Kampf gegen rassische, nationalistische und religiöse Vorurteile nicht zu Ende. Wir müssen immer wieder prüfen, ob wir genug tun, um die heranwachsende Generation im Geist der Verantwortung zu erziehen. Das Ziel muss bleiben, dass jeder Einzelne die historische Verantwortung aus dem Gedenken an die Schrecken der Vergangenheit herleiten kann. Niemand kann sich durch Pochen auf Verjährung aus der Geschichte stehlen. Es dauert nicht mehr lange, dann wird niemand mehr leben, der persönliche Schuld an den Verbrechen der Hitlerzeit trägt. Die Schuld wird danach darin bestehen, die Haftung für unsere Geschichte zu verweigern und der daraus resultierenden Verantwortung auszuweichen.