Gedanken zum Tag - Andacht im Deutschen Bundestag (Hebräer 4,13)

Wolfgang Huber

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes (Hebräer 4,13).

Klarheit geht von diesem Wort aus. Die Klarheit, die zum Morgen passt. Wenn die Dunkelheit weicht, erscheint die Wirklichkeit in einem neuen Licht. „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.“ Der neue Tag lädt dazu ein, dass wir uns für den Segen öffnen, den Gott in ihn legen wird.

Aber auch an diesem neuen Tag bleibt unser Verstehen Stückwerk. Denn nur von Gott kann man sagen: Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes.

Wir hören das an einem besonderen Tag, achtzehn Jahre nach dem Fall der Mauer. Da wurde nicht nur eine Sperranlage geöffnet, da riss der Himmel auf. Am Morgen des 10. November kam ich selbst in die Stadt. Eine Freude ohnegleichen erfüllte mich. So schnell ich konnte, machte ich mich auf, bei den jubelnden Menschen zu sein. Unvergesslich sind mir die vielen Tausende, die hier beim Brandenburger Tor die Mauer erkletterten. Sie wollten spüren, dass sie die Stadt nicht mehr teilte und die Menschen nicht mehr voneinander trennte. Auch das Bild der Mauerspechte, die zur weiteren Öffnung dieses Bauwerks auf ihre Weise beigetragen haben, hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeprägt. In Amerika zeigen Gastgeber mit großem Stolz das Stück Mauer, das sie zum Geschenk erhalten haben.

In Dresden, wo bis vorgestern die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland getagt hat, ist noch einmal unterstrichen worden, was die Friedensarbeit und die Friedensgebete in den evangelischen Kirchen zur Überwindung der deutschen Teilung beigetragen haben.

Die deutsche Einheit kam überraschend, für die meisten jedenfalls. Bischof Kurt Scharf allerdings, einer meiner Vorgänger, hat diese Entwicklung in einer Weise vorausgesagt, für die ich kein weiteres Beispiel kenne. Der Bischof wurde 1975 von einer besorgten Berlinerin gefragt, wann die deutsche Wiedervereinigung zu erwarten sei. Die damals 88-jährige Charlottenburgerin wollte der evangelischen Kirche Wertpapiere vererben. Sie befürchtete durch eine mögliche Wiedervereinigung mit der sozialistischen DDR Verluste. Sie schrieb deshalb: „Es wäre wohl ratsam, Herrn Bischof Scharf zu befragen, wann mit einer Wiedervereinigung zu rechnen ist. Ich bin halt der Meinung, die Papiere vorher zu verkaufen, denn bei einer Wiedervereinigung fallen vorerst die Papiere. Es ist doch so, dass man den Erlös so hoch wie möglich erzielen will.“ Kurt Scharf wurde die Frage der alten Dame am nächsten Tag vorgelegt. Er zögerte nicht lange mit der Antwort und vermerkte noch am selben Tag, dem 23. April 1975, handschriftlich auf dem ihm vorgelegten Brief: "In 15 Jahren!" Aber er fügte hinzu: „Aber dann werden die Papiere steigen – wegen des erhöhten Wirtschaftspotentials!“

Da hat einer im Jahr 1975 die Wiedervereinigung auf das Jahr genau vorausgesagt. Was heute vor achtzehn Jahren geschah, war die Voraussetzung dafür.

Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes. Auch der 9. November 1938 rückt ins Licht dieses Bekenntnisses. Eine größere Spannung lässt sich nicht denken als die zwischen dem 9. November 1989 und dem 9. November 1938, dem Tag der Gewalt gegen jüdische Gotteshäuser, gegen jüdisches Eigentum, gegen jüdische Menschen. „Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande“, heißt es im 74. Psalm. Dietrich Bonhoeffer unterstrich diese Worte in seiner Bibel und schrieb an den Rand: „9. 11. 38“. An diesem Ausbruch des Judenhasses war übrigens nichts geheim. Es geschah in aller Öffentlichkeit. Jeder konnte wissen, worum es ging.

Nur mit Demut und Beschämung können wir heute daran denken. Dass Nachbarn ihre Augen gerade nicht öffneten, sondern verschlossen hielten. Dass sie wegschauten, als Juden öffentlich kahl geschoren wurden. Dass sie die eigenen Fenster und Türen zuhielten, als jüdische Wohnungen gestürmt und ihre Bewohner abgeführt wurden.

Vor Gottes Augen ist alles bloß und aufgedeckt. Er nimmt sich der Leidenden an. Und er hört auf unsere Freude. Weil vor ihm alles aufgedeckt ist, können wir das Widersprüchliche dieses Tages zusammenhalten. Und uns unserer Verantwortung stellen: der Verantwortung für die Freiheit in unserer Gesellschaft wie für die Würde jedes einzelnen Menschen.

Treten wir hinein in das Licht dieses Tages! Öffnen wir unsere Augen! Folgen wir den Blicken Gottes, so gut wir es können. Kein Geschöpf ist vor Gott verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes.

Amen.