Annemarie Weinert ist ein Bochumer Urgestein von 91 Jahren, herzlich, optimistisch und mit trockenem Humor gesegnet. Zwar leidet sie unter einer leichten Demenz, aber noch immer schaut ihr der Schalk aus den Augen. Ihr Lebensmotto war immer: „Nach schlechten Zeiten kommen auch wieder gute!“ Als Kriegerwitwe hat sie drei Kinder allein großgezogen und nebenbei immer gearbeitet. Bei allem Optimismus hielt das Leben für sie schwere Rückschläge bereit. Die älteste Tochter erkrankte an Leukämie und die zweite brach den Kontakt ab, als die Mutter plötzlich ein Pflegefall wurde. Ihr jüngstes Kind Theo Weinert, ein Nachzügler, kümmert sich um sie. Und die vom Pflegedienst sehr gelobte Putzhilfe kommt einmal in der Woche. Sie verfüge über großes familienpflegerisches Potenzial. Sie putzt nicht nur, sondern versucht auch, Annemarie Weinert aufzumuntern und anzuregen, das eine oder andere selbst zu machen.
Das Highlight der Woche ist allerdings der Besuch von Gudrun Feist, der ehrenamtlichen Helferin. Frau Feist leitete früher eine Kindertagesstätte in Duisburg, gab diesen Beruf aber auf, um als Vollzeitangestellte im Büro ihres Mannes zu arbeiten. Doch der Kontakt mit Menschen fehlte ihr so sehr, dass sie nach einem halben Jahr richtige „Entzugserscheinungen“ bekam. Deshalb unterstützte ihr Mann sie dabei, angemessenen Ersatz zu finden. Als sich das Forum Demenz telefonisch bei ihr meldete, fühlte sie sich gleich angesprochen, machte einen Lehrgang zur ehrenamtlichen Helferin mit und lernte nach ihrem Umzug nach Bochum über die AWO Frau Weinert kennen, die nur zehn Minuten von ihr entfernt wohnt. Zunächst kam sie jeden Donnerstag gegen 14.30 Uhr zu Annemarie Weinert. Die beiden Frauen gingen gemeinsam hinaus, erzählten oder schauten alte Fotos an. Später entdeckten sie die Möglichkeit, gemeinsam zu kochen und zu essen. Heute kommt Frau Feist oft schon gegen 11 Uhr, bringt nach telefonischer Absprache alle erforderlichen Zutaten mit. Frau Weinert schält dann die Kartoffeln oder Möhren oder was gerade anfällt. Die Frauen haben viel Freude aneinander, sagt Gudrun Feist. „Ich lerne etwas von ihr und sie freut sich darüber, mir etwas vermitteln zu können.“ Damit entlastet sie auch den Sohn, der „wahnsinnig viel für seine Mutter macht“. Als gelernte Erzieherin weiß sie außerdem, welch große Bedeutung eine gemeinsame Mahlzeit für diese einsame alte Frau hat. Dass das Zusammensein auch schon mal länger als zwei Stunden dauert, nimmt sie nicht so genau. Sie hat einen sehr toleranten Chef (ihren Ehemann), der ihr große Flexibilität einräumt. In einer Tageseinrichtung für Kinder wäre das nicht machbar gewesen. Mittlerweile geht Gudrun Feist mit Annemarie Weinert zu Arztterminen oder kommt hinzu, wenn der Arzt seinen Hausbesuch macht. Sie würde auch zweimal in der Woche kommen ohne die Aufwandsentschädigung von 10 Euro. Außerdem steht sie für Notfälle bereit. Nur das Wochenende hält sie sich für ihren Mann frei.
Ein Beispiel, ein besonders leuchtendes und schönes allzumal, für einen ehrenamtlichen Dienst, für das, was mit der Überschrift „Begeisterung für den Nächsten“ beschrieben werden kann. Ein Beispiel für einen Einsatz für andere, für ein Stück Altruismus und Nächstenliebe, aber auch dafür, dass so etwas nichts mit Selbstaufgabe, sondern auch viel mit gegenseitiger Bereicherung zwischen den Generationen zu tun haben kann. Ein schönes Beispiel auch für die Flexibilität von Arbeitsverhältnissen, wie es sie ja hin und wieder auch mal geben soll. Das, was hier geschieht, ist für die ehrenamtlich Tätige ein Bedürfnis, etwas, was sie gerne tut und was ihrem Leben ein Stück Sinn verleiht. Wahrscheinlich gibt es von dieser Art von Ehrenamt sehr viel mehr in unserem Land, als wir wissen. Und wahrscheinlich sind es genau solche Formen der gegenseitigen Unterstützung und des Einsatzes für andere, die letztendlich das Zusammenleben in unserem Land wirklich für alle lebenswert machen.
Die Motive hierfür sind verschieden. Es gibt Formen von Selbsthilfe: „Wir tun etwas für uns.“ Es gibt das klassische Ehrenamt: „Wir tun etwas für andere.“ Es gibt das, was wir heute bürgerschaftliches Engagement nennen: „Wir tun etwas für andere und damit auch etwas für uns selbst.“ Jedenfalls sind nach empirischen Studien bis zu 34 % der Deutschen ehrenamtlich engagiert und dabei sind wahrscheinlich die unsichtbaren Formen des Einsatzes für andere noch gar nicht mitgezählt. Deutschland liegt damit über dem europäischen Durchschnitt – allerdings weit hinter den USA mit ihren anderen Traditionen. In der gesamten abendländischen Tradition, sei in der Sicht der klassischen Antike oder natürlich des Christentums gehört der Beitrag des Einzelnen zum allgemeinen Wohl unverzichtbar zu einem sinnerfüllten Leben eines anerkannten Bürgers dazu. „Wer an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger“, formulierte es Perikles etwa 500 v. Chr. Das Gegenbild ist der Idiotes, der reine Privatmensch. In Deutschland sind heute 23 Mio. Menschen über 14 Jahre ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden, Initiativen oder in Kirchen tätig. Viele Bereiche des öffentlichen und sozialen Lebens könnten ohne Ehrenamtliche kaum mehr existieren. Neben der Betreuung von Kindern und älteren Menschen zählen dazu: Dienste bei Natur- und Umweltschutz, Agenda 21-Projekten; Tierschutz, Bewährungshilfe, Telefonseelsorge, Caritas und Diakonie, Hausaufgabenhilfe, Helfer wie Grüne Damen und Herren in vielen Hospitälern, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen, in Sport-, Kultur- und anderen Vereinen. Die Freiweilligen Feuerwehren haben ausschließlich ehrenamtliche Mitglieder. Auch der Katastrophenschutz der Bundesrepublik Deutschland wird größtenteils durch ehrenamtliche Kräfte gewährleistet. Würde man all das, was hier an Wertschöpfung geschieht, hochrechnen, würde man mit Sicherheit auf erhebliche Summen kommen, ohne die die Sicherung von Menschlichkeit und allgemeiner Lebensqualität in Deutschland überhaupt nicht vorstellbar wäre.
Eine Sonderauswertung des Freiwilligensurveys von 2004 durch unser Institut hat deutlich gemacht, dass das freiwillige Engagement im Bereich Kirche und Religion immer noch der drittgrößte Bereich nach Sport und Bildung ist und darüber hinaus zwischen 1999 und 2004 an Umfang zugenommen hat. Inzwischen sind 7 % der Protestanten, 10 % der Katholiken und immerhin noch 0,6 % der Konfessionslosen engagiert. Viele dieser Menschen fühlen sich besonders stark der Kirche verbunden, aber es werden auch ein ganz großer Teil der freiwilligen Aktivitäten in der gesamten Gesellschaft, also auch außerhalb der Kirchen und der kirchlichen Wohlfahrtspflege von Menschen geleistet, die sich entweder stark oder mittelstark mit einer Kirche verbunden fühlen. Religiöse Bindung hat aber auch eine positive zivilgesellschaftliche Wirkung, die weit über die Selbsterhaltung der Kirchen hinausgeht. Sie ist eine Investition in eine menschliche Gesellschaft. Viele Christenmenschen bringen sich auch sonst in ihren Gemeinwesen aktiv ein.
Während freiwillige Tätigkeiten im Durchschnitt aller Engagementbereiche zu 55 % von Männern ausgeübt werden, macht im Bereich Kirche und Religion ihr Anteil nur 35 % der Aktivitäten aus. Freiwillige Tätigkeiten in diesem Bereich sind überwiegend eine Sache der Frauen, während in den meisten anderen Tätigkeitsbereichen die Männer zum Teil sehr deutlich überwiegen. Sieht man näher hin, dann zeigt sich, dass die Männer weitgehend diejenigen ehrenamtlichen Tätigkeiten und freiwilligen Engagements übernehmen, die mehr im Vordergrund stehen und eine Bühne bieten, sich zu präsentieren, während Frauen stärker im Hintergrund, vor allem im Bereich der persönlichen Hilfeleistungen tätig sind. Auch Männer „dienen“ folglich gerne, aber meistens und lieber in einer leitenden Position. Hier kann sich durchaus noch einiges ändern, um die Potenziale der Frauen in diesen Bereichen besser zum Tragen kommen zu lassen.
Differenziert man nach Altersgruppen, so zeigt sich in fast allen Engagementbereichen, dass das Engagement mit dem Alter der betreffenden Männer oder Frauen erkennbar steigt. Die höchsten Engagementzahlen erreicht die Altersgruppe zwischen 65 und 74 Jahren. Besonders gerne werden hier Verwaltungstätigkeiten, aber auch Tätigkeiten im Bereich der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, der Vernetzung oder der Mittelbeschaffung übernommen. Im kirchlich-religiösen Bereich werden, wie im Durchschnitt aller Bereiche 50 % der Tätigkeiten von Menschen mit hohem Bildungsstatus ausgeübt. Formal besser Gebildete sind im Bereich des Ehrenamtes also deutlich überrepräsentiert. Dies gilt insbesondere gerade für die Protestanten auch im Vergleich zu den Katholiken. Demgegenüber sind Menschen mit niedriger formaler Bildung stark unterrepräsentiert. Wer zudem lange arbeitslos oder von Armut bedroht ist, wird sich leider in der Regel so gut wie gar nicht ehrenamtlich oder freiwillig engagieren.
Fragt man nach Antriebskräften für freiwilliges Engagement, so dominiert das Motiv, die Gesellschaft zumindest im Kleinen mit zu gestalten und mit anderen Menschen zusammenzukommen. Je älter die Menschen werden, desto mehr dominieren auch kaum überraschend Pflicht – und Verantwortungswerte gegenüber den Jüngeren. Was die drei stärksten Erwartungen anbetrifft, so ist so, dass die Tätigkeit Spaß machen soll, dass man damit anderen Menschen helfen kann und dass man etwas für das Gemeinwohl tut. Entsprechend sind die wichtigsten Anforderungen an ehrenamtlich Engagierte vor allem, dass man gut mit Menschen umgehen kann, und eine hohe Einsatzbereitschaft zeigt. Im kirchlichen Bereich wird zudem die Anforderung „Selbstlosigkeit“ stärker gewichtet als im Durchschnitt der Engagierten, dort aber immerhin noch mit 67 % als äußerst wichtig angesehen. Beeindruckend ist der Kompetenzgewinn, der durch die Ausübung freiwilliger Tätigkeiten gewonnen wird. Fast die Hälfte aller engagierten Protestanten hat durch das eigene Ehrenamt nach eigener Aussage in einem hohen bzw. sehr hohen Maß wichtige Fähigkeiten gewonnen. Nur bei etwa jeder zehnten Tätigkeit werden keinerlei wichtige Kompetenzen erworben.
All dies zeigt, dass die Bereitschaft zum Ehrenamt in Deutschland ungebrochen hoch ist. Es ermöglicht vielen Menschen, eine aktive Rolle in der Gesellschaft einzunehmen und ihr Wissen und Können einzubringen. Neben diesem schon allein befriedigenden Aspekt besitzt es durch die zahlreichen Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten auch einen hohen sozialen Wert. Und schließlich machen Menschen im Ehrenamt die Erfahrung, dass sie als Einzelne eingeladen, gebraucht und mit ihren besonderen Gaben gewürdigt werden. Für viele Menschen ist gerade dieser letzte Punkt eine selten kostbare Erfahrung. Alle Erfahrungen zeigen zudem, dass sich aus diesen Gründen viele Menschen gerne für das Ehrenamt ansprechen lassen.
Allerdings muss das gesamte Setting, in dem es sich abspielt, deutlich anders als in der von Fremdbestimmung und Konkurrenzverhalten bestimmten Wirtschaftswelt gestaltet sein. Gleichwohl braucht es transparente und überschaubare Strukturen und Gestaltungsprozesse, ja hiervon hängt letztendlich eine ganze Menge, wenn nicht alles ab. Gute Ehrenamtliche lassen sich auf die Dauer nur binden, wenn ihnen auch Mitentscheidungsmöglichkeiten, ja zum größten Teil Autonomie und selbstverantwortlich zu füllende Spielräume eingeräumt werden. Wichtig in diesem Zusammenhang sind angemessene Arbeitsmittel und Budgets sowie Fortbildungsmöglichkeiten, klare Informationskanäle und angemessene Organisationsstrukturen, damit die Arbeit für die Mitarbeitenden plausibel und motivierend verteilt werden kann. „Ich möchte nicht nur sachliches Feedback hören, sondern Begeisterung und Sätze wie ‚So was brauchen wir.’ hören. Der Pastor soll nicht die Lösung parat haben, sondern Tipps geben und Adressen nennen, wo man weitere Infos bekommt. Es ist wie in einer Firma: Der Chef muss nicht alles wissen, aber sagen können, woher man die Infos bekommt.“ „Es geht nicht, dass man erst einen Ehrenamtlichen um die Übernahme einer Aufgabe bittet und ihn dann monatelang in der Warteschleife versauern lässt. Das war am Anfang das Gefühl, dass man sich gefragt hat, wofür steht man denn hier zur Verfügung, wenn das nicht richtig ernst und wahrgenommen wird, das Engagement. Ich unterstelle den anderen aber nicht Negatives, es lag vor allem an der mangelnden Kommunikation.“ Es muss Jahresplanungen geben, welche Ziele die Gemeinde in einem Jahr erreichen möchte. Es braucht verlässliche Ansprechpartner, die Ehrenamtliche ernst nehmen.
Freiwilliges Engagement und Ehrenamt sind in dieser Perspektive eine besonders wertvolle Form der Teilhabe an der Gesellschaft. In den Traditionen der protestantischen Kirchen sind sie besonders gewürdigt, da hier alle Christen Anteil am „Priestertum aller Gläubigen“ – wie wir es ausdrücken - und damit am geistlichen Amt haben – sozusagen immer ehrenamtlich im Dienst stehen. Luther hat den biblischen Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen aus 1. Petrus 2,9 ff aufgenommen und vor allem in der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 entfaltet. Dort heißt es: „Was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht zu sein, obwohl es nicht einem jeden ziemt, solches Amt zu üben.“ Für Luther sind grundsätzlich alle Christen Priester, aber es ist ihm zugleich wichtig, da nicht alle alles machen können müssen, dass um der Ordnung willen bestimmte Christen zum geistlichen Amt zugerüstet und von der Kirche berufen werden. Als Christen in ihren jeweiligen Berufen sind sie aber stets auf den Nächsten und auf das Gemeinwohl bezogen.
Auch in dieser Hinsicht steht das Ehrenamt in der Fluchtlinie eine Vita activa, wie man mit Hannah Arendt (die – by the way - zwei Kilometer von hier entfernt in Linden geboren wurde und bereits mit zwei Briefmarken der Bundespost geehrt wurde) formulieren kann. So wie die Existenz des Christen in der Taufe und damit in der Freiheit begründet ist, so nimmt Arendt ihren Ausgangspunkt bei der „Natalität“, der Geburtsfähigkeit, wie man das übersetzen könnte, der Fähigkeit der Menschen Anfänge setzen zu können, etwas Neues zu beginnen. Und diese Fähigkeit ist gerade nicht reduziert auf Arbeit und Konsum sondern findet ihren Sinn und ihre Erfüllung im Freihalten und der Erweiterung der Öffentlichkeit – des Raumes der freien Integration des Gemeinwesens – in der Ausfüllung des Gemeinwohls und andersherum in der Zivilisierung des menschlichen Miteinanders und der Verhinderung der Barbarei. Oder auch, um einen Ihrer Vorgänger, Herr Steinbrück zu zitieren, darin die Menschen zu versöhnen und nicht zu spalten. Genau hier setzt freiwilliges Engagement und Ehrenamt an. Von ihm lebt diese Öffentlichkeit – sei es im scheinbar Kleinen der Fürsorge für Einzelne oder im Großen, der Politik.
Ich komme noch einmal zurück zum Anfang: zur Begeisterung für den Nächsten in diesem schönen Beispiel eines ehrenamtlichen Dienstes für eine zu pflegende Ältere. In der Bibel wird der Bezug zum Nächsten zum Kriterium aller wertvoller Existenz gemacht. Und dieser Bezug wird mit dem Begriff der Liebe bezeichnet. Die Bibel gesteht unseren Begabungen und Fähigkeiten keinen Selbstzweck zu. Sie sind rechtfertigungsbedürftig, weil sie immer ambivalent sind. Es braucht das Kriterium der Liebe, des Nutzens für den anderen, der oder die mich braucht. Ein Übriges zu tun, sich über das Maß dessen hinaus, was eigentlich zur Selbsterhaltung nötig ist, für andere anzusetzen, kann dieser Sichtweise ein Stück weit nahe kommen. Freiwilliges Engagement und Ehrenamt sind keine Lückenbüßer, wenn sich soziale Dienste nicht mehr anders finanzieren lassen, sondern treibendes Moment einer lebenswerten Gesellschaft, in der niemand verloren geht. Sie bedürfen der Pflege und der öffentlichen Anerkennung – schön dass dies nun auch in Form dieser Briefmarke sinnfällig wert.