I.
Wer heute über das Verhältnis zwischen sozialer Verantwortung und unternehmerischem Handeln spricht, begibt sich in ein gefährliches Gelände. Denn dass unternehmerisches Handeln moralische Verpflichtungen einschließt, ist uns in den letzten Wochen besonders massiv am Gegenbild deutlich geworden – nämlich an offenkundigen Versuchen, finanzielle Erträge unternehmerischen Handelns vor dem Zugriff des Finanzamts in Sicherheit zu bringen. Millionenbeträge wurden am Fiskus vorbeigemogelt. Die Staatanwaltschaft ermittelt gegen die Verdächtigen; hoffentlich werden die Kanäle, durch die das Steuergeld ins Ausland fließen kann, wirksam verstopft. Zunächst kann man darüber staunen, wie schnell jetzt die Geständnisse nur so purzeln und Millionen Euro Steuern im Nu nachgezahlt wurden. Da haben sich die im Verhältnis dazu beinahe schlappen 5 Millionen Euro für eine DVD mit Daten aus Liechtenstein wirklich gelohnt.
Kein Zweifel: Die Steuerhinterziehung durch Steuermillionäre verstärkt eine Vertrauenskrise gegenüber der Wirtschaftsspitze in unserem Land. Diese Krise war schon lange zu spüren. Abfindungen oder Managergehälter in schwindelnden Höhen haben dazu beigetragen. Aber es scheint Menschen zu geben, die auch in dieser Gehaltsklasse nur schwer genug bekommen können. Deshalb müssen manche von ihnen auf unlautere Weise auch noch an den Steuern „sparen“. Wenn das nachgewiesen wird, handelt es sich nicht um ein „Kavaliersdelikt“. Es handelt sich um einen Bruch des Rechts. Es handelt sich um Diebstahl an der Gemeinschaft. Vorgänge dieser Art zeigen, dass die Wirtschaft nicht nur auf Geld angewiesen ist, sondern auch auf Vertrauen. Die Erosion dieses Vertrauens ist beunruhigend – nicht nur für die Gesellschaft im Ganzen, sondern auch für die Wirtschaft selbst.
Freilich muss auch die Nachfrage erlaubt sein, ob die öffentliche Erregung über solche Vorgänge wirklich durchweg ehrlich ist. Denn Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit sind in unserer Gesellschaft längst zu Massenerscheinungen geworden. Wer hätte noch nicht sein Auto „unter der Hand“ reparieren lassen, um die Mehrwertsteuer zu sparen? Die meisten kennen sich aus mit der „Nachbarschaftshilfe“ bei Schönheitsreparaturen in der Wohnung. Von all dem sagen wir, es seien Kavaliersdelikte. Mit Diebstahl habe das nichts zu tun. Aber genau darum handelt es sich: um Diebstahl an der Gemeinschaft.
Mehr als die Hälfte der deutschen Bürgerinnen und Bürger hat kein Problem damit, bei der Steuererklärung zu betrügen. Natürlich geht es bei den meisten nicht um Millionenbeträge, sondern um ein paar Hundert Euro im Jahr. Trotzdem: Von der Hand, mit deren Zeigefinger wir auf andere zeigen, weisen drei Finger auf uns selbst zurück.
Gleichwohl ist festzuhalten: Dass wirtschaftliche Verantwortung moralische Dimensionen hat und sich am Kriterium der Gerechtigkeit messen lassen muss, wird im Grundsatz derzeit nur von wenigen bestritten. Wer in den Leitsätzen, Visionen oder Leitbildern führender Unternehmen in Deutschland liest, wird kaum Anlass zu der Meinung finden, dass zwischen sozialer Verantwortung und unternehmerischem Handeln eine Spannung bestünde. In zahlreichen großen und mittelständischen Unternehmen wird vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Unternehmen sowohl nach innen als auch nach außen soziale Verantwortung wahrzunehmen hat. Viel Sorgfalt wird darauf verwandt, diese Verantwortungszusammenhänge transparent darzustellen und fest mit der eigenen Unternehmenskultur zu verknüpfen.
Schon eine erste Annäherung zeigt also: Das Verhältnis von unternehmerischem Handeln und sozialer Verantwortung zeigt sich von zwei Seiten. Einerseits gilt soziale Verantwortung als selbstverständlicher Bestandteil unternehmerischen Handelns; andererseits besteht eben doch zwischen beiden eine offenkundige Spannung. Unternehmerisches Handeln folgt niemals ungebrochen den Leitbildern, die dafür aufgestellt werden; genauso wie politisches, kirchliches und anderes Handeln auch hat es zu tun mit der Kluft zwischen der Klarheit des Zielfotos und dem Staub auf dem Wege, zwischen Absicht und Tat; es kann sich der Zweideutigkeit und Gebrochenheit menschlichen Handelns nicht entziehen.
Besonders massiv bricht dieser Konflikt immer dann auf, wenn die Absicht der Gewinnerzielung und die Verantwortung für Mitarbeiter in Spannung zueinander geraten. In vielen Fällen wirkt es befremdlich, wenn Firmen – manchmal sogar in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang – die Erhöhung der Rendite und die Verminderung der Zahl der Arbeitsplätze zugleich mitteilen. Manchmal spricht daraus eine Haltung, die durch den Vorrang der shareholder values vor den stakeholder values geprägt ist.
In vielen Fällen aber werden die Unternehmensverantwortlichen geltend machen, dass ihnen aus Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens und damit auch aus Verantwortung für den Erhalt von Arbeitsplätzen keine andere Möglichkeit bleibt, als einen bestimmten Standort oder eine bestimmte Fertigung zu schließen. Oft sind auch die örtlich Verantwortlichen in ihrer Entscheidung gar nicht frei; es bleibt ihnen unter Umständen aufgrund von Entscheidungen durch eine international agierende Konzernführung keine andere Wahl, als diese ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten umzusetzen.
Umgekehrt kommt es ohne Zweifel auch dann zu einem Konflikt, wenn die Übernahme sozialer Verantwortung durch eine Unternehmensführung auf Kosten der wirtschaftlichen Notwendigkeiten geschieht; zu Recht wird man gegen ein solches Verhalten einwenden, dass soziale Verantwortung wirtschaftsverträglich gestaltet sein muss, wenn sie von einem Unternehmen dauerhaft wahrgenommen werden soll.
Man sieht daran: Pauschalurteile verbieten sich ebenso wie Pauschalverurteilungen. Ethische Kriterien werden auch nicht jeden Konfliktfall aus dem Wege räumen. Aber dass ethisches Nachdenken über unternehmerische Verantwortung notwendig ist, haben diese Überlegungen wohl bereits verdeutlicht. Nach dem evangelischen Beitrag zu diesem ethischen Nachdenken wollen wir nun fragen.
II.
Die protestantische Ethik hat zum Feld ökonomischer Vernunft von ihrer Tradition her ein besonderes Verhältnis. Denn die Reformation stieß das Tor auf zur entschiedenen Bejahung der weltgestaltenden Verantwortung der Christen einerseits, zur allein Gott rechenschaftspflichtigen Glaubensfreiheit andererseits. Die Reformation zielte auf den inneren Zusammenhang zwischen Glaubensgewissheit und verantwortlicher Tat. Das Handeln aus Glauben wurde gerade als Folge des Glaubens selbst auf neue Weise ernst genommen. Zugleich wurde es befreit von der Vorstellung, es sei ein Mittel zum Erwerb des Heils; es wurde vielmehr klar und unzweideutig als eine Frucht des Glaubens selbst verstanden.
Von Anfang an hat dies zu einer engagierten Betätigung gerade auch evangelischer Christen in der Wirtschaft, in Bildung und Ausbildung, aber ebenso auch in der Politik geführt. Christen sind zur Selbstverantwortung und eben deshalb auch zur Mitverantwortung für das Ganze berufen – gerade weil sie nicht nur für sich allein, sondern für den Nächsten und darin für Gott leben, der der Herr der ganzen Welt ist. Die christliche Grundüberzeugung, in der sich Gottvertrauen und der Einsatz für den Nächsten miteinander verbinden, gewann eine kulturprägende Bedeutung.
Grundlegend dafür ist die Rede vom „Beruf“ eines Menschen. Sie ist im Neuen Testament verwurzelt und wurde in der Reformation neu belebt. Aus der neutestamentlichen Aufforderung: „Jeder bleibe in der Berufung, in der er berufen wurde“ (1. Korinther 7, 20) entwickelte Martin Luther seine Vorstellung von Beruf und Berufung. Der Beruf eines Menschen ist nicht nur ein Job, sondern er beruht auf einer Berufung durch Gott. Für Luther war klar: Jeder Einzelne erfährt eine solche Berufung Gottes, jeder hat ganz besondere Qualitäten und Fähigkeiten. Diese Berufung kommt auch in der alltäglichen weltlichen Arbeit zum Ausdruck. Auch in einem solchen äußeren Beruf liegt eine innere Berufung: die Berufung nämlich zum Dienst am Nächsten und darin für Gott. Kein Beruf ist davon ausgenommen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Stallmagd – so heißt eines von Luthers Lieblingsbeispielen – dem Fürsten absolut gleich.
Damit ist jeder Vorrang einer religiösen Berufung vor weltlichen Tätigkeiten ausgeräumt. Aber auch weltliche Tätigkeiten – seien sie politischer, unternehmerischer oder sonstiger Art – haben aus dieser Perspektive keinen höheren Rang als andere Aufgaben. Man muss jedoch hinzufügen: Sie haben auch keinen geringeren Rang. Der Einsatz der Eltern für ihre Kinder ist aus einer solchen Warte ebenso ein „Beruf“ wie das ehrenamtliche Wirken für den Nächsten. Jegliche Berufserfüllung im engeren wie in diesem weiteren Sinn wird von Luther als Gottesdienst verstanden.
So gewaltig die historischen Auswirkungen dieser Auffassung auch waren, so leicht wird sie doch auch immer wieder verdrängt. Das geschieht beispielsweise durch die Meinung, nur die bezahlte Arbeit sei ein Beruf, oder durch den Gedanken, es handle sich in Wahrheit nur um einen Job, für den allein der Eigennutz oder – vornehmer – die Eigenverantwortung als Maßstab gilt.
Die Folgen eines solchen Berufsverständnisses reichen weit. Wer sich durch Gott berufen und befähigt weiß, eine ganz besondere Rolle in der Gestaltung der Welt und im Miteinander der Menschen zu spielen, der wird seine Tätigkeit – wie immer sie auch aussehen mag – eher als erfüllend und sinnstiftend erleben und wird sich gefordert fühlen, Eigenverantwortung in seinem Bereich zu übernehmen. Diese Verantwortungsbereitschaft wirkte sich in der Ausbildung des neuzeitlichen Wirtschaftssystems auch auf höchst handgreifliche Weise aus.
Als entscheidender Motor der Entwicklung wirtschaftlichen Denkens und Handelns erwies sich die durch die Reformation beförderte Idee, wirtschaftlichen Gewinn nicht einfach selber zu verbrauchen, sondern ihn wiederum einzusetzen, also Kapital zu akkumulieren und zu reinvestieren. Dazu musste man auf den Verbrauch des Gewinns verzichten. In diesem Sinn galt: Gewinn entsteht durch die Kunst des Verzichts. Die wirtschaftliche Dynamik der Neuzeit ist ohne diese reformatorischen Impulse nicht zu verstehen. Entscheidend ist dabei, dass nicht Profitinteresse als solches, erst recht nicht Gier oder Neid im Kern des Wirtschaftens angelegt waren; es kam und kommt vielmehr auf Sparsamkeit, Ehrbarkeit und Leistungsbereitschaft an.
Doch diese Entwicklung führte zugleich zum Konflikt zwischen der Nächstenliebe und der Rationalität wirtschaftlicher Effizienz. Dadurch wurde das Engagement von Christen angesichts der ungelösten sozialen Frage im 19. Jahrhundert hervorgerufen. Die damaligen Wortführer entwickelten in der Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Kapitalismus, der rapiden Industrialisierung und dann später auch der Demokratisierung Antworten, die, deutlich erkennbar, bis heute in wichtigen Grundelementen der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung in Deutschland fortleben. An einem reinen Wirtschaftsliberalismus, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern vorzufinden glaubte, wurde Kritik geübt; die Notwendigkeit eines verantwortlichen und gestaltenden Staates wurde betont.
Mir erscheint es nicht als richtig, diese Haltung pauschal als sozialromantischen Antikapitalismus zu beschreiben – wenn dies auch als ein Element in diesem Prozess durchaus wahrzunehmen ist. Aber im Kern ging es um Sicherheiten gegenüber den sozialen Risiken, damit die Menschen über ihre unmittelbare Notsituation hinausblicken und sich als selbstbewusste Staatsbürger begreifen konnten. Der keimende Sozialstaat wurde so zur Grundlage wirklicher Freiheit für alle – was die marktwirtschaftliche Ordnung allein nicht gewährleisten konnte.
Inmitten der menschenverachtenden, mörderischen Herrschaft des Nationalsozialismus entwickelten einige Protestanten, die Gelegenheit und Mut dazu hatten, über die Diktatur hinaus zu denken, neue Ideen und Konzepte für eine verantwortliche Wirtschafts- und Sozialordnung, die das Interesse der Menschen, Wohlstand zu erwerben, mit sozialem Ausgleich verband. Die 1943 im Freiburger Kreis entstandenen Entwürfe für eine Neuordnung von Staat und Wirtschaft und die Weiterentwicklung dieser Ideen zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft messen zudem den Grundrechten des Einzelnen zentrale Bedeutung zu.
Vor diesem Hintergrund ist auch das von Alfred Müller-Armack zur Beschreibung der Sozialen Marktwirtschaft geprägte Begriffspaar „Freiheit und soziale Gerechtigkeit“ zu sehen: Freiheit ist hier weit mehr als nur eine unternehmerische Freiheit, sie ist als die Freiheit des Individuums gemeint. Um sie zu sichern, braucht es nicht nur die freiheitliche politische Ordnung, sondern auch eine Ordnung der Wirtschaft, die den Wettbewerb sichert und stärkt und damit Macht kontrolliert. Soziale Gerechtigkeit ist hier weit mehr als die Garantie, dass alle ihr Auskommen haben; vielmehr funktioniert sie als Gestaltungskriterium für die Ordnung der Wirtschaft: Die Forderungen nach Gewinnbeteiligung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer leiten sich daraus ab.
Die zu Grunde liegende Einsicht gilt auch heute. Ohne die Selbststeuerung der Wirtschaft durch Markt und Wettbewerb geht es nicht. Es braucht freie Märkte. Aber Märkte sind keine Naturereignisse, sondern Institutionen und Konventionen, die vielfältige kulturelle Vorraussetzungen haben und einer sensiblen Regelung bedürfen. In der Wahl derjenigen gesellschaftlichen Bereiche, die der Marktlogik unterworfen werden, und in der Rahmensetzung für diese Märkte werden Wertentscheidungen - und keineswegs nur Machtverhältnisse - ausgedrückt. Die Funktion des Staates als Korrektiv und Verkörperung des Allgemeinwohls in diesen Prozessen darf nicht aufgegeben werden.
Auch die Berufung auf den Grundwert der Freiheit darf für die Notwendigkeit eines solchen Korrektivs nicht blind machen. Ohnehin zeigt sich ja gegenwärtig, dass wir mit einer Vorstellung, die Freiheit mit Beliebigkeit gleichsetzt, nicht durchkommen. Es ist an der Zeit, das Verhältnis zwischen Freiheit und Bindung ebenso wie das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung und Solidarität wieder neu zu justieren. Auch im wirtschaftlichen Handeln kann nur ein Verständnis der Freiheit leitend sein, das sich am ehesten als „verantwortete Freiheit“ bezeichnen lässt.
III.
Wenn es in der Gestaltung unseres Lebens insgesamt um „verantwortete Freiheit“ geht, dann sprechen starke Gründe dafür, auch wirtschaftliches Handeln so auszurichten, dass es mit den grundlegenden Wertentscheidungen vereinbar bleibt, die unser Zusammenleben prägen: Vertrauenswürdigkeit, Ehrlichkeit, Fairness, Gerechtigkeitssinn und Rücksichtnahme auf Schwächere sind solche grundlegenden Wertentscheidungen.
Solche Wertorientierungen wieder in den Blick zu nehmen, ist auch deshalb angezeigt, weil wir es offenkundig mit einem wieder erwachenden Bewusstsein zu tun haben für die Werte, die unsere Gesellschaft prägen, und für die Wurzeln, aus denen heraus sie zu wachsen vermögen. Dafür zwei Beispiele.
Widerspruch wird heute laut, wo es nur noch darum geht, Menschen als Konsumenten zu sehen und die Umsatzchancen des Handels zu steigern. Das geschieht, wenn in einigen Bundesländern die Zahl der verkaufsoffenen Sonntage über das Maß des Notwendigen hinaus erweitert wird und dabei auch die Adventssonntage einbezogen werden. Damit wird der besondere Schutz des Sonntags in sein Gegenteil verkehrt. Den Sonntag bezeichnet unser Grundgesetz als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“. Menschen sind interessiert an einer Neuausrichtung ihres Lebens nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Effizienz und Nützlichkeit. Ich rate deshalb sehr dazu, die soziale Institution des arbeitsfreien Sonntags zu erhalten und mit ihr pfleglich umzugehen. Und den Christen rate ich, dadurch einen deutlichen Beitrag zur Sonntagskultur zu leisten, dass sie zeigen, was das bedeutet: „Du sollst den Feiertag heiligen.“
Ein zweites Beispiel ist die neue Wertschätzung der Familie. Jungen Menschen ist heutzutage der Zusammenhalt in der Familie und unter Freunden genauso wichtig wie ein vertrautes Umfeld, in dem sie sich geborgen und geschützt fühlen. In diesem Zusammenhang ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in besonderer Weise hervorzuheben. Sowohl im Blick auf die Berufstätigkeit von Frauen als auch im Blick auf die wachsende Teilhabe von Männern an der Familienarbeit sollte diese Vereinbarkeit zu einem vorrangigen Kriterium für die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen gemacht werden. Daraus ergeben sich nicht nur Forderungen an die Politik im Blick auf familienunterstützende Maßnahmen; vielmehr verbinden sich damit auch Erwartungen an die Wirtschaft – und ebenso auch an alle öffentlichen und kirchlichen Arbeitgeber. Im Übrigen gilt die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht nur für Eltern mit Blick auf ihre Kinder; sondern ebenso für erwachsene Kinder mit Blick auf ihre alt gewordenen Eltern. Auch die Frage, wie mit älteren Arbeitnehmern umgegangen wird, muss in diesem Zusammenhang diskutiert werden.
IV.
Die neue Sensibilität für die Werte, die das eigene Leben prägen, trifft auf eine Situation fortschreitender Globalisierung. Die Spannung zwischen den Erfordernissen der Globalisierung und dem Bemühen um eine neue Wertorientierung sind offenkundig. Wie sich beides miteinander verbinden lässt, ist die große Herausforderung unserer Zeit. Mit der Globalisierung stellen sich neue wirtschaftliche und soziale Fragen, die mutige Entscheidungen erfordern. Technologische Entwicklungen haben Zeit und Raum in nie gekannter Weise schrumpfen lassen. Wir leben nicht länger in geschlossenen Häusern, in denen wir unseren Geschäften nachgehen können. Fenster und Türen stehen offen und der Wind weht herein. Entscheidungen, die irgendwo am anderen Ende der Welt getroffen werden, beeinflussen nachhaltig unser Leben.
In dieser Situation stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit neu. Verstärkt wird gefragt, ob die Art und Weise, in der Unternehmen auf die Erfordernisse der Globalisierung reagieren, mit elementaren Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit vereinbar ist oder nicht.
Soziale Gerechtigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf die jetzige Generation. Sondern sie bezieht sich genauso auf die Generation unserer Kinder. An der Frage des Klimawandels und den Folgerungen für die verantwortliche Produktion und Nutzung von Energie wird dies besonders anschaulich. Die Frage der sozialen Gerechtigkeit konfrontiert uns mit der Frage, ob wir den nach uns Kommenden die gleiche Freiheit zuerkennen, die wir für uns selbst in Anspruch nehmen. Sie nötigt uns dazu zu prüfen, ob wir ihnen die gleichen Handlungsmöglichkeiten offen halten, von denen wir so selbstverständlich Gebrauch machen. Schon das Wissen darum, dass die Ressourcen begrenzter sind, als wir vor Generationen gedacht haben, nötigt dazu, mit ihnen sinnvoll, und das heißt schonend, umzugehen. Die Einsicht, dass die Auswirkungen des gegenwärtigen wirtschaftlichen Handelns auf die globale Erwärmung schon jetzt nur mit einer erheblichen Verzögerung korrigiert werden müssen, stellt uns die Dringlichkeit entschlossener Kurskorrekturen nachdrücklich vor Augen. Rationalität und Effizienz im Umgang mit Ressourcen sind ebenso geboten wie Rationalität und Effizienz in Energieproduktion und Energienutzung – aus Nächstenliebe, aus Liebe für die nächste Generation und aus ökonomischer Einsicht. Nachhaltigkeit wird deshalb zu einem grundlegenden Imperativ wirtschaftlichen Handelns.
Soziale Gerechtigkeit bezieht sich zugleich auf die Menschen, mit denen wir gleichzeitig auf einem global gewordenen Arbeitsmarkt konkurrieren. Der Konkurrenzkampf wird über die unterschiedlichen Niveaus der Arbeitskosten ausgefochten. Der entscheidende Maßstab der Gerechtigkeit ist in einer solchen Situation die Beteiligungsgerechtigkeit. Sie nötigt zu der Einsicht, dass der Zugang eines Chinesen zu einem Arbeitsplatz ethisch nicht geringer zu veranschlagen ist als der Zugang eines Deutschen zu einem Arbeitsplatz. Wenn unter dieser Voraussetzung das Wohlstandsniveau in Europa gehalten werden und eine möglichst geringe Arbeitslosigkeit erreicht werden soll, gibt es offenkundig nur eine Möglichkeit, um Beteiligungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Sie besteht in einem möglichst hohen Bildungsniveau. Denn nur dadurch werden Menschen dazu befähigt, anspruchsvolle Arbeitsplätze auszufüllen; nur dadurch werden sie davor bewahrt, wegen mangelnder Qualifikation keinen Arbeitsplatz zu finden oder mit einer zu gering entlohnten Arbeit ihr Leben nicht fristen zu können. Nur durch einen Bildungsvorsprung kann ein Land wie Deutschland der internationalen Konkurrenz standhalten. Ohne Befähigungsgerechtigkeit gibt es deshalb keine Beteiligungsgerechtigkeit. Bildung ist insofern der Schlüssel zu sozialer Gerechtigkeit. Bildungspolitik ist der Dreh- und Angelpunkt von Gerechtigkeitspolitik.
Die Gesellschaft ist gut beraten, durch Bildung sowie durch die Eröffnung von entsprechenden Beteiligungsmöglichkeiten die Menschen zu so viel Selbstverantwortung wie nur möglich zu befähigen. Wer Jugendliche nicht beteiligt, wer ihnen keine Möglichkeit zur Ausbildung und danach zu eigener Erwerbstätigkeit eröffnet, rührt an den Kern der sozialen Gerechtigkeit; wer die Jugendhilfe unbedacht kürzt, der geht an den Nerv des Sozialstaats. Er wird übrigens damit keine Kosten sparen; sondern die versäumte, vielleicht noch rechtzeitige Hilfe, die Beteiligung eröffnet, wird an anderer Stelle neue, vielleicht weit höhere Kosten hervorrufen.
Soziale Gerechtigkeit bezieht sich zugleich auf die Aufgabe, Menschen, die keinen Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, die über längere Zeit arbeitslos sind oder die aus dem Arbeitsleben ausscheiden, eine auskömmliche Existenz zu sichern. Man kann sich – ein dafür ausreichendes Einkommen vorausgesetzt – vorstellen, die Eigenvorsorge zu steigern; man kann über die Möglichkeit diskutieren, wie einige unserer Nachbarländer einen größeren Teil der Altersversorgung durch Kapitaldeckung statt durch Beitragsdeckung abzusichern. Aber man kann nicht bestreiten, dass die Vorsorge für solche Situationen für die Frage nach sozialer Gerechtigkeit von zentraler Bedeutung ist.
Aber auch das sei in aller Deutlichkeit hinzugefügt: Wenn man soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip bewahren will, darf man nicht alles und jedes unter diesen Begriff subsumieren. Wenn man den Sozialstaat zukunftsfähig erhalten will, muss man sich davor hüten, ihn systematisch zu überfordern. Weder soziale Gerechtigkeit noch Sozialstaat sind deshalb Leitbegriffe für ein pures Besitzstandsdenken. Aber in ihnen drückt sich die Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen aus, das einmal auf die kurze Formel gebracht wurde: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Wir dürfen unseren Blick nicht von denen abwenden, die am Rand stehen. Die notwendige Leistungsorientierung darf die ebenso notwendige soziale Sensibilität nicht verkümmern lassen. Der Wärmestrom der Solidarität darf nicht versiegen.
Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gehört es heute zu den vorrangigen Aufgaben, die Vererbung von Armut in Deutschland zu bekämpfen, also Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen in besonderer Weise zu fördern. Denn gegenwärtig wird Bildungsferne und in der Folge davon auch soziale Armut vererbt. Kinder, die in Armut aufwachsen, erben die Verhaltensmuster der Eltern; sie wachsen in ihren Familien in eine „Deutungsgemeinschaft“ hinein, die die erlebte Perspektivlosigkeit als unabänderlich ansieht. Menschen in Armut – und Familien sind hier eben nicht ausgenommen – bestätigen einander in der Hoffnungslosigkeit, eine Veränderung für ihre Situation erreichen zu können. Deshalb muss versucht werden, durch Bildungsanstrengungen die Vererbung von Armut zu verhindern. Das schließt die Berufsausbildung im dualen System ein.
Insofern ergibt sich aus dem Ansatz der „gerechten Teilhabe“ eine unmittelbare Folge für wirtschaftliches Handeln. Dazu gehört auch, dass wirtschaftliches Handeln, das auf die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen gerichtet ist, in besonderer Weise als ethisch vorzugswürdig zu gelten hat. Als evangelische Kirche haben wir das dadurch unterstrichen, dass wir die Initiative „Arbeit plus“ geschaffen haben. Sie geht auf einen Anstoß zurück, den Rainer Meusel als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Leipzig 1997 gegeben hat. Inzwischen ist aus der Verleihung des Arbeitsplatzsiegels „Arbeit plus“ eine feste Tradition geworden, durch die wir die Bedeutung einer vorbildlichen Arbeitsplatzpolitik hervorheben.
V.
Transparency International hat unlängst festgestellt, dass protestantisch geprägte Länder die niedrigste Korruptionsrate in unserer Welt aufweisen. Als ich das las, hoffte ich, dass unser Land noch möglichst lang protestantisch geprägt bleibt – oder auch: dass es wieder protestantisch geprägt wird. Die kritisch-konstruktive Bedeutung des christlichen Glaubens für wirtschaftliches Handeln hat offenbar damit zu tun, dass der Glaube dem Menschen nicht nur eine starke Identität, sondern zugleich auch den notwendigen Abstand von sich selbst verleiht. Er hilft ihm dabei, noch einmal innezuhalten, bevor auf Biegen und Brechen ein Vorgehen gewählt wird, das vermeintlich im persönlichen Interesse oder im Interesse des eigenen Unternehmens ist – auch wenn es gegebenenfalls gegen Recht und Moral verstößt. Die These, die ich damit verbinde, heißt: Langfristig ist es auch im wirtschaftlichen Interesse eines Unternehmens, dass es als verlässlich und vertrauenswürdig gilt. Deshalb zahlen sich Korruption und Untreue auf Dauer wirtschaftlich nicht aus. Fairness enthält verglichen damit einen deutlichen Mehrwert. Fairness ist vorzugswürdig.
Es liegt auf der Hand, dass eine Wirtschaft, die nur noch von den Gedanken an Eigennutz und Gewinnsteigerung angetrieben ist, ohne wirklichen Sinn und Zweck in die Zukunft hinein operiert. Eine Gesellschaft, die das Eigeninteresse bis zum Exzess kultiviert, zehrt die Ressourcen auf, auf die das gemeinsame Leben – insbesondere in den Bereichen von Familie, Kultur und Glaube – angewiesen bleibt. Aber auch wirtschaftliches Handeln selbst – die tägliche Zusammenarbeit im Betrieb zeigt das – kommt ohne Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, ja Empathie nicht aus. Kein Unternehmen in der Welt hat eine gute Zukunft, wenn es alle schlechten Charaktereigenschaften der Menschen in sich selbst freisetzt oder gar noch kultiviert. Vielmehr zerfällt es, weil sich das Vertrauen zersetzt, das für alle dauerhafte Arbeit unabdingbar ist. Es gibt nach meiner festen Überzeugung kein Unternehmen, das nur auf der Grundlage des Eigeninteresses der Beteiligten überleben könnte. Unternehmen, die nur auf kurzfristige Gewinnerzielung setzen, geraten schnell auf die Verliererseite.
Wir müssen dahin kommen, dass wirtschaftliches Handeln wieder als kulturelles Handeln begriffen wird. Nur wenn weiterhin nach dem Sinn wirtschaftlichen Handelns gefragt wird, können wir auch unter den Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft das uns Mögliche tun, um dem Leitbild einer sozial verantworteten Wirtschaft, die im Kern auf persönlicher Zurechenbarkeit von Verantwortung beruht, eine Zukunft zu geben. Dazu ist es nötig, dass sich die Effizienz des Wirtschaftens mit einer klaren Wertorientierung verbindet. Wir brauchen eine neue Synthese von Effizienz und Sinn. Das wird nicht nur langfristig klug, sondern auch für alle von Vorteil sein.