Wissenschaft verantworten - Überlegungen zur Ethik der Forschung, Göttinger Universitätsrede

Wolfgang Huber

I.

Als Ort, über die Verantwortung der Wissenschaft zu sprechen, ist die Universität Göttingen besonders gut geeignet. Zwei Vorgänge vor allem verpflichten sie dazu, das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung immer wieder neu lebendig werden zu lassen. Mit den Göttinger Sieben von 1837 sowie mit der Göttinger Erklärung von 1957 ist die Verantwortung der Wissenschaft in einem besonderen Sinn verbunden, nämlich als öffentliche Verantwortung aus der spezifischen Kompetenz des Wissenschaftlers heraus.

Der Begriff der Göttinger Sieben verbindet sich mit den politischen Auseinandersetzungen im Königreich Hannover in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. König Ernst August hatte sich schon als Kronprinz gegen das neue, konstitutionelle Ideen aufnehmende Staatsgrundgesetz von 1833 aufgelehnt. Nachdem er 1837 die Regierung übernommen hatte, löste er den Landtag auf und erklärte die Verfassung für ungültig; so wollte er zur ständischen Verfassungsordnung zurückkehren. Dagegen protestierten sieben Professoren dieser Universität, unter ihnen die Historiker Dahlmann und Gervinus sowie die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Dahlmann übrigens hatte eine Professur inne, die Geschichte und Politik miteinander verband.

Diese Professoren fühlten sich zu ihrem Protest als Bürger und Staatsbeamte ebenso verpflichtet wie als Wissenschaftler. Was ihre Rolle als Wissenschaftler betraf, so erklärten sie, dass der akademische Lehrer gegenüber dem Rechtsbruch für Wahrheit und Recht einzutreten habe. An dieser Position hielten sie auch fest, als der damals führende Philosoph dieser Universität, Johann Friedrich Herbart, der Teilnahme von Wissenschaftlern am politischen Leben entgegenhielt, dadurch werfe die Universität ihre geistige Existenz in die Zeit und mache ihre Gedanken zur Beute des Augenblicks.

Die sieben protestierenden Professoren des Jahres 1837 wurden alsbald zu Opfern der staatlichen Unduldsamkeit. Sie verloren allesamt ihre Lehrstühle; Dahlmann, Jacob Grimm und Gervinus wurden sogar des Landes verwiesen (glücklicherweise begann das Ausland freilich schon bald hinter Göttingen), weil ihnen die Verantwortung für die Publikation des Professorenprotests zugeschrieben wurde. Dabei hatten sie sich nach ihrer festen Überzeugung nicht gegen den Staat aufgelehnt, sondern gerade diesen Staat in seiner verfassungsmäßigen Ordnung gegen die Willkür des neuen Monarchen verteidigt.

Festzuhalten bleibt: Es handelt sich bei den Göttinger Sieben nicht nur um einen Akt staatsbürgerlicher Renitenz, die von jedem anderen genauso gut hätte geübt werden können. Sondern die Protestierenden verbanden die Pflicht zum öffentlichen Widerspruch so klar mit ihrem wissenschaftlichen Beruf, dass sie sogar die Überzeugung zum Ausdruck brachten, eigentlich hätte die Universität als Institution diesen Widerspruch artikulieren müssen. Ihr Argument war, dass die Wissenschaft kraft Amtes ein Anwalt der Wahrheit und des Rechts ist. Wissenschaft als Beruf, um Max Webers berühmten Titel zu zitieren, schließt nach dieser Auffassung die Pflicht ein, für Wahrheit und Recht einzutreten.

Den Göttinger Sieben tritt 120 Jahre später die Göttinger Erklärung zur Seite. Achtzehn Atomphysiker erklärten in der Phase der beginnenden Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland, dass sie nicht bereit sein würden, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Die Debatte über die atomare Rüstung trat durch diese Erklärung, an der unter anderen Max Born und Walther Gerlach, Otto Hahn und Werner Heisenberg, Max von Laue und Carl Friedrich von Weizsäcker beteiligt waren, in eine neue Phase. Ob durch die Drohung mit Atomwaffen deren Einsatz verlässlich verhindert werden könne, stand nun genauso im Zweifel wie die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland mit solchen Waffen ausgestattet werden solle. Die Unterzeichner stellten die politische Erwägung an, dass ein kleines Land wie die Bundesrepublik sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Zu dieser politischen Aussage fühlten sie sich als Nichtpolitiker deshalb berechtigt, weil sie als Forscher und akademische Lehrer verpflichtet seien, sich der Verantwortung für die Folgen ihrer Tätigkeit zu stellen.

Auch diese Erklärung aus dem Jahr 1957 enthält mehr als nur eine politische Stellungnahme, zu der sich Staatsbürger zusammentaten, die zufällig auch Wissenschaftler waren. Es wird vielmehr eine spezifisch wissenschaftliche Verpflichtung geltend gemacht: Wissenschaftler müssen die Öffentlichkeit über die möglichen Auswirkungen wissenschaftlicher Entwicklungen aufklären; sie müssen bereit sein, für die Folgen ihres wissenschaftlichen Tuns Verantwortung zu übernehmen; und sie müssen der jungen Generation, die sie in die Wissenschaft einführen wollen, über ihr Tun und seine Folgen Rechenschaft ablegen. Aufklärung, Folgenverantwortung und Rechenschaftspflicht verbinden sich mit der Vorstellung von einer besonderen Verantwortung der Wissenschaft, sich im Anschluss an die Göttinger Erklärung in der deutschen Diskussion etabliert hat.

Unter diesen drei Gesichtspunkten hat in der Folgezeit derjenige der Folgenverantwortung herausragende Bedeutung gewonnen. Hans Jonas war es, der mit seinem Prinzip Verantwortung die Folgenverantwortung zum entscheidenden ethischen Prinzip überhaupt erhob. Handle so, dass die Folgen deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden, so hieß sein Kategorischer Imperativ, sein moralisches Credo. Die weitreichenden Wirkungen wissenschaftlicher Entdeckungen  und der von ihnen bestimmten technischen Innovationen geben diesem Credo eine hohe Plausibilität. Für eine Wissenschaft, die sich nicht nur gesinnungsethisch, sondern auch verantwortungsethisch versteht (um noch einmal Max Weber zu zitieren), stellt sich die Aufgabe, künftige Folgen abzuschätzen und das Ergebnis in gegenwärtige Entscheidungen einzubeziehen, mit unausweichlicher Dringlichkeit. Nachhaltigkeit wird zu einem Prüfmaßstab nicht nur für politische Entscheidungen, sondern auch für wissenschaftlich-technische Innovationen.

Aber vor einer einseitigen Betonung des Jonasschen Kriteriums muss man zugleich warnen. Denn da die künftigen Folgen gegenwärtiger Handlungen immer nur mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit vorausgesagt werden können, verwandelt dieses Kriterium, wenn es absolut gesetzt wird,  die wissenschaftsethische Diskussion weithin in einen Streit über die Folgenabschätzung, in dem man sich wechselseitig Alarmismus beziehungsweise Verharmlosung vorzuwerfen pflegt. Es enthält durchaus auch problematische Züge, wenn man Hypothesen über die Zukunft zum maßgeblichen Kriterium für die Rechtfertigung oder Verwerfung von Handlungen macht. Es erscheint deshalb als unumgänglich, zugleich die Frage zu stellen, ob Handlungen in sich selbst rechtfertigungsfähig sind. Ob die Zwecke und Mittel wissenschaftlichen Handelns intrinsisch gerechtfertigt werden können, ist ein nicht zu vernachlässigender Maßstab dafür, ob dieses Handeln in seinen Folgen gerechtfertigt werden kann.

Man wird dabei übrigens feststellen, dass Handlungen, die im Blick auf ihre Folgen problematisch sind, häufig auch schon in sich selbst Anlass zu ethischen Zweifeln bieten. Maßnahmen beispielsweise, die durch hohen Ressourcenverbrauch gekennzeichnet sind, verdienen Kritik nicht nur, weil sie auf künftige Generationen negative Auswirkungen haben, sondern auch, weil sie die Ungleichheit der Ressourcenbeanspruchung unter den gleichzeitig Lebenden verstärken.

Die wissenschaftsethische Diskussion unserer Tage, so wollte ich in Anknüpfung an die beiden Göttinger Beispiele illustrieren, ist keineswegs vom Himmel gefallen, sondern hat beeindruckende Vorläufer. Es freut mich deshalb, dass die wissenschaftsethische Diskussion in Göttingen auch heutzutage äußerst lebendig ist, wie beispielsweise die von Christian Starck herausgegebenen Akademievorträge über Verantwortung der Wissenschaft und andere Beiträge aus dieser Universität deutlich machen. Auch an solchen neueren Veröffentlichungen zeigt sich, dass die wissenschaftsethische Diskussion der Gegenwart besondere Anlässe hat und deshalb auch besondere Formen annimmt.

Die Struktur, in der sich das wissenschaftsethische Problem heute stellt, soll uns deshalb in einem nächsten Schritt beschäftigen. Im Anschluss daran will ich fragen, ob die Theologie zur Klärung wissenschaftsethischer Fragen etwas Spezifisches beitragen kann. Abschließend will ich die Ebenen heutiger wissenschaftsethischer Urteilsbildung erörtern und dazu einige praktische Vorschläge vorlegen.

II.

Gewiss ist die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft nicht neu. Nach ihr ist vielmehr gefragt worden, seit Aristoteles die Wissbegier als einen der Grundantriebe des Menschen identifiziert hat. Aus diesem Anstoß hat sich eine Theorie der Wissenschaft entwickelt, die an der Wahrheitserkenntnis um ihrer selbst willen ausgerichtet ist. In diese Tradition hat sich noch ganz bewusst Max Weber gestellt, als er im Jahr 1917 Wissenschaft als Beruf beschrieb. Schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit war die einzige Tugend, die er im Hörsaal gelten lassen wollte. Eine möglichst weitgehende Zurückhaltung in allen Werturteilen und der Verzicht auf alle politische Parteinahme waren die für ihn unausweichlichen Konsequenzen. Die Professionalität des Wissenschaftlers verband er mit einer spezifischen, jeder Profession mitgegebenen Selbstbegrenzung. Wer in der Wissenschaft seine Bestimmung sieht, so hieß seine Überzeugung, ist auch verpflichtet, sich innerhalb der Wissenschaft zu bewegen.

Das Ethos forschender Objektivität um der Wahrheit willen ist jedoch an die Bedingung menschlicher Freiheit gebunden. Das Ideal der Objektivität lässt sich nur aufrechterhalten, wenn der Prozess des Forschens von fremder Bestimmungsmacht freigehalten werden kann. Doch die Zusammengehörigkeit von Forschung und Freiheit wurde in der Neuzeit darüber hinaus auch darin gesehen, dass die Fortschritte der Forschung der Entfaltung menschlicher Freiheit zugute kommen. In der Sattelzeit der Moderne, also den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1830, wurde diese Verknüpfung von Forschung und Freiheit über den Begriff des Fortschritts mit besonderer Emphase proklamiert. Die Freiheit des Menschen wurde als Unabhängigkeit von den Zwängen der Natur definiert; der entscheidende Maßstab für den Fortschritt der Erkenntnis aber wurde darin gesehen, ob er die Menschen von den Mühseligkeiten der menschlichen Existenz befreie, wie Bertolt Brecht das in seinem Leben des Galilei nannte.

Doch in dem Maß, in dem die naturwissenschaftlich fundierte Technik alle Lebensbereiche veränderte, verstärkte sich auch deren Eigenbedeutung. Das naturwissenschaftliche Zeitalter, von dem Rudolf Virchow als erster sprach, erforderte auch neue Formen der Forschungsorganisation. Wolfgang Frühwald, forschungserfahren wie er ist, hat Forschung als die systematische, methodengeleitete und überprüfbare wissenschaftliche Suche nach Erkenntnis bezeichnet, mit deren Hilfe der Mensch die Gesetze der Natur (auch seiner eigenen) zu entdecken und zu beschreiben sowie die Entstehung, Entwicklung und Wirkweise der von ihm selbst geschaffenen Kulturen zu verstehen und zu erklären sucht. Solche Forschung braucht eigenständige institutionelle Voraussetzungen.

Von der Verknüpfung zwischen Forschung und Freiheit, die in der Neuzeit so emphatisch behauptet wurde, ist auf diesem Weg vor allem das Postulat der Forschungsfreiheit übrig geblieben. Die innere und äußere Freiheit des Forschers in der Definition seines Untersuchungsgegenstandes und in der Wahl des Forschungsweges wie auch im Recht zur Veröffentlichung seiner Untersuchungsergebnisse ist im Grundsatz als forschungsethisches Prinzip weithin anerkannt. In der Bundesrepublik Deutschland ist es aus guten Gründen seit 1949 mit Verfassungsrang ausgestattet. Nach dem Missbrauch von Forschung in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes war dies eine Weichenstellung von großer Tragweite.

Doch mit den beiden Wertentscheidungen der Objektivität und der Forschungsfreiheit ist die Suche nach Kriterien der Wissenschaftsethik keineswegs abgeschlossen. Denn fraglose Geltung haben diese beiden forschungsethischen Prinzipien nur für prozesshaft verfahrende Wissenschaften, also für diejenigen Forschungen, bei denen sich das Ergebnis der Forschung im Forschungsvollzug herausstellt, aber nicht im vorhinein geplant wird. Heute dagegen erweitert sich gerade derjenige Bereich der Forschung, den man im Unterschied zu dieser prozesshaft verfahrenden Forschung als resultathaft orientierte Forschung bezeichnen kann.

In ihr soll für ein vorweg definiertes Resultat durch Entdeckung und Experiment der günstigste Weg gefunden werden. Wissenschaft ist nicht mehr generell dem Ziel der Wahrheitserkenntnis zugeordnet, sondern an bestimmten Zwecken orientiert. Die ökonomische Verwertbarkeit der von ihr entwickelten Mittel zu solchen Zwecken ist dabei von vornherein im Blick. Forschungen dieser Art sind in aller Regel in einen dichten internationalen Wettbewerb eingebunden. Gerade an ihren vordersten Fronten hat Forschung in vollem Umfang an den Prozessen Anteil, die wir mit dem Begriff der Globalisierung zu bezeichnen pflegen. Die Resultat- und Konkurrenzorientierung der Forschung droht in solchen Fällen die Maßstäbe zweckfreier Objektivität sowie der inneren und äußeren Forschungsfreiheit in ihrer Bedeutung zu überlagern.

In wichtigen Bereichen hat diese resultathaft orientierte Forschung einen staunenswerten Siegeszug angetreten. Die Informationstechnologien und die Lebenswissenschaften sind dafür die deutlichsten Beispiele. Die Nanotechnologien werden ihnen möglicherweise schon bald zur Seite treten. In das subjektive Lebensgefühl der einzelnen wie in die Struktur der Gesellschaft insgesamt greifen die Entwicklungen in den Lebenswissenschaften und speziell in der Medizin besonders tief ein. Die rasche Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung der einzelnen und der Alterswandel der Gesellschaft insgesamt zeigen das deutlich. Der wissenschaftliche Fortschritt hat während des letzten halben Jahrhunderts die Lebensverhältnisse in einem Umfang und in einem Tempo verändert, die kaum mit Sicherheit hätten vorausgesagt werden können. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Wandel sich in der vor uns liegenden Zeit verlangsamen wird.

Unbewältigt ist einstweilen offenbar die Ambivalenz dieser Veränderungen. Daraus erklärt sich der neue Ruf nach einer Ethik der Forschung, insbesondere nach einer ethischen Bewertung der Entwicklungen in den Lebenswissenschaften. Die Fortschritte der resultathaft orientierten Forschung werden angesichts dieser Ambivalenz von Wissenschaftsskepsis begleitet. Sie richtet sich auf die Folgen, die mit solchen Resultaten verbunden sind oder sein können. Diese Folgen ergeben sich gegebenenfalls aus Prozessen komplexer Wechselwirkung, die häufig kontrovers diskutiert und unter Umständen erst dann eindeutig verstanden werden, wenn sie schon gar nicht mehr beeinflusst werden können.

Die Frage nach dem Ausmaß anthropogener Klimaveränderungen ist gegenwärtig für diese Art der Debatte ein anschauliches, heftig umstrittenes Thema. Die Wissenschaftsskepsis, von der die Forschungsfortschritte unserer Zeit begleitet sind, richtet sich aber nicht nur auf die Auswirkungen dieser Forschung auf die Umwelt des Menschen, sondern auch auf die Veränderungen im Verständnis des Menschen selbst als einer freien, verantwortungsfähigen, auf wechselseitige Anerkennung angelegten Person. Die Debatte handelt im Kern von der Frage, wann die Grenze überschritten ist, jenseits deren der Mensch nicht mehr als Person, sondern als Sache, nicht mehr als jemand, sondern als etwas betrachtet wird.

Die Ebenen, auf denen diese Debatte geführt wird, sind vielfältig: In der Gehirnforschung wird die Frage gestellt, ob die Vorstellung von menschlicher Freiheit überhaupt mit der Einsicht in die neurophysiologischen Korrelate zu den Vorgängen menschlichen Selbstbewusstseins vereinbar ist. In den Sozialwissenschaften wird gefragt, ob menschliches Verhalten nicht weit besser erklärt werden kann, wenn man es aus systemischen Prämissen begreiflich macht, als wenn man in ihm einen Ausdruck menschlicher Freiheit sieht. In den Lebenswissenschaften wird gefragt, ob die Perfektionierung der genetischen Ausstattung des Menschen nicht dann zur Pflicht wird, wenn diese Perfektionierung wissenschaftlich als möglich erscheint.

Ich wähle die Beispiele der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen und der Präimplantationsdiagnostik, um diese neue Diskussionslage weiter zu erläutern.

Dass sich bei der Forschung mit embryonalen Stammzellen ein Grenzproblem stellt, hat die Diskussion der letzten Jahre deutlich gezeigt. Auch diejenigen, die – zumeist aus forschungsstrategischen Gründen – die Zulassung der Forschung mit embryonalen Stammzellen wünschten, konnten sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, einer Einsicht gar nicht entziehen, die Jürgen Habermas auf die knappe Formel gebracht hat, dass diese Forschungspraxis  einen verdinglichenden Umgang mit vorpersonalem menschlichem Leben ... erfordert. Der deutsche Kompromiss zu diesem Thema aus dem Jahr 2002 läuft darauf hinaus, dass Forschungen mit embryonalen Stammzellen zwar unter strengen wissenschaftlichen und ethischen Prüfkriterien ermöglicht werden, dass aber für diese Forschungen nur Stammzellen von bereits früher getöteten Embryonen verwendet werden dürfen. Dem dient der Stichtag des 1. Januar 2002. Ein Anreiz dazu, dass in Zukunft Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt werden, soll auf diese Weise vermieden werden. Auch die Neigung dazu, überzählige Embryonen entstehen zu lassen, die der Forschung dann zur Verfügung stehen, soll auf diese Weise unterbunden werden. Vielmehr bleibt es bei dem Grundsatz des deutschen Embryonenschutzgesetzes von 1992, dass menschliche Embryonen nur zum Zweck der menschlichen Reproduktion und zu keinem anderen Zweck hergestellt werden dürfen.

Man kann diesem Kompromiss eine gewisse Weisheit zugestehen; er erlaubt Grundlagenforschung, die auf anderem Weg nicht möglich ist, verhindert aber die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken. Die befriedende Wirkung, die von diesem Kompromiss ausging, ist allerdings immer wieder dadurch unterlaufen worden, dass die Forderung nach einer weitergehenden Freigabe der Forschung mit embryonalen Stammzellen erhoben wurde. Das Bestreben, den Kompromiss von 2002 aufzuweichen, relativiert in meinen Augen die ethischen Gründe für die Stichtagsregelung, ohne dass ich dafür zwingende wissenschaftliche Gründe, und erst recht ohne dass ich dafür ausreichende ethische Gründe erkennen könnte. Deshalb begrüße ich die Ankündigung der neuen Bundesregierung, dass sie den Vorrang auf die Forschung mit adulten Stammzellen legen will, ausdrücklich. Auch in Ländern, die den Embryonenschutz im Blick auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen weitgehend gelockert haben, geht übrigens die Anzahl und die Reichweite der Forschungen auf diesem Feld nach den mir zugänglichen Informationen nicht dramatisch über den Umfang entsprechender Forschungen in Deutschland hinaus. Plausibler als eine Aufweichung der Stichtagsregelung wäre es, die deutsche Erfahrung auf die europäische Ebene zu übertragen und auch hier die Erlaubnis der Forschung mit embryonalen Stammzellen mit einer klaren Stichtagsregelung zu verbinden.

Den doppelten Standards, die im europäischen Bereich in dieser Frage gegenwärtig herrschen, würde damit ein Ende gemacht. Der Einsicht, dass im Zeitalter der Reproduktionsmedizin das entstehende menschliche Leben vom frühest möglichen Zeitpunkt an Schutz und Fürsorge verdient, wäre auch für diesen Bereich Rechnung getragen. Dieser frühest mögliche Zeitpunkt aber ist mit der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle und nicht erst mit der Nidation gegeben. Mit dieser Verschmelzung beginnt ein Mensch zu werden, dem Potentialität, Kontinuität und Individualität eignen.

Vergleichbare Überlegungen schließen sich an die Möglichkeiten der Präimplantationsdiagnostik an. Wer sich heute für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik ausspricht, hält in aller Regel die Selbstbestimmung der Eltern im Blick auf die Fortpflanzung für einen Wert, der auch das Recht auf eugenische Maßnahmen einschließt. Auch wenn die Präimplantationsdiagnostik nur eingesetzt würde, um zu verhindern, dass bei künstlicher Reproduktion Kinder mit schwersten Behinderungen geboren werden, läge dem ein eugenischer Denkansatz zu Grunde. Die Erfahrungen mit der Pränataldiagnostik lassen aber darüber hinaus erwarten, dass die Präimplantationsdiagnostik, wenn sie erst einmal zugelassen würde, nicht auf einen engen Anwendungsbereich beschränkt bliebe; sie würde dann nicht nur zur Vermeidung schwerster Behinderungen, sondern auch zur Herbeiführung gewünschter Eigenschaften eingesetzt werden.

An dieser Stelle gibt es einen untergründigen Zusammenhang mit Tendenzen der Rechtsprechung, wie sie in dem Urteil des Bundesgerichtshofs über das Kind als Schaden zum Ausdruck kommen. Offenkundig hatte im Fall von Sebastian, dessen schwere Behinderung pränatal feststellbar war, die Ärztin ihre Informations- und damit auch ihre Beratungspflicht gegenüber der Mutter versäumt. Statt dieses Versäumnis festzustellen und zu ahnden, bezeichnete das Urteil jedoch das behinderte Kind selbst als Schaden. Eine solche Rechtsprechung und die ihr entsprechende Mentalität fördern einen Trend in medizinischer Forschung und ärztlicher Praxis, der darauf gerichtet ist, solche Schäden auszuschließen – also einen Trend zu eugenischer Optimierung.

Das löst zwangsläufig ein Missverständnis des Menschen als eines Wesens aus, das sich als bloße Summe seiner Gene versteht und von anderen so verstanden werden muss. Damit aber stellt sich die Frage, wie Menschen, die Produkte solcher Optimierungsanstrengungen sind, in Beziehungen eintreten sollen, deren Teilhaber sich wechselseitig als gleiche anerkennen können. In ihrer genetischen Verschiedenheit können Menschen sich nämlich nur als gleiche anerkennen, wenn sie sich wechselseitig eine Freiheit zuerkennen, die nicht durch ihre genetische Ausstattung determiniert ist. Die Anwendung solcher wissenschaftlicher Möglichkeiten auf den Menschen selbst wirft also die Frage danach auf, ob menschliche Beziehungen auch künftig als Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung gedacht und gestaltet werden können. Nicht nur die geltende Ethik, sondern auch die geltende Rechtsordnung wäre von solchen Veränderungen betroffen.

Das Grundproblem, das sich an diesen Beispielen zeigt, lässt sich so bezeichnen: Indem innerhalb von resultathaft organisierter Forschung auch der Mensch selbst zum Objekt von Optimierungsbemühungen gemacht wird, ergibt sich einerseits eine ungeahnte Möglichkeit zur Verlängerung seiner Lebenszeit wie zur Verbesserung seiner Lebensqualität. Doch neben diese Fortschritte in den Möglichkeiten des Heilens und Helfens tritt eben zugleich die Vorstellung von einer Optimierung des Produkts Mensch. Als Objekt solcher Optimierungsbemühungen aber wird der Mensch verdinglicht – zunächst in seinem vorgeburtlichen Leben, am Ende aber auch auf seinem Lebensweg zwischen Geburt und Tod. Die Frage, wie Forschung im Augenblick ihrer größten Erfolge zugleich die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung bewahren kann, stellt sich heute auf eine neue Weise.

III.

Wenn die christliche Theologie sich an der Diskussion über verantwortliche Wissenschaft beteiligt, so tut sie dies zunächst als eine Anwältin der Wahrheit. Eberhard Jüngel hat diese Funktion der Theologie für die Universität einmal auf die Formel gebracht, das, was die Theologie mit der Universität zutiefst […] verbinde, sei zuerst und vor allem die ihr wesentliche Bestimmung, für Wahrheit verantwortlich zu sein. Neben diese Fürsprache für die Wahrheit tritt das Eintreten für die Freiheit. Denn von der Theologie jedenfalls in ihrer evangelischen Gestalt gilt, dass sie eine Anwältin der Freiheit ist. Sowohl das Ideal der Objektivität durch methodisch kontrollierte Wahrheitssuche als auch das Ideal der Freiheit in Gestalt der Forschungsfreiheit stehen der Theologie nahe.

Zwar hat die christliche Theologie den Rang von Wissbegierde und Forschungsfreiheit in konkreten Konfliktsituationen nicht immer hoch genug geachtet. Trotzdem haben sie im christlichen Glauben, recht verstanden, einen festen Ort. Wenn in der evangelischen Theologie von der Weltlichkeit der Welt die Rede ist, ja wenn ein Göttinger Theologe – Friedrich Gogarten nämlich – die recht verstandene Säkularisierung (im Unterschied zu einem ideologisch verblendeten Säkularismus) sogar als eine Wirkung des christlichen Glaubens betrachtet hat, so wird damit hervorgehoben: Der Glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat samt allen Kreaturen, schließt  nicht aus, sondern ein, dass wir uns um das Verstehen dieser von Gott geschaffenen Welt bemühen. Die geschaffene Welt ist Gegenstand menschlichen Erkennens. Glaube und der Drang nach Erkenntnis stehen zueinander nicht im Widerspruch.

Freilich schließt die Suche nach der Wahrheit im christlichen Verständnis die Einsicht ein, dass die Wahrheit des Ganzen stets größer bleibt als die vom Menschen erkannte Wahrheit. Kein wissenschaftlicher Fortschritt kann diese Differenz zwischen der jeweils erkannten Wahrheit und der Wahrheit in ihrer Fülle überbrücken. Das gibt der menschlichen Wahrheitssuche einen kritischen und zwar vor allem selbstkritischen Sinn. Eine solche epistemische Demut, welche die eigenen Erkenntnisse unter den Vorbehalt besserer Einsicht stellt, steht der Wissenschaft gut an; sie ist freilich unter Wissenschaftlern nicht immer selbstverständlich. Für menschliche Erkenntnis bleibt jedoch gültig, was Plato in das Bild der Schatten an der Höhlenwand und der Apostel Paulus in das Bild vom dunklen Spiegel  gekleidet hat: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (1. Korinther 13, 12).

Neben die Orientierung an Wahrheit und Freiheit tritt in einer christlichen Perspektive auch für das Handeln in der Wissenschaft die Orientierung am Nächsten und an der Frage, was ihm zu Gute kommt. Diese Frage spielt in den forschungsethischen Kontroversen unserer Zeit eine große Rolle. So wird die Chance, neue Heilungsmöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Herzinfarkt oder Multiple Sklerose zu finden, als Begründung für neuartige Forschungsmethoden herangezogen. Dies geschieht grundsätzlich zu Recht. Christliche Ethik bejaht die Orientierung der Wissenschaft an den Aufgaben des Heilens und Helfens. Doch der Verweis auf solche Heilungsmöglichkeiten kann nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch welche der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird. Deshalb wird sich christliche Ethik stets dafür einsetzen, dass zu wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die wegen der Gefahr der Verdinglichung des Menschen problematisch sind, Alternativen gesucht werden, die dieser Gefahr nicht oder weniger ausgesetzt sind. Die Forschung mit adulten statt mit embryonalen Stammzellen oder der Zugang zu Stammzellen mit vergleichbaren Eigenschaften ohne den Weg über die Herstellung menschlicher Embryonen sind Beispiele hierfür.

Neben der Orientierung an der Wahrheit in ihrer all unser Begreifen übersteigenden Fülle, an der Freiheit des Menschen, die seine Freiheit zum Forschen einschließt, sowie an der Liebe zum Nächsten als dem verbindlichen Horizont alles menschlichen Handelns bringt die Theologie noch einen weiteren Gesichtspunkt in den wissenschaftsethischen Diskurs ein. Ich meine die Einsicht in die Verführbarkeit des Menschen und in eine Zerstörung seiner Lebensbezüge, die ihre tiefste Wurzel in der Störung seiner Gottesbeziehung, also in der Sünde, hat. Mit dieser theologischen Perspektive ist die Einsicht verbunden, dass auch die guten Möglichkeiten des Menschen in ihr Gegenteil verkehrt werden können, die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis eingeschlossen. Diese guten Möglichkeiten des Menschen können missbraucht werden zur Verkehrung der Wahrheit, zur Stillung persönlichen Ehrgeizes oder zur Instrumentalisierung anderer Menschen. Der sensationslüsterne Umgang mit den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin, beispielsweise in Italien, bildet dafür ebenso ein Beispiel wie die bedrückenden Vorgänge im Zusammenhang mit der Klonierung menschlicher embryonaler Stammzellen in Korea. Wenn die Abhängigkeit von Mitarbeiterinnen im Labor ausgenutzt oder Frauen Eizellen gegen Geld abgekauft werden, ist die Grenze ethisch verantwortbarer Forschung offenkundig weit überschritten.

Die Verführbarkeit des Menschen gehört zu den elementaren Bedingungen der conditio humana. Deshalb braucht die Wissenschaft einen klaren rechtlichen Rahmen, eine institutionalisierte Selbstkontrolle sowie die Bereitschaft zur beständigen ethischen Selbstprüfung.

Die Verführbarkeit von Wissenschaftlern ist auch historisch deutlich belegt. Ein Blick auf die deutsche Geschichte zeigt das. So fand eine ideologische Rassenlehre in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes auch in die Wissenschaften Eingang; die Diskriminierung von Juden löste – beispielsweise in der Theologie – ein beklagenswertes Echo, ja eine höchst wirksame Unterstützung aus; Menschenversuche wurden unternommen, die sich an keinerlei ethische Grenzen hielten; Vorstellungen von einem lebensunwerten Leben, das auf Lebensschutz keinen Anspruch erheben könne, wurden auch in der Wissenschaft heimisch. Nicht nur, weil durch politisches Handeln die Menschenwürden mit Füßen getreten wurde, sondern auch weil in der Wissenschaft die Würde der Menschen auf solche Weise missachtet wurde, gehört die Erinnerung an diese Vorgänge unausweichlich zu jedem Nachdenken über die Verantwortung der Wissenschaft hinzu. Ich jedenfalls kann mir nicht vorstellen, dass wir diese Erinnerung wissenschaftsethisch für irrelevant erklären.

An diesen Beispielen zeigt sich, dass die Wissenschaft nicht generell gegen ethische Anfechtungen gefeit ist, sondern vor ihnen durch institutionelle Vorkehrungen, durch die Pflicht zu Transparenz und Publizität und damit durch die Gewährleistung öffentlicher Kritik, schließlich aber vor allem durch die persönliche Verantwortungsbereitschaft und die Gewissensbindung jeder Forscherin und jedes Forschers bewahrt werden muss.

Die Pflicht zur Wahrheit, das Ja zur Freiheit, die Liebe zum Nächsten und die Umkehr aus den Irrwegen der Verführung bilden die vier Hinsichten, in denen die Theologie eine wichtige Orientierung für verantwortliche Wissenschaft zu vermitteln vermag. Die Theologie hat auch deshalb einen unaufgebbaren Ort an der Universität, weil sie für diese Fragen einen ebenso elementaren wie klaren Orientierungsrahmen anbietet. Er bezieht sich auf die theoretische Dimension der Wissenschaft in ihrer Verpflichtung zur unablässigen Wahrheitssuche und dem damit verbundenen kategorischen Verbot der Lüge. Er orientiert sich an der Forschungsfreiheit als der unabdingbaren Voraussetzung für solche Wahrheitssuche. Er bezieht sich zugleich auf die praktische Dimension der Wissenschaft in ihrer Pflicht zum Dienst am Nächsten und somit in der Ausrichtung an der unantastbaren Menschenwürde und dem Verbot jeglicher Instrumentalisierung des Menschen zu fremden Zwecken. Und er bezieht sich schließlich auf die selbstreflexive Funktion der Wissenschaft in ihrer Pflicht zur kritischen Prüfung ihrer ethischen Verantwortbarkeit, und dies sowohl im Blick auf die Ziele, denen sie dient, als auch im Blick auf die Mittel, deren sie sich bedient.

IV.

Meine abschließenden Überlegungen richten sich auf die Ebenen der heute notwendigen wissenschaftsethischen Klärung.

Dabei sind wir gut beraten, als erstes die Wissenschaft selbst, und zwar in Gestalt der jeweils betroffenen Fachwissenschaft, als Subjekt ethischer Selbstverständigung in den Blick zu nehmen. Zur Illustration sei noch einmal daran erinnert, dass der mit dem Namen Göttingen verbundene Neuansatz für die Einsicht in die Verantwortung der Wissenschaft vor einem halben Jahrhundert von einer Gruppe von Fachwissenschaftlern ausging. Atomwissenschaftler erläuterten die ethischen Gründe, um deretwillen sie sich an der Entwicklung atomarer Waffen nicht beteiligen wollten. Sie praktizierten damit eine Grundform verantwortlicher Wissenschaft.

Es führt deshalb in die Irre, wenn man den gegenwärtig von ethischen Herausforderungen besonders betroffenen Wissenschaften mit einer generellen Hermeneutik des Verdachts begegnet und ihnen die Bereitschaft zu ethischer Selbstbegrenzung von vornherein abspricht. Insoweit unterstütze ich eine Einschätzung, die Bundeskanzler Gerhard Schröder im Sommer des Jahres hier in Göttingen bei der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde dieser Universität formuliert hat. Im Blick auf die Forschung nicht nur mit adulten, sondern auch mit embryonalen Stammzellen sagte er: Ich finde es anmaßend, die Motive dieser Biologen und Mediziner in Zweifel zu ziehen. Sie stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?

Gerhard Schröder hat in diesem Zusammenhang für eine Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen plädiert. Das Wort Grenzen bezieht sich dabei vermutlich auf diejenigen Einschränkungen der Forschung, die von Forschern aus eigener Einsicht bejaht und anerkannt werden. Mit Fesseln sind dagegen diejenigen Einschränkungen gemeint, die den Forschern gegen ihren Willen von außen auferlegt werden.

Dieses Plädoyer leuchtet ein, so lange die jeweils betroffenen Fachwissenschaften die Kraft haben, ethische Grenzen von sich aus anzuerkennen und einzuhalten. Dieses Plädoyer ist also plausibel, solange die Selbstbegrenzung als Teil wissenschaftlicher Professionalität tatsächlich funktioniert.

Doch in welchem Umfang ist das heute der Fall? Wir haben gesehen, dass die Einhaltung solcher selbst gesetzter Grenzen unter den Bedingungen resultathaft organisierter Forschung besonders schwer ist. Die Einbindung der Wissenschaft in einen globalisierten Wettbewerb richtet für die individuelle ethische Rechenschaft große Hürden auf. Deshalb brauchen die einzelnen Wissenschaften und die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugleich auch verabredete und institutionalisierte Grenzziehungen.

Forschung ohne Fesseln ist deshalb, für sich genommen, eine gefährliche Losung. Wie alles menschliche Handeln so muss es sich auch die Forschung gefallen lassen, dass ihr von außen Grenzen gesetzt und damit, wenn man es so nennen will, Fesseln angelegt werden. Auch sie sollten, so weit das möglich ist, in der Wissenschaft selbst diskutiert und von ihr selbst festgelegt werden. Deshalb gebührt den Formen wissenschaftlicher Selbstkontrolle und ethischer Diskussion in den Wissenschaften – auch so weit sie über die einzelne Wissenschaft hinausgehen – eine hohe Priorität. Die universitas litterarum gewinnt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung. Dass eine Universität über die Expertise für eine solche Diskussion verfügt, ist ein hohes Gut. Für eine solche Diskussion ist nicht nur naturwissenschaftliche, sondern ebenso auch sozialwissenschaftliche  Kompetenz in einer Universität von Nöten. Der ethische Beitrag aus Theologie und Philosophie ist genauso erforderlich wie die Sachkunde der unmittelbar betroffenen Lebenswissenschaften.

Ob eine Universität über solche Kompetenzen verfügt, entscheidet sich heute in wachsendem Maß an praktischen Ausbildungserfordernissen. Deren Relevanz ist unbestritten. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass die Universität mehr ist als ein Durchlauferhitzer für bestimmte Berufe, wie es von Teilen der politischen Öffentlichkeit heute immer massiver gefordert wird. Ich zitiere beispielhaft die Forderung des bayerischen Wissenschaftsministers Thomas Goppel, von dem die Äußerung berichtet wird: Alle Studienangebote werden nach ihrer Attraktivität für den Arbeitsmarkt und für Studierende gemessen und angepasst, gegebenenfalls auch eingestellt.

Ohne in Abrede stellen zu wollen, dass man auch auf die Berufschancen und ihren Wandel achten muss, bestreite ich doch energisch, dass es genügt, allein darauf zu achten. Dafür, dass man über eine solche Beurteilung der Nützlichkeit und Notwendigkeit von wissenschaftlichen Disziplinen hinausgehen muss, ist die Frage nach der Sachkompetenz, die für die interdisziplinäre Klärung wissenschaftlicher Verantwortung nötig ist, ein guter Indikator. Aber auch eine Einsicht, die Friedrich Schleiermacher, ein führender Vertreter der klassischen Phase der deutschen Universität, formuliert hat, kann klärend wirken. Schleiermacher erklärte nämlich eine Haltung, die höhere Bildung nur insoweit gewährt, als es dafür einen gesellschaftlichen Bedarf gibt, für absolut unchristlich und damit auch für ethisch nicht begründbar. Er war nämlich der Auffassung, dass eine Bildung des Menschen an der Wahrheitsfrage einen großen Wert in sich selbst trägt.

So sehr ich also auf einer ersten Ebene die Verantwortung der jeweils von ethischen Fragen selbst betroffenen Wissenschaften unterstreiche, und so sehr ich auf einer zweiten Ebene die korporative Verantwortung der Universität wie anderer wissenschaftlicher Korporationen hervorhebe (damit künftig nicht noch einmal sieben Göttinger an Stelle der ganzen Korporation tätig werden müssen), so sehr ist schließlich zu bedenken, dass die Wissenschaft mit ihrer Verantwortung nicht allein bleiben kann.

Deshalb gibt es gute wissenschaftsimmanente Gründe dafür, einen allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über ethische Fragen zu bejahen und zu fördern. Ebenso wie die Enquete-Kommission  des Deutschen Bundestags hat sich auch der Nationale Ethikrat in den letzten Jahren zu einem der Instrumente entwickelt, die eine solche ethische Diskussion stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen führen.

Als einer, der nicht mehr dazu gehört, spreche ich mich dafür aus, dass der Nationale Ethikrat weitergeführt und seiner Existenz nicht mit dem Beginn der neuen Bundesregierung ein Ende gemacht wird. Ich habe, so lange ich dazugehörte, den Mehrheitsmeinungen des Nationalen Ethikrats nicht zustimmen können. Mein Plädoyer speist sich also nicht aus der Erwartung, dass die von mir vertretenen Auffassungen durch die Weiterführung des Nationalen Ethikrats eine größere Resonanz finden, es sei denn, man achtet in gleicher Weise auf die Äußerungen, die als Minderheitenvoten veröffentlicht werden. Sondern es speist sich aus der Überzeugung, dass wir in Deutschland eine möglichst breite ethische Diskussion über die neuen Möglichkeiten wie die neuen Gefahren der Lebenswissenschaften brauchen. In vielen mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichbaren Ländern gibt es solche Ethikräte; warum sollte es nicht auch in Deutschland auf Dauer so sein! Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind wahrlich groß genug.

Die Diskussion über die Ethik in den Lebenswissenschaften hat nach meiner Überzeugung exemplarische Bedeutung für die Frage verantwortlicher Wissenschaft überhaupt. Denn es geht in den Lebenswissenschaften um hohe ethische Ziele, insbesondere um die Ziele des Heilens und Helfens. Und doch muss daran festgehalten werden, dass auch solche hohen Ziele nicht um jeden Preis verfolgt werden dürfen. Dass der Zweck die Mittel heilige, kann nie ein ethisch verantwortbarer Leitsatz sein, weder im persönlichen Leben noch in der Politik noch in der Wissenschaft. Unsere Gegenwart hält insofern besondere Proben für die Selbstbegrenzung als wissenschaftliche Tugend bereit.

Es gibt Beispiele dafür, dass dies – jedenfalls bisher noch – allseitig anerkannt wird. So besteht beispielsweise Einigkeit darüber, dass der Mangel an Spenderorganen für Organtransplantationen nicht durch jedes Mittel behoben werden darf. So leuchtet es unmittelbar ein, dass die – an sich sehr erwünschten – Spendernieren nicht durch die Tötung eines anderen Menschen beschafft werden dürfen. Auch das Mittel des Organhandels ist - nicht nur in Deutschland - bewusst, und zwar durch eine gesetzliche Regelung, ausgeschlossen worden. Denn ein solcher Organhandel trüge nicht nur die Verführung in sich, die Armut von Menschen auszunutzen, die aus Not einen Teil ihres Körpers verkaufen; ihm läge vielmehr ein Selbstmissverständnis des Menschen zu Grunde. Denn der Mensch hat nicht einen Körper, den er wie eine Ware behandeln könnte; sondern er ist sein Leib.

Klare Regelungen sind bei den Lebenswissenschaften auch deshalb vonnöten, weil das Leben des Menschen nicht zum Gegenstand des Experimentierens werden darf. Bevor das erste extrakorporal gezeugte Kind lebend zur Welt kam, hatten 283 erfolglose Versuche stattgefunden. Vergleichbar zahlreich waren die Experimente, die der Produktion des Klonschafs „Dolly“ vorausgingen. Dem Klonen von Menschen muss man auch aus diesem Grund eine Absage erteilen. Vergleichbare Überlegungen gelten aber auch gegenüber der Vorstellung von genetischen Veränderungen des menschlichen Erbguts. Was wäre, wenn bei solchen Experimenten Ergebnisse zu Tage trägen, die katastrophale Folgen für die Identität und Lebensfähigkeit des Menschen hätten? Der Gedanke, auf dem Weg zu einer vermeintlichen genetischen Optimierung des Menschen derartige „Fehler“ zu machen, wäre unerträglich. Hier müssen also die Grenzen unbedingt eingehalten werden, die sich aus der Personalität dees Menschen ergeben.

Solche Beispiele lassen sich leicht ergänzen – insbesondere im Blick auf dien Auswirkungen wissenschaftlicher Innovationen auf die Umwelt. Diese Beispiele zeigen, dass die Selbstbegrenzung heute aufs neue zu einem entscheidenden Bestimmungsmerkmal wissenschaftlicher Professionalität wird. Diese Selbstbegrenzung muss auf allen Ebenen gefördert, unterstützt und notfalls auch durchgesetzt werden: in den beteiligten Wissenschaften selbst, in den Universitäten und anderen wissenschaftlichen Korporationen, schließlich aber auch in der Gesellschaft und ihrer rechtlichen Ordnung. Auf allen drei Ebenen hat die Ethik der Forschung heute ihren legitimen und notwendigen Ort. Wer sich dieser Aufgabe stellt, macht seine wissenschaftlichen Gedanken nicht zu einer Beute des Augenblicks. Sondern er orientiert sich in seinem Handeln an der Verantwortung, der auch die Wissenschaft unterliegt – wie alles andere menschliche Handeln auch.