Andacht im Berliner Olympiastadion (Hebräer 10,19-25)
Wolfgang Huber
Hebräer 10,19-25
„Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und lasst uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht.“
Liebe Gemeinde,
kennen Sie das schöne Gefühl, eine Eintrittskarte für ein Event zu besitzen? Eine Veranstaltung also, auf die Sie sich so richtig freuen? Eine Karte, die Sie mit Vorliebe ihren Freunden vor die Nase halten und sagen: „Schau einmal, was ich da habe?“ Und nichts freut sie mehr, als wenn aus dem Mund des Freundes ein vernehmbarer Laut der Bewunderung zu hören ist?
Das mag eine Opernkarte, eine Theaterkarte oder jetzt in der Adventszeit eine Karte für das Weihnachtsoratorium sein. Für diejenigen, die heute ins Stadion kommen, ist es die Eintrittskarte zum Spiel HERTHA BSC gegen Leverkusen.
Wer sich so eine Karte kauft, der weiß auch: Karte ist nicht gleich Karte. Für den einen ist der Weg in die Ostkurve vorgezeichnet, die anderen begeben sich auf die Gegengerade im Unterring, und nur wenige haben die Möglichkeit, im exklusiven Bereich dieses Fünf-Sterne-Stadions unterzukommen. Ein ausgeklügeltes System sichert, dass jeder seinen Platz findet. Und freundliche Herren mit breiten Schultern sorgen dafür, dass keiner in einen Bereich kommt, für den er nicht bezahlt hat.
Natürlich weckt das Begehrlichkeiten. Für viele ist es ein Traum, einmal in den Bereich vorzudringen, in dem man die Spieler hautnah erlebt, wo man beim VIP-Talk den Stars der Mannschaft zuhören kann und vielleicht sogar ein Autogramm ergattert. Manche Fans greifen einmal im Jahr tief in die Tasche, um solch eine Karte zu ergattern. Denn auch wenn alle in diesem Stadion von jedem Platz aus das Spielfeld sehen, gibt es doch Bereiche, in denen man dem „Allerheiligsten“, also dem Spielfeld, näher ist als anderswo. Deshalb sind die Karten, die einen ganz in die Nähe des „heiligen Rasens“ und damit in die Nähe der Mannschaft führen, teurer als die für den Oberring der Ostkurve. Und nur ganz Wenigen ist es gestattet, auf die Tartanbahn zu treten und sich direkt an den Spielfeldrand zu setzen. Diese Plätze sind unverkäuflich; sie sind nur für die Trainer und die Ersatzspieler bestimmt.
Wer denkt, dass dies nur im Sport so ist oder so war, der irrt. Im alten Israel erlebten die gläubigen Juden eine durchaus vergleichbare Situation, wenn sie zum Beten und Opfern nach Jerusalem in den Tempel pilgerten. Zwar zahlten sie keinen Eintritt, um in den Tempel zu kommen; doch auch sie konnten nicht einfach durch die Tempelvorhöfe zum Allerheiligsten vordringen. Sie mussten vielmehr in den Vorhöfen des Tempels verharren. So war es Sitte. Nur dort durften sie beten. Das Allerheiligste, die Wohnung Gottes, konnten sie von den Vorhöfen aus nicht sehen; denn zwischen ihnen und dem Allerheiligsten befand sich ein großer Vorhang. Nur dem Hohenpriester war es gestattet, ihn einmal im Jahr zur Seite zu schieben, hinter ihn zu treten und das Allerheiligste, den Ort, wo sich Himmel und Erde berühren, zu erleben. Und der Hohepriester wagte diesen Gang hinter den Vorhang auch nur nach vielen Bußübungen und rituellen Waschungen. Erst dann fühlte er sich rein genug, um sich Gott zu nähern. Der normale Gläubige überließ also dem Hohenpriester die Begegnung mit Gott. Er selbst fand keinen Einlass. Der Zugang zum Allerheiligsten war ihm verwehrt. Gott blieb dem Gläubigen fremd und unerreichbar.
Immer wieder werden einige von denen, die draußen bleiben mussten, alles darangesetzt haben, auch einmal hinter den Vorhang zu blicken und das Allerheiligste zu betreten. Aber vielleicht denkt auch heute mancher: „Ich würde alles geben, um Gott zu begegnen!“
Aber Gott, liebe Gemeinde, ist diesem Wunsch zuvor gekommen. Wir müssen nicht mehr alles geben, um eine solche Gottesbegegnung zu haben. Denn Gott hat selbst alles dafür getan, dass wir freien Eintritt und freie Sicht zum Allerheiligsten bekommen. Der Preis, den er zahlt, ist freilich sehr hoch. Es kostet Jesus das Leben. Durch sein Blut werden wir frei. Durch seine Lebenshingabe setzt er den menschlichen Opfern ein für alle Mal ein Ende.
Weil wir selbst so viele Opfer bringen, um zum „Allerheiligsten“ vorzudringen, ist uns dieses Bild gar nicht so fremd. Der Tod Christi ist das hohepriesterliche Opfer. Christus schreitet als unser Hohepriester über alle Schwellen und Grenzen. Er verschwindet nicht hinter dem Vorhang, sondern er zieht ihn ein für alle mal auf. Er macht den Weg frei zur schrankenlosen Gottesbegegnung. Der göttliche Raum kann nun von uns allen durchschritten werden.
Seit Christus den Vorhang aufgezogen hat, begegnen sich Himmel und Erde nicht hinter einem Vorhang, sondern überall da, wo Menschen im Glauben Gott begegnen. Unsere Kapelle macht dies in unvergleichlicher Weise deutlich. Von allen Seiten umgibt uns das Wort Gottes. Wir sehen und hören. Es gibt keinen Winkel, der nicht zu durchschauen und zu begehen ist. Diese Kapelle ist zum Durchschreiten gebaut, denn nur im Durchschreiten erkennen wir an den verschiedenen Stellen die Worte Gottes, die uns in achtzehn verschiedenen Sprachen begegnen.
„Macht hoch, die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Darauf warten wir im Advent. Wir warten auf seine Ankunft. Wir denken darüber nach, wie wir ihm begegnen wollen. Die Wochen des Advent laden uns nicht nur dazu ein, besinnlich zu werden, sondern zur Besinnung zu kommen. Gerade an den Adventssonntagen kann uns deutlich werden, dass unser Weg zu Gott unverstellt ist. Niemand verlangt von uns, dass wir vor unser Herz eine Kette hängen, die uns die Freiheit raubt, den Sonntag zur Begegnung mit Gott zu nutzen. Wie wollen wir also Gott begegnen? Der Hebräerbrief antwortet so: „So lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser.“
Das sind starke Bilder: „Besprengt in unsern Herzen“, „gewaschen am Leib“, „wahrhaftiges Herz“, „vollkommener Glaube“. Anspruchsvoll klingt das, aber auch würdig. Gott naht sich, darum diese hohe Sprache. An die Taufe klingt sie an, daran ist kein Zweifel. In ihr verwirklicht sich die Zugehörigkeit zu Gott. Gottes Ja wird in ihr laut, bevor wir irgendein Ja sprechen können. Deshalb taufen wir auch hier im Stadion und freuen uns, wenn Kinder und Erwachsene das Ja Gottes zu ihrem Leben hören und spüren. In diesem Jahr waren es gut ein Dutzend Kinder, die hier getauft wurden. In der nächsten Woche wird es eine evangelische und eine katholische Taufe geben. Gottes Zusage ist größer als unsere konfessionellen Grenzen. Dies wird in der Taufe gerade an diesem ökumenischen Ort offenbar.
Liebe Gemeinde, in diesen Adventswochen können wir uns prüfen, ob der Geist der Taufe neu in uns lebendig wird: „Besprengt in unsern Herzen“, „gewaschen am Leib“, „wahrhaftiges Herz“, „vollkommener Glaube“. Ein wahrhaftiges Herz bleibt nicht in sich verschlossen. Es ist für Gott und den Nächsten offen. Es erkennt die Not und die Liebe, die nötig sind. Deshalb ist es gut, dass wir pünktlich zur Adventszeit damit beginnen, mehr als sonst an andere zu denken.
Dass HERTHA an die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche denkt, hat sich herumgesprochen. Wir werden heute für den alten Turm sammeln. Es geht nicht nur darum, einen alten Kirchturm als Wahrzeichen Berlins zu erhalten. Es geht auch darum, dass die Grausamkeit des Krieges, die auch vor Gotteshäusern und Menschenleben nicht Halt macht, in Erinnerung bleibt. Und der Auftrag, der Himmel und Erde verbindet: der Auftrag zum Frieden.
Dem dient auch dieser Ort, an dem Menschen Gott begegnen, ungewohnt und überraschend. Bei aller Freude am Spiel: für mich ist die Kapelle und nicht der Rasen das Allerheiligste in diesem Stadion. Natürlich ist der Zugang zu diesem Allerheiligsten an Spieltagen nicht immer ganz einfach. Umso dankbarer bin ich dafür, dass auch bei Andachten vor den Spielen vielen Menschen der Weg in die Kapelle ermöglicht wird.
Und sei es noch so kurz vor dem Spiel: An diesem Ort spielt die Unterschiedlichkeit der Eintrittskarten keine Rolle; denn vor Gott sind auch im Stadion alle gleich. So „lasst uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.“
Amen.