Weihnachtspredigt des EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber

Predigt in der Christvesper am Heiligen Abend im Berliner Dom / St. Marienkirche zu Berlin über 1. Timotheus 3, 16

I.

Liebe Gemeinde, wann fängt Weihnachten an? Wenn zu Hause die Lichter brennen? Wenn das erste Weihnachtslied ertönt? Wenn uns das Geheimnis des Glaubens begegnet?

Weihnachten ist die an Bräuchen reichste Zeit im ganzen Jahr. Weihnachtsbaum und Weihnachtsgans, Weihnachtslied und Weihnachtsgeschenk, Weihnachtslicht und Weihnachtsfrieden ziehen uns in ihren Bann. Weihnachten ist das Fest der Familie; einmal im Jahr wird jedem seine feste Rolle zugewiesen.

Aber Weihnachten beginnt mit dem Geheimnis des Glaubens. Alles, was wir um dieses Fest herum gestalten, hat darin seinen tiefsten Sinn. Auch die Weihnachtsbräuche, die uns vertraut und wichtig sind, erschließen sich von hier aus. Wenn wir einander an Weihnachten mit Geschenken überraschen, antworten wir auf die große Überraschung, die wir feiern wollen. Wenn wir an diesem Tag Lichter entzünden, ist das ein Zeichen dafür, dass mit dem Jesuskind das Licht Gottes in die Welt kommt. Wenn wir Versöhnung predigen und Frieden halten, folgen wir der Botschaft der Engel, die Gott die Ehre geben und den Menschen Frieden verkündigen. Wenn wir ein Fest der Familie feiern, dann steht uns die Heilige Familie vor Augen, die in der Enge des Stalls beisammen war und zusammenhielt.

Wann fängt Weihnachten an? Es beginnt mit dem Geheimnis im Stall von Bethlehem. In dem ersten der beiden Briefe des Neuen Testaments, die an Timotheus gerichtet sind, wird das in eine kurze Liedstrophe gefasst. Sie heißt so:

Und groß ist, wie jedermann bekennen muss,
das Geheimnis des Glaubens:
Er ist offenbart im Fleisch,
gerechtfertigt im Geist,
erschienen den Engeln,
gepredigt den Heiden,
geglaubt in der Welt,
aufgenommen in die Herrlichkeit.

II.

Groß ist das Geheimnis des Glaubens. So heißt es in diesem Lied. Von einem Geheimnis ist die Rede, nicht von einem Rätsel. Ein Rätsel lässt sich durch Nachdenken und Klugheit lösen. Ja, es ist geradezu der Sinn eines Rätsels, seinen Charakter als Rätsel einzubüßen. Ist es einmal gelöst, so liegt es klar und ohne Fragezeichen vor uns. Das Geheimnis aber bleibt Geheimnis. Sein Charakter verstärkt sich sogar noch, je intensiver es durchdrungen wird. Unser kurzes Lied führt das eindrucksvoll vor. In sechs Schritten stellt es uns das Geheimnis Jesu Christi vor Augen: offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Wir spüren förmlich: Was im Stall von Bethlehem beginnt und in der Taufe des Johannes im Jordan öffentlich beglaubigt wird, hat Folgen für alle Welt. Was in der engsten Bedrängnis seinen Anfang nimmt, stiftet Glauben in aller Welt und geht ein in Gottes Herrlichkeit. Die Güte, die uns in dem Kind in der Krippe entgegenleuchtet, wird zur bestimmenden Kraft unseres Lebens. Immer tiefer dringen wir ein; aber umso größer wird das Geheimnis. Je besser man ein Geheimnis versteht, desto geheimnisvoller wird es. Jahr für Jahr kann man sich wieder in es hineinversenken.

Groß ist das Geheimnis des Glaubens. Jesus gehört nicht zu den sieben Welträtseln, die aufzulösen sich die moderne Wissenschaft vorgenommen hat. Das Wesen von Energie und Materie, der Ursprung der Bewegung oder die Entstehung des Lebens – das sind solche Welträtsel. Schon vor über einhundert Jahren hat Ernst Haeckel den Anspruch erhoben, mit der durch Charles Darwin begründeten Evolutionstheorie seien sie alle gelöst. In unseren Tagen wird dieser Anspruch erneuert. Weil die Wissenschaft alle Rätsel löst, darf es kein Geheimnis mehr geben. So lässt sich die Behauptung zusammenfassen, von der in diesem Jahr viele Bücher, Zeitungsinterviews und Talkshows voll waren. Der englische Evolutionsbiologe Richard Dawkins wurde zum meistzitierten Verfechter einer geheimnislosen und deshalb auch glaubenslosen Welt.

Doch manche Fragen stellen sich selbst dann noch, wenn vermeintlich alle Rätsel gelöst sind. Womit bekomme ich es zu tun, wenn ich über mich selbst hinaus frage? Was gibt meinem Leben Bedeutung und Gewicht? Wieso habe ich eine Würde, die mir keiner nehmen kann – wo doch mein Leben widerspruchsvoll und begrenzt ist? Woher empfange ich die Kraft, Streit zu überwinden und Frieden zu suchen? Weshalb lasse ich nicht die Vergeblichkeit über mich herrschen, sondern glaube an einen Sinn dessen, was ich tue?

III.

An Weihnachten feiern wir die Menschwerdung Gottes. Gott ist Mensch geworden. Er hat besucht und erlöst sein Volk. Nicht zum Rätsellösen feiern wir Weihnachten, sondern zum Gotteslob: O lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten den König. Der Herr des Himmels und der Erde hält sich nicht versteckt. Er bleibt nicht unzugänglich in einem Jenseits, von dem aus er seine Botschaften in die Welt schickt. Er beauftragt auch nicht nur Propheten dazu, seine Botschaft zu überbringen. Nein: Gott will die Menschen nicht allein lassen. So kommt er selbst: offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.

Viele Menschen haben ein ausgeprägtes Gespür dafür, dass wir neben der Anstrengung, Rätsel zu lösen, auch einen Sinn für dieses Geheimnis behalten müssen. Deshalb ist das Geheimnis des Glaubens auch in unserer Gesellschaft tief verankert. Niemand braucht sich seines Glaubens zu schämen. Die Sehnsucht nach Gott als Gegenüber für das eigene Leben darf ihren Raum behalten; ja diese Sehnsucht gewinnt neuen Raum. Sie ist insbesondere auch unter jungen Menschen weit verbreitet. Junge wie Ältere wollen dem Geheimnis von Frieden und Versöhnung nahe kommen; darum wird nach dem christlichen Glauben neu gefragt. Das Weihnachtsfest bildet darum nicht nur den Rahmen für eine heilsame Unterbrechung der Arbeitskultur; es ist mehr als ein herausragendes Familienfest. Die Achtsamkeit für das, was heilig ist, nimmt hier ihren Anfang. Die Kultur der Mitmenschlichkeit gründet darin, dass Gott selbst Mensch geworden ist.

IV.

Groß ist das Geheimnis des Glaubens. Nicht in einem Zentrum der Macht, sondern am Rand der Gesellschaft kommt Gottes Sohn zur Welt. Nichts Besseres als ein Stall wird zum Ort seiner Geburt. Eine Frau auf der Reise ist seine Mutter. Einige Hirten, die in der Nähe ihre Tiere hüten, sind die ersten Gäste.

Doch die Botschaft, dass Gott Mensch wird, verweht nicht wie der Wind über den Feldern Bethlehems. Sie rührt an und rüttelt auf. Sie rückt die Kinder in den Mittelpunkt. Denn Gott, der Schöpfer aller Welt, begibt sich in die Gestalt eines hilfsbedürftigen Kindes. Welches Echo findet ein solches Ereignis heute? Eilen statt der Hirten Nachbarn und Freunde herbei? Machen sich – wie damals die Weisen aus dem Morgenland – heute Vertreter von Politik, Wirtschaft und Kirche auf den Weg, um das Kind zu begrüßen? Steht das Kind wirklich im Mittelpunkt?

Plötzlich scheint genau das der Fall zu sein. Die Bilder von vernachlässigten Kindern haben uns aufgeschreckt. Wir finden, es müsse etwas geschehen. Die Politik hat pünktlich zu Weihnachten Aktionen angekündigt. Die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen von Kindern sollen amtlich kontrolliert werden. Das Kindeswohl geht dem Sorgerecht der Eltern vor.

Man muss es aber auch umgekehrt sagen: Die Pflicht der Eltern zur Fürsorge geht allem anderen vor. Kinder sind ein großes Geschenk; aber ihre Eltern stehen in einer bleibenden Verantwortung. Von seinen Kindern kann sich niemand scheiden lassen – und von seinen Eltern auch nicht. Eltern und Kinder bleiben aneinander gebunden.

Die Fürsorge für Kinder ist freilich nicht nur die Privatangelegenheit der Eltern. Sie obliegt auch nicht nur Jugendamt und Schule, Ärzten und Erzieherinnen. Kinder gehen uns alle an. Sie brauchen unseren besonderen Schutz. Ihr Wohl und ihre Würde stehen im Mittelpunkt. Gerade das zeigt uns das Kind in der Krippe.

V.

Manche wünschen sich nichts sehnlicher, als an Weihnachten mit ihren Kindern oder ihren Eltern zusammen zu sein. Ich habe das sehr konkret vor Augen, wenn ich an diesem Weihnachtsfest an deutsche Soldaten im Auslandseinsatz denke. Im Kosovo habe ich vor wenigen Tagen einige von ihnen besucht. Im Einsatz für den Frieden feiern sie das Fest der Liebe ohne ihre Lieben. Familie und Freunde sind fern. Aber ich möchte ihnen zusichern, dass ihnen viele Menschen in Deutschland verbunden sind, im Gebet und mit dankbarem Respekt. Wir bitten gemeinsam darum, dass der Frieden Einzug hält und sich durchsetzt gegen den Unfrieden in unserer Welt.

Darauf vertrauen wir, weil Gott sich nicht verbirgt. Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Wir können eintreten, um anzubeten und Gott zu loben. Also kommt herein, die Tür zur Freude steht weit offen. Kommt, nehmt diese Freude mit und tragt sie zu den anderen hinaus in die Heilige Nacht. Amen.

Für die Richtigkeit

Hannover / Berlin, 24. Dezember 2007

Pressestelle der EKD
Christof Vetter