Predigt am Buß- und Bettag in der Thomaskirche in Leipzig

Wolfgang Huber

Offenbarung 3,14-22

I.

Am Buß- und Bettag schauen die Nachbarn sehnsuchtsvoll nach Sachsen und gratulieren. Denn hier wurde dieser Tag als gesetzlicher Feiertag beibehalten. Das war ein wichtiges Zeichen. Unsere Gesellschaft braucht Tage der Besinnung und des Aufatmens. Unsere von Unruhe geprägte Zeit braucht Tage der kollektiven Ruhe. Aus dem betriebsamen Berlin bringe ich diesen Glückwunsch heute in das feiertägliche Leipzig. Ich bringe zusätzlich die Erfahrung mit, dass gerade das Land Berlin mit einer weiteren Aushöhlung des Sonntagsschutzes vorangeprescht ist, indem es die Möglichkeiten zur Ladenöffnung am Sonntag ausweitet, und würde deshalb so gern sagen: Man möge sich an Sachsen ein Vorbild nehmen. Freilich habe ich dann doch auch den einstweiligen sächsischen Beschluss über die Ladenöffnung an den Adventssonntagen mit großer Beunruhigung wahrgenommen. Denn auch die Adventssonntage sind nötig. Und wir brauchen den Buß- und Bettag.

II.

Für die evangelische Kirche steht das Thema der Buße seit ihren Anfängen im Zentrum. Die Reihe der 95 Thesen Martin Luthers, der übrigens am Pfingstsonntag 1539 hier in der Thomaskirche predigte, beginnt mit einer These zur Buße: Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße’ usw. (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll. Nach evangelischer Auffassung meint Buße eine grundsätzliche und dauerhafte Besinnung, aus der Umkehr und Sinnesänderung erwachsen. Der Buß- und Bettag  ist und bleibt deshalb ein Feiertag von großer Bedeutung für die evangelische Kirche – und darüber hinaus.

Zur Besinnung werden wir heute gerufen durch das Sendschreiben des Sehers Johannes an die Gemeinde in Laodizea. Es findet sich im dritten Kapitel der Offenbarung des Johannes.

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

III.

Es verschlägt einem schier die Sprache, wenn man hört, was da an den Engel der Gemeinde von Laodizea geschrieben wird: weder kalt noch warm ist sie, lau also. Das ist wie grau in grau, tonlos, zahnlos, ohne jede Kante, ohne jede Spannung, ihrer Leucht- und Strahlkraft für das Evangelium beraubt. Manchen von uns kommen nun eigene Gemeindeerfahrungen in den Sinn, Enttäuschungen mit der Kirche drängen in den Vordergrund, bohrende Fragen rufen uns zur Besinnung: Wo auf der Skala zwischen warm und kalt stünde meine eigene Gemeinde? Verhält sie sich neuen Impulsen gegenüber aufgeschlossen oder abweisend? Tritt sie neuen Gottesdienstbesuchern einladend oder gleichgültig entgegen? Zeigt sie an ihrem Ort Kontur oder fehlt es dazu an geistlicher Kraft? Jeder von uns sehnt sich nach Orten, wie sie das Motto der Kirchgemeinde St. Thomas beschreibt: Ort des Glaubens, des Geistes, der Musik. Und jeder von uns ist dankbar, wenn er das erleben kann, so wie wir es heute erleben: Ort des Glaubens, des Geistes, der Musik.

Das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodizea stößt uns auf die eigene Situation. Die bildreiche Sprache des Sendschreibens konfrontiert uns mit den eigenen Erfahrungen. Der Sprung über die Jahrtausende fällt nicht schwer. Auf die eigene Gemeinde, aber auch auf den eigenen Beitrag zu ihrem Leben fällt ein helles und unbequemes Licht. Wenn du jetzt über Deine verschlafene Gemeinde, über Deine undeutliche Kirche nachdenkst, wie steht es eigentlich mit Dir selbst?

Dabei sollten wir über der Gemeinde von Laodizea nicht zu schnell den Stab brechen. Denn sie lebte in einer Zeit höchster Bedrängnis. Verfolgte Christen sammelten sich in ihr. Dass man mit dem Glauben hinter dem Berg hielt, kann man ihr nur schwer zum Vorwurf machen. Wo wir doch selber in einem Land leben, in dem man noch unlängst christliche Asylsuchende wieder in ihre Heimat schicken konnte, in der sie ihren Glauben nur unter Lebensgefahr offen bekennen konnten. Innerlich, ohne dass es jemand merkt, könnten sie ja Christ sein, so wurde argumentiert. Sie bräuchten das ja nicht offen zu zeigen und sich dadurch in Lebensgefahr begeben. Erst neuerdings scheint sich die Einsicht durchzusetzen, dass es so nicht geht. Die Religionsfreiheit ist unteilbar; persönliche Überzeugung und öffentliches Bekenntnis gehören zusammen. Aber zur Zeit des Sehers Johannes war das Grundrecht auf Religionsfreiheit im römischen Reich noch keineswegs durchgesetzt. Umso wichtiger war es, die richtige Mitte zu finden zwischen Ansporn und Trost, um die Gemeinden zur Besinnung zu rufen.

In dieser Suche nach der richtigen Mitte zwischen Ansporn und Trost hat Leipzig besondere Erfahrungen. Von den Friedensgebeten 1989 spannt sich dabei ein Bogen zur Friedensdekade 2006, die mit dem heutigen Tag zu Ende geht. Wir sind das Volk und Keine Gewalt! – dieses doppelte Motto bewegte 1989 die Menschen in dieser Stadt und darüber hinaus. Es führte sie in die Kirchen und auf die Straßen. Es half ihnen, zu den Montagsdemonstrationen, die sich von Leipzig über das Land ausbreiteten, aufzubrechen – trotz aller Erfahrungen in der Vergangenheit und trotz ihrer Ängste vor dem, was passieren könnte, trotz aller Ungewissheit darüber, was die Zukunft tatsächlich bringen würde. Keine Ausgrenzung und Keine Gewalt – so könnte man den Ruf verstehen, der heute von Leipzig ausgeht.

Keine Ausgrenzung: Dabei denke ich an die Gräben zwischen Deutschen und Ausländern ebenso wie an die Kluft zwischen Menschen, die in Arbeit sind, und den vielen, die vergeblich nach Arbeit suchen. Im einen wie im andern Fall ist es die gerechte Teilhabe, für die wir als Christen eintreten. Deshalb haben wir uns als evangelische Kirche in der vergangenen Woche erneut für eine großzügige Bleiberechtsregelung eingesetzt. Es reicht uns nicht, wenn ein Zehntel derjenigen, die schon seit vielen Jahren gut integriert zusammen mit ihren Kindern ohne einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, nun klarer in die Zukunft schauen können. Wir haben auch die anderen neunzig Prozent im Auge, denen es an dieser Klarheit immer noch fehlt. Und ebenso denken wir an die Menschen, die das Gefühl haben, auf unabsehbare Zeit auf der Ebene von Hartz IV angekommen zu sein. Auch sie haben einen Anspruch auf Teilhabe, nicht nur auf Sozialhilfe. Die einen wie die anderen sollen nicht ausgegrenzt werden.

Keine Gewalt: Dieser Ruf ist noch immer nötig. Ich denke dabei an den Libanon, den ich vor wenigen Wochen besucht habe. Gestern ist dort wieder ein christlicher Politiker ums Leben gebracht worden. Auch in dieses Land hat die gewaltsame Zwietracht der Religionen Einzug gehalten, in ein Land, zu dessen wichtigsten Projekten das Zusammenleben von Christen und Muslimen gehörte. Keine Gewalt: Dieser Ruf ist auch denen gegenüber nötig, die meinen, die Beleidigung ihrer religiösen Gefühle sei ein Grund, mit Gewalt zu drohen oder sie anzuwenden, wo doch die Heiligkeit Gottes in Wahrheit nur ehrt, wer ihn nicht für tötende Gewalt in Anspruch nimmt.

Keine Gewalt: Für mich bezieht sich dieser Ruf auch auf das Vorhaben, neugierigen Betrachtern vorzuführen, wie man einen menschlichen Leichnam plastiniert, ihn anschließend in Scheiben schneidet und diese Scheiben dann zu teurem Preis verkauft. Sie wissen: In der brandenburgischen Stadt Guben kann man das alles neuerdings bestaunen. Ich sehe darin eine Verrohung der Sitten, bei der nicht nur Körper, sondern auch Seelen in Scheiben geschnitten werden. Eine Verrohung der Sitten gibt es nicht nur bei Soldaten in Afghanistan, die mit menschlichen Gebeinen posieren; es gibt sie mitten unter uns. Deshalb Buß- und Bettag!

IV.

Ich weiß: Bequem ist dieser Tag nicht, auch wenn es sich manche an ihm bequem machen. Bußgeld zahlt niemand gern, und der Buße – also der Wiedergutmachung geschehenen Unrechts – weichen wir lieber aus. Vollends die Umkehr aus der Sünde scheint ganz unbequem geworden zu sein. Ein Autor hat unlängst vorgeschlagen, ein Leben ohne Sünde zu führen. Er meint damit nicht, dass die Menschen die Sünde hinter sich lassen. Nein, sein Vorschlag ist, ein Leben zu führen, ohne sich von der Vorstellung schrecken zu lassen, es könne so etwas wie Sünde überhaupt geben. Denn diese Vorstellung habe ja Menschen nur zur Feindschaft gegenüber dem eigenen Leib und seinem Begehren veranlasst, sie seien dadurch zur Lebensfreude unfähig geworden und hätten verlernt, die schönen Seiten des Lebens zu genießen.

Martin Luther hat da weiter gedacht – übrigens einer, der den schönen Seiten des Lebens durchaus zugetan war. Er wusste, dass sich die schönsten Seiten des Lebens in ihr Gegenteil verkehren, wenn der Mensch nur noch sich selbst kennt. Sünde ist mehr als ein Laster; und Buße zeigt sich nicht schon darin, dass man von einem Laster ablässt. Sünde ist das Verbohrtsein des Menschen in sich selbst; Buße ist deshalb die Befreiung zu einem Blick, der auch den anderen sieht. Sünde ist die Verstrickung in Unglauben, Hoffnungslosigkeit und Hass. Buße ist die Aussicht auf Glauben, Hoffnung und Liebe. Diese Orientierung will uns der Buß- und Bettag geben.

Entscheidend für eine solche Orientierung ist die lebendige Beziehung zu Gott. Deshalb redet dieser Tag nicht nur von der Buße, sondern auch vom Gebet. Martin Luther hat das Gebet einmal als die Grundlage für alles Handeln des Menschen beschrieben: Was das Gebet an Kraft, Fülle und Wirksamkeit an sich habe, können wir ... nicht genug herausstreichen. Denn so schlicht und einfach es klingt, so tief, so reich und weit ist es, und niemand kann es ergründen. Der heutige Tag hilft uns zu einem Gebet, das für die Gaben Gottes dankt und um Kraft zur Umkehr bittet. Denn evangelischer Glaube zielt auf beides: auf ein Leben aus Dankbarkeit und eine Umkehr zu verantworteter Freiheit. Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht einen Raum der Freiheit dafür. Verantwortete Freiheit drängt auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Der Buß- und Bettag setzt einen Impuls zur Umkehr; es ist dafür hohe Zeit.

Deshalb spricht das Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea mit Dringlichkeit und Ernst: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.

Öffnen wir ihm die Tür – halten wir mit ihm Abendmahl!

Amen.